Читать книгу Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart - Kim Kestner - Страница 10

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5.

Irgendwann im Sommer, zu Hause?

Ich weiß nicht, wie lange wir uns festhalten, unsere Körper aneinanderpressen, als würde jemand drohen, uns auseinanderzureißen. Und es ist mir auch gleichgültig. Zeit spielt in diesem Moment das erste Mal keine Rolle. Hier, im Schutz des Schuppens und vor allen Dingen in Kays Armen, scheint uns nichts in diesem Universum etwas anhaben zu können.

Irgendwann löse ich mich von ihm. Ich bin überglücklich, aber ich fühle mich immer noch maßlos erschöpft. Vor allem emotional.

Kay scheint es zu bemerken. Er betrachtet mich mit leicht schräg gelegtem Kopf und furcht die Stirn. »Du siehst blass aus.«

»Ich sehe schrecklich aus.«

»Nein, nur als hättest du sehr viel durchgemacht.«

Zärtlich streicht Kay mit dem Daumen über meine Wangenknochen. Erst unter seiner Berührung spüre ich, wie sehr sie hervorstehen, und mir wird bewusst, dass ich seit Wochen kein Spiegelbild von mir gesehen habe, abgesehen von dem verzerrten Widerschein im Bach.

»Du solltest etwas trinken«, sagt Kay und reicht mir die Dose. »Es ist nicht mehr viel übrig. Tut mir leid. Ich war noch nicht bei Sinnen.«

Ich will antworten: Hey, wir sind wieder in der Zivilisation. Ich kann mehr holen. Ich muss nur ins Haus gehen und den Kühlschrank öffnen. Aber der Gedanke, Mum, Dad oder Jeremy zu begegnen, ihnen meinen Zustand erklären zu müssen, überfordert mich. Außerdem möchte ich Kay nicht verlassen.

Er hält mir noch immer die Dose hin. »Trink. Bitte«, fügt er hinzu.

Dankbar lächelnd nehme ich sie und leere sie in einem Zug. Mein Magen gluckert aufgeregt und Sekunden später fühle ich mich regelrecht berauscht von dem Zucker.

»Wo sind wir hier?« Kay steht auf und späht durch das Astloch in der Bretterwand.

»Zu Hause.« Die Worte auszusprechen, kommt mir vor wie ein Traum. Ich lache leise, gluckse und plötzlich lache ich immer lauter, regelrecht übergeschnappt, drehe mich mit ausgestreckten Armen im Kreis, berühre alles, was meine Finger erreichen. »Zu Hause! Zu Hause!«

Kay lacht nicht. »In deinem Zuhause?«, vergewissert er sich und ergreift mein Handgelenk, um mich zum Stillstand zu bringen.

Ich nicke eifrig. »In Dads Tischlerschuppen. Ich wollte eigentlich nicht hierher. Es war anders geplant. Es war überhaupt nicht geplant, aber –«

»Sind wir in Gefahr?«

»Nein«, lüge ich, denn ich kann mir nicht sicher sein.

»Wirklich nicht?«

»Ganz bestimmt nicht.«

»Gut.« Kay schließt kurz die Augen und atmet durch. Dann sieht er mich durchdringend an. »Ich will dich nämlich nicht wieder verlieren. Nie mehr, hörst du?« Ohne meine Antwort abzuwarten, umschließen seine Hände mein Gesicht. »Ich liebe dich.«

Kays dunkle Augen ruhen auf mir. In ihnen liegt so viel Wärme und Zärtlichkeit, dass die Worte wie von selbst über meine Lippen kommen: »Ich liebe dich auch.«

Jetzt rast mein Herz. Noch nie habe ich diese Worte laut zu ihm gesagt, zu überhaupt irgendjemandem, und sie bedeuten so viel mehr, als sie ausdrücken könnten: Vertrauen, Hingabe, Selbstaufopferung, gemeinsame Kraft und Stärke und vor allem das Wissen, nie, nie, nie mehr getrennt sein zu wollen.

Noch haben wir uns nicht geküsst. Es ist, als würden wir damit warten, bis wir alles Unausgesprochene gesagt haben. Wir sehen uns nur an, während Kay über meinen Rücken streicht. Kay zu spüren, kommt mir beinahe so unfassbar vor wie die Tatsache, dass er nach all den Jahren endlich bei mir ist.

»Können wir nicht für immer hierbleiben?« Meine Frage ist dumm, aber sie drückt aus, wonach ich mich sehne.

Kays Hand verharrt auf meinem Schulterblatt. »Ist es das, was du möchtest? Bei deiner Familie sein?«

»Mit dir, ja.«

»Möchtest du nicht jetzt zu ihr gehen?« Kays Blick wandert zur Tür. »Sehen, ob jemand zu Hause ist? Ich könnte hier warten.«

Ich nage an meiner Unterlippe.

»Warum zögerst du?«, fragt Kay sofort.

»Ich weiß nicht, wie ich ihnen all das erklären soll. Und es kann sein, dass ich den falschen Zeitpunkt getroffen habe. Ich bin mir noch nicht mal sicher, welches Jahr wir haben, verstehst du? Vielleicht haben meine Eltern mich als vermisst gemeldet oder glauben, ich sei tot.«

»Aber dann solltest du erst recht gehen. Jede Minute, die sie sich weniger sorgen müssen –«

»Ich will, dass du erst einmal weißt, was passiert ist«, falle ich Kay ins Wort, »und dann müssen wir gemeinsam überlegen, was wir meinen Eltern sagen, okay? Ich kann ja schlecht behaupten, ich habe dich gestern bei McDonalds kennengelernt.«

Kay zieht eine Braue hoch. »Wer sind diese Mac Donalds? Nachbarn?«

»Nachbarn?« Einen Moment sehe ich vollkommen verdattert zu Kay hoch, aber dann wird mir bewusst, dass McDonalds erst viele Jahre nach seiner Zeit gegründet wurde. »Also, ähm … ich schätze, ich werde dir wohl noch einiges erklären müssen. Setzen wir uns?«

Kay nickt, zieht die zusammengeschnürte Matratze hervor und löst das Band. Sie springt förmlich auseinander, sodass Staub durch die Luft wirbelt. Nur dort, wo sie stand, ist der helle Holzfußboden blank und sauber und ein runder Fleck zeichnet sich ab, dahinter eine Tüte Chips und eine umgekippte, aber verschlossene Gallone Wasser.

»Hey, sieh mal. Picknick!« Ich gehe auf die Knie, angle beides hervor und danke Dad im Geiste für seinen mangelnden Ordnungssinn. Noch einmal werfe ich einen Blick durch das Astloch. Die Sonne ist weitergewandert und erhellt nun den kurz geschnittenen Rasen und auch sonst ist alles friedlich. Gut. Sehr gut.

Kurz darauf sitzen wir gegen die Wand gelehnt und verdrücken die Chips. Sie schmecken pappig und süßlich und trotzdem wie der Himmel.

»Weißt du, wann ich das letzte Mal Chips gegessen habe?« Ich lecke mir über die Lippen.

»Wann?«

»Kurz vor dem ersten Portieren. Ich meine vor dem ersten Portieren ohne Hilfe. Allein.«

Kay greift nach meiner linken Hand und dreht sie behutsam um. »Ich sehe ihn nicht.«

»Der Marker erscheint, wenn ich ihn ansteuere.«

»Tatsächlich?«

»Ich zeig’s dir«, schiebe ich nach, da Kay zweifelnd die Stirn krauszieht.

Schon lange muss ich mir nicht mehr den Weg vorstellen, den die elektrischen Impulse von meinem Gehirn durch die Nervenbahnen zu dem Marker nehmen. Inzwischen ist es ebenso einfach, wie den Arm zu heben. Gleich darauf treten die feinen silbernen Linien hervor. Immer deutlicher, bis ein klar umrissenes Rechteck erscheint.

»Das ist unfassbar.« Mit dem Finger zeichnet Kay das Rechteck nach. »Haben sie uns deswegen angegriffen? Weil sie die Kontrolle über dich verloren haben?«

»Ich weiß es nicht. Sam Oscar meinte vor ein paar Tagen –«

»Du warst bei ihm?«

Ich schiebe die Chips zur Seite und greife nach dem Wasser, um meinen Durst zu löschen. »Möchtest du?«

»Trink du zuerst«, antwortet er und sieht mich erwartungsvoll an, während ich das warme Wasser die Kehle hinunterlaufen lasse. »Was hat Sam Oscar zu dir gesagt?« Kay nimmt den Kanister, ohne daraus zu trinken.

»Oh Gott! Das ist alles so kompliziert. Ich komme selbst schon durcheinander. Allein wenn ich versuche, über die ganzen Zeiten und Realitäten und Sichtweisen nachzudenken, streikt mein Gehirn.«

Kay stellt den Kanister zur Seite, legt den Arm um mich und ich lehne meinen Kopf an seine Schulter.

»Erinnerst du dich daran, dass du Bäume für unseren Unterschlupf schlagen wolltest, damals im Wald?«, beginne ich.

»Für mich ist das erst wenige Stunden her«, antwortet Kay.

»Wahnsinn!«, schweife ich ab.

»Was?«

»Ich kann es kaum fassen! Vorhin warst du noch mit mir zusammen, als ich 17 war.«

»Erzählst du mir jetzt, was seitdem geschehen ist?«

Ich vermeide es, die Augen zu schließen, aus Sorge, mich wieder ungewollt zu portieren, und richte sie stattdessen auf die Fugen der Holztür, während Erinnerungen in mir aufsteigen.

»Es begann zu schneien. Ich bin Richtung Fluss gegangen und habe Holz gesammelt. Es dauerte nicht lang. Als ich zurück zur Feuerstelle kam, lag da plötzlich ein Zettel mit einem Stein darauf. Mitten in der Wildnis! Mir war sofort klar, dass jemand uns eine Botschaft zukommen lassen wollte. Aber zuerst habe ich geglaubt, sie käme aus der Zukunft, von Wum Randy oder so.«

»Und von wem war sie?«, fragt Kay nüchtern. Typisch. Es ist sein Wesen geworden, die Dinge erst zu analysieren und dann seine Schlussfolgerungen zu ziehen.

»Von mir selbst«, antworte ich und nun lese ich leichtes Erstaunen in Kays Gesicht. »Auf dem Zettel stand, du würdest sterben«, beginne ich, ihm den Teil unserer Geschichte zu erzählen, den er nicht kennen kann. Angefangen bei dem Fläschchen mit dem Kräutersud, von dem ich nicht verstand, wo es herkam, über den Bären, der plötzlich aus dem Wald brach, meinem 19-jährigen Selbst, das im richtigen Moment auftauchte, den Bären tötete und mir sagte, ich müsse Kay verlassen, wenn ich sein Leben retten wolle. Ich fasse kurz die Momente zusammen, als ich den Jungen mit dem Goldklumpen sah und wie versucht ich war, den späteren Mörder meiner Urgroßtante zu töten. Dann berichte ich Kay von der Mojave-Klapperschlange, die ich mit mir in die Zukunft riss, um Wum Randy zu zwingen, uns in unsere Realitäten zu portieren.

Kay presst seine Lippen auf mein Haar und ich ahne, wie stolz er auf mich ist, doch mit keinem Wort unterbricht er mich.

»Tja, und dann habe ich dich wiedergesehen. Genau an dem Ort, an dem ich dich zurückgelassen hatte.«

»Im Wald beim Bären? Ich erinnere mich nicht.«

»Weil diese Realität für dich nicht lebendig geworden ist. Nur für mich. Wenn du so willst, habe ich die Kette der Ereignisse unterbrochen. Aber das kommt später.«

»In Ordnung. Erzähl weiter.« Kay rückt ein Stück von mir ab und legt seine Zungenspitze an seine Oberlippe. Er wirkt vollkommen konzentriert.

»Okay, also, nachdem Randy mich tatsächlich in meine Realität zurückportiert hatte, bekamen wir einen Brief. Mum, Dad, Jeremy, wir alle. Eine Einladung von einem Francis K. Raymond.« Ich beobachte, wie sich Verwirrung in Kays Gesicht abzeichnet, und schiebe die Erklärung schnell hinterher. »Ich kannte deinen vollen Namen ja nicht und hatte keine Ahnung, dass die Einladung von dir stammte. Na ja, du hast uns zu deinem 104. Geburtstag eingeladen.«

»Zu meinem 104. Geburtstag? Wie ist das … Du meine Güte.«

Ich schmunzle, als ich Kays Verblüffung sehe. »Ja, du bist 104 Jahre alt geworden. Aus meiner Sicht war das vor 2 Jahren, im September 2013, genau genommen. Deine Worte waren, glaube ich: Ich habe nur so lange durchhalten können, da ich wusste, dass es ein gemeinsames Leben für uns geben kann.«

Kay schüttelt stumm den Kopf.

Ich sage: »Ob du’s glaubst oder nicht, aber es war dir gelungen, deinen Marker anzusteuern und in die Zukunft zu springen. Immer nur für kurze Zeit, aber du warst überzeugt, dass auch ich das schaffen würde.«

»Und das hast du«, schlussfolgert Kay.

»Zunächst nicht. Ich wusste ja von dir, dass mir ziemlich exakt 2 Jahre bleiben würden, bis sie mich wieder holen würden – als dein Scout. Ich habe begonnen zu trainieren. Jede freie Sekunde …«

Ich erzähle Kay von den endlosen Stunden im Wald, wie unbeholfen ich zunächst mit dem Messer war, wie frustriert darüber, noch nicht einmal den Stamm eines Mammutbaums zu treffen, und wie viele Fähigkeiten ich mir noch aneignen wollte, um in der Wildnis überleben zu können. Kays Mienenspiel verrät sein Erstaunen und seine Verwirrung gleichermaßen, insbesondere als ich ihm von der Dr-Pepper-Dose erzähle, die Jeremy mir quasi an den Kopf warf, wieder und wieder, bis ich verstand, dass mir die ersten Zeitsprünge gelungen waren.

Irgendwann wird es furchtbar warm in Dads Schuppen. Es muss bereits Mittag sein, als sich unsere Erinnerungen das erste Mal kreuzen. Wir rufen uns beide den Moment ins Gedächtnis, da Kay Jill für seinen Scout hielt und mich fragte, ob ich wenigstens Socken stopfen könne.

»Ich wusste ja, dass du mich nicht kennen wirst, und ich war wahrscheinlich auf so ziemlich alles vorbereitet, aber ehrlich gesagt nicht darauf, was für ein, für ein vollkommen …«

»Arroganter Idiot ich war.«

»Stimmt.«

Plötzlich lacht Kay laut, so laut, dass ich befürchte, Mum könnte davon aufwachen und jeden Moment in den Schuppen stürmen.

»Pst. Sei leiser«, ermahne ich ihn, doch Kay wirft den Kopf in den Nacken und lacht noch lauter.

»Du hast … du …«, prustet er, »… hast meinen Ärmel mit einem Kuchenmesser an die Stuhllehne genagelt, so wütend warst du. Weißt du noch?« Kay holt schnaufend Luft. Tränen laufen über seine Wangen.

»Du hättest dein Gesicht sehen sollen und erst Jills.« Jetzt lache ich auch. Ich presse mir die Hand vor den Mund und mein Körper zuckt unter meinem albernen Gegacker, und immer wenn wir versuchen, ernst zu sein, lacht einer von uns wieder los, bis wir uns die Seite halten und nicht mehr können. Es ist so unfassbar befreiend.

Eine ganze Weile tauschen wir unsere Erinnerungen aus, lachen, weinen und jeder berichtet von sich. Es ist, als würden wir einen Film schauen, der aus zwei Perspektiven gedreht wurde. Immer wieder fallen wir dabei in albernes Gekicher. Erst als ich Kay davon berichte, wie mir erneut ein Zeitsprung gelang und ich ihn sterben sah, werden wir ernst.

Kay greift sich unwillkürlich an das Bein, aus dem ich die Kugel geholt habe. »Manchmal schmerzt es noch«, sagt er und sieht mich lange an. »Weißt du, ein Danke wäre viel zu wenig für das, was du alles auf dich genommen hast.«

»Du musst nicht –«

»Nein, Alison, hör mir zu. Ich kann dir nur eins versichern. Ich werde dich immer beschützen, bei jedem Schritt, den du tust, in jeder Minute, die du lebst. Immer.«

Ich lehne meine Stirn gegen seine Brust. »Ich weiß.«

Kay vergräbt seine Finger in meinen Haaren und presst mich noch enger an sich. »Auf dem Hügel, bei unserer Hütte damals. Wieso waren sie hinter dir her? Was hast du getan?«

Ich stöhne. »Oh Gott, ich weiß es nicht. Nichts. Ich habe nichts getan und ich werde nichts tun. Aber Sam Oscar ist der Auffassung, dass ich mich gegen die Show auflehnen werde.«

»Gegen die Show?« Kays Finger haben sich in meinem verfilzten Haar verfangen. Er löst vorsichtig einen Knoten und ich schiele zu ihm hoch.

»Er meinte, ich würde versuchen, Zeitreisen an sich zu verhindern.«

»Wie?«

»Das ist es ja. Ich wüsste weder, wie noch warum, und ich will mir verdammt noch mal nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen. Du bist bei mir, wir sind beide hier, zu Hause, draußen scheint die Sonne, keiner greift uns an, und wenn es so bleibt, interessiert mich alles andere nicht. Ich will einfach nur meinen Frieden, verstehst du?«

»Ich halte das nicht für klug«, meint Kay und verschränkt seine Hände hinter dem Kopf. »Erzähl mir, wieso ich dachte, du hättest dir den Marker herausgeschnitten.«

Richtig, das weiß Kay ja noch nicht.

»Das war ziemlich idiotisch«, beginne ich, »und irgendwie ist alles schiefgegangen …«

Erst nach Stunden – zumindest fühlt es sich so an – habe ich meine Geschichte beendet und Kay davon berichtet, wie ich die Ports täuschen wollte, von dem Kaninchen, das ich dafür auf so grausame Art getötet habe.

Ich bin in meiner Erzählung auch zurück zu Sam Oscar gesprungen, der mir bereits im Cube hat weismachen wollen, dass ich alles dransetzen würde, Zeitreisen unmöglich zu machen. Auch von seiner mysteriösen Metapher erzähle ich Kay, nämlich dass es am Ende des Regenbogens am schönsten sei, die mich schlussendlich gerettet hat.

Nur dass Oscar mich mit in die Zukunft genommen hat, um mir zu zeigen, wie Kay und ich heiraten, verschweige ich. Ihm davon zu erzählen, wäre, als würde ich ihm einen Antrag machen, und überhaupt wird unsere Zukunft in jeder Sekunde neu geschrieben. Wer weiß, ob es wirklich so kommt.

Dafür erzähle ich Kay von den vielen Zeitsprüngen, wie ich den Bären tötete, mir zuvor selbst eine Nachricht zukommen ließ. Ab und an unterbricht mich Kay, fragt genau nach, wie ich den Marker ansteuere, auf welche Weise ich mein Ziel erfasse, und ich male ihm Bilder von Nervenbahnen und Synapsen auf den staubigen Boden. Als er von der Spezifikation in dem Marker erfährt, die es möglich macht, ihn mit mir durch die Zeit zu reißen, atmet er tief durch.

»Das bedeutet, du kannst mich mitnehmen, falls es sein muss.«

»Falls es sein muss, ja«, antworte ich und fühle, wie mir bei der Vorstellung, vielleicht wieder fliehen zu müssen, die Brust eng wird. Zumal eine schnelle Flucht viel schwieriger ist, wenn ich Kay mit mir ziehe.

Zum Schluss bleibt die Frage, weshalb wir auf dem Hügel bei unserer Hütte angegriffen wurden und weshalb entgegen Oscars Voraussage kein Port hier ist, um mich zu töten.

»Vielleicht haben sie gemerkt, dass ich keine Gefahr für sie bin. Oder sie haben festgestellt, dass es eine andere Alison sein wird, die etwas gegen die Zeitreisen unternehmen will, und sie bereits davon abgehalten. Vielleicht hat sich das Problem auch einfach erledigt«, sage ich, ohne meinen Worten wirklich Glauben zu schenken.

Auch Kay wiegt zweifelnd den Kopf. »Was ich nicht begreife, ist, weshalb die Ports, wie du sie nennst, nicht viel früher versucht haben, dich …« Kay verzieht das Gesicht, als hätte er Schmerzen.

»… umzubringen«, vollende ich seinen Satz. »Sag es ruhig. Dasselbe habe ich Oscar auch gefragt. Für ihn war das total klar, aber ich begreife es immer noch nicht so richtig.«

»Was genau?«, hakt Kay nach.

»Also, er meinte, mit jeder Handlung, mit jeder Sekunde spalte sich eine neue Realität ab, und von dieser Realität wieder eine und so weiter. Allein seit du wieder aufgewacht bist, müssten so um die …«

Kay wedelt ungeduldig mit der Hand. »Lass es Hunderttausende oder Millionen sein. Dann wäre es ja umso sinnvoller, früher einzugreifen, oder?«

»Genau das ist der Punkt. Auch von meiner Mutter gab es ja unzählige Versionen und von meiner Urgroßmutter. Welche von ihnen ist nun mit dem Kind schwanger, das irgendwann irgendetwas gegen sie tun wird? Oscar meinte, sie bräuchten das Vielfache ihrer Weltbevölkerung, um alle Realitäten zu prüfen, und das bezog sich nur auf einen bestimmten Zeitpunkt im Leben aller …« Ich zögere. Irgendwie fühlt es sich gerade merkwürdig an, eine Alison unter Zigmillionen zu sein, und ich muss mir eingestehen, dass mir der Gedanke, kein Individuum zu sein, nicht besonders gefällt.

»Alison?«

»Im Leben aller Alisons, die es geben mag, wollte ich sagen. Stell dir vor, sie müssten das gesamte Leben einer jeden Alison überwachen. Das wäre unmöglich. Darum, meinte Oscar, wäre es für die Ports einfacher, das Pferd von hinten aufzuzäumen, wenn du so willst. Sie gehen von Zeitpunkt X aus, an dem eine meiner Ichs eine«, ich rolle mit den Augen, »eine Gefahr für sie wird, und folgen deren Abspaltungen rückwärts bis zu einem Punkt, wo sie eingreifen können.«

Kay nickt nachdenklich. »Wie auf dem Hügel bei unserer Hütte.«

»Genau.«

»Oder später, in unserer Zukunft.«

»Möglich«, sage ich vage.

Unvermittelt steht Kay auf, streift sich das Ziegenfell ab und sieht sich um. Auch mir ist furchtbar heiß und ich würde mir den rauen, piksenden Stoff am liebsten vom Leib reißen, öffne aber nur ich die zwei obersten Knöpfe meines Hemdes. Kay streift mich mit einem kurzen Blick und dreht sich zu den Werkzeugregalen.

»Alles in Ordnung?«, frage ich.

»Wenn ich richtig verstanden habe, werden sie also einen möglichst späten Zeitpunkt wählen, um dich unschädlich zu machen«, antwortet er, mir den Rücken zugewandt, und greift nach einer Spaltaxt.

»Ich werde ihnen keinen Grund liefern, weil ich ihnen gar nicht erst gefährlich werde.«

»Womöglich hast du recht. Und vielleicht geht es auch gar nicht um dich. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass die Ports dich aus reiner Menschlichkeit verschonen, auch wenn du selbst nie etwas tun würdest, was dich oder sie oder wen auch immer gefährdet, wie du sagst. Ich glaube, dass sie eine Alison nach der anderen töten werden und …« Kay hält inne, zieht eine Kiste aus dem Regal. Es klappert und scheppert laut.

Ich stehe auf. »Was hast du vor?«

»Ich bewaffne uns«, sagt Kay, dreht sich um und streckt mir eins von Dads Schnitzmessern entgegen, die gebogene Klinge flach zwischen seine Finger gepresst. »Hier, nimm es. Ein zweites Messer kann nicht schaden.« Ich berühre es zögerlich am Griff, ohne es zu nehmen. Meine Augen wandern stattdessen zu einem verstaubten Regalbrett, auf dem Kay die Axt, zwei weitere Messer und einen schweren Hammer abgelegt hat.

»Du willst kämpfen?«

»Hast du eine bessere Idee?«

Ich ziehe meine Hand zurück und verschränke die Arme. »Ich möchte hierbleiben, solange es geht.«

Ein verärgerter Zug tritt in Kays Gesicht. »Und wenn es nicht mehr geht?«

»Fliehen wir.«

Kay greift mein Handgelenk und zieht meine Arme auseinander. Es tut nicht weh, trotzdem jaule ich auf. Weil Kays ruppige Art mich verletzt.

»Du hättest mir früher von Oscars Theorie erzählen sollen. Als Allererstes«, sagt er und drückt mir das Messer in die Hand. »Ich habe dich gefragt, ob uns eine Gefahr droht.«

»Aber hier ist niemand«, werfe ich ein. Es klingt halb verärgert, halb weinerlich. Ich will nicht weiterkämpfen und erst recht nicht fliehen.

»Hier ist noch niemand«, sagt Kay und schiebt sein Kinn vor. »Du bist dir die ganze Zeit bewusst gewesen, dass sie nach wie vor angreifen können, vielleicht in wenigen Sekunden, vielleicht in einem Monat.« Kay spricht zwar leise, aber sein Ton ist geradezu schneidend. »Du wusstest, wie unsicher dein Zuhause ist, und trotzdem hast du mich hierher mitgenommen und dein Leben, mein Leben und das deiner Familie gefährdet.«

Seine Worte sind wie Faustschläge in meinen Magen, aber ich begreife, dass ich jeden der Schläge verdient habe. Ich kämpfe aufsteigende Tränen nieder und beobachte Kay mit zusammengepressten Lippen dabei, wie er ein Seil durch die Schlaufen seiner Hose zieht.

Er verknotet es und sieht mich mit durchdringendem Blick an. »Ich habe es todernst gemeint, als ich sagte, dass ich dich immer beschützen werde, aber du musst verdammt noch mal aufhören, uns in Gefahr zu bringen.«

»Ich wollte doch nur, dass –«

»Alison, ein Leben, in dem wir alle glücklich zusammen sind, existiert nicht.« Kay klemmt die Messer und den Hammer unter das Seil, greift nach der Axt und hält mir seine Markerhand hin. »Wir müssen hier verschwinden. Kannst du uns in eine Zeit bringen, in der du noch nicht warst?«

Ich schlucke und sehe zur Tür. »Ich will es ihnen zumindest erklären. Meine Eltern müssen doch wissen, warum ich nie mehr … nie wieder …«

»Kannst du es, Alison? Uns in eine Zeit bringen, die du nicht kennst?«

»Nein.«

Kay atmet schwer aus. »Dann sind wir an jedem anderen Ort genauso unsicher.«

»Das stimmt. Wir können also genauso gut hierbleiben«, antworte ich glücklich, denn in diesem Augenblick höre ich Dads alten Pick-up den Waldweg hinaufrumpeln. Ich stürze aus dem Schuppen. Meine Beine fliegen förmlich über den Rasen, Dads Wagen entgegen. Ich sehe ihn schon. Er biegt eben um eine Kurve und steuert nun auf den Schotterparkplatz zu. Nur 100 Meter ist er entfernt. Höchstens. Und mit jedem Meter, den er näher kommt, ändern sich meine Gefühle. Da ist überschnappende Freude, Dad gleich in die Arme schließen zu können.

Schotter spritzt hoch. Noch gut 70 Meter. Und plötzlich Angst, Dad könnte mich tot glauben.

Bremsen. Das Auto steht. Ich sehe Dads Gesicht. Es ist genauso, wie ich es in Erinnerung habe. Wettergegerbt, kantig und doch so fröhlich. Jetzt Hoffnung, ich könnte doch die richtige Zeit getroffen haben.

Vielleicht noch 50 Meter und dann weiß ich es mit Bestimmtheit. Der Motor geht aus, die Tür öffnet sich. Und jähe Panik überfällt mich, einen Fehler zu machen.

Gott verflucht! Der Störsender. Kay! Ich bremse ab, blicke dabei hinter mich, verliere das Gleichgewicht und schlage auf den Rasen. Kurz verschwimmt alles grün, dann sehe ich eine Wurzel und schiele hoch. Kleine grüne Äpfel hängen in der Baumkrone. Sie sind noch nicht ganz reif. Es muss August sein, vielleicht September.

Die Wagentür schlägt zu.

»Alison?« Dads Stimme.

»Alison!« Kays Stimme. Er geht mit schnellen Schritten in meine Richtung.

Ich setze mich auf und reibe mir die Handballen. Gras klebt daran.

Schon ist Kay bei mir und streckt mir die Hand entgegen. »Alles in Ordnung?«

»Ich glaube, ja.« Ich sehe zu Dad. Er geht auf mich zu, aber seine Schritte werden langsamer, je näher er kommt.

»100 Meter, verflucht«, zischt Kay und zieht mich hoch.

»Es tut mir leid«, murmle ich und sehe in Dads Gesicht. Er wirkt weder erleichtert noch erfreut. Er sieht einfach nur aus, als würde er einen Geist sehen. Sein Mund steht offen, seine Augen sind weit aufgerissen.

Mein Gott! Er muss wirklich geglaubt haben, ich sei tot.

»Daddy.« Mehr bringe ich nicht heraus, doch Sekunden später klammere ich mich um seinen Hals. »Ich kann dir alles erklären. Ich … Ich … Du …« Mir fehlen plötzlich die Worte. Ich empfinde nur ungeheures Mitleid. Wie lange haben mich meine Eltern für tot gehalten?

Dad legt seine Hand auf meine Schulter und schiebt mich von sich.

»Welches Jahr haben wir?«, frage ich ihn. Ich muss es wissen.

»Was?«

»Welches Jahr? 2015, 2016? Dad, bitte, ich erkläre dir alles. Aber welches Datum ist heute?«

»Was ist denn bloß mit dir passiert?«, fragt Dad statt einer Antwort.

In diesem Augenblick überkommt mich ein ungutes Gefühl. Wieso freut sich mein Vater nicht, mich lebendig zu sehen? Oder habe ich genau den Moment getroffen, in dem ich diese Zeit verlassen habe? Den 31. August 2015? Und Dad versteht bloß nicht, wieso ich derart zerschunden aussehe, da für ihn nur wenige Stunden vergangen sind, seit er mich am Morgen zuletzt gesund und munter gesehen hat.

Dad weicht einen Schritt zurück und schüttelt den Kopf, als wolle er nicht wahrhaben, wer vor ihm steht. »Wer bist du? Wer ist er? Wieso hat er mein Werkzeug?«

Werkzeug? Das ist alles, was meinen Vater interessiert?

Kay legt den Arm um mich. »Mr Hill. Sie sollten ihrer Tochter zuhören.«

»Das ist nicht meine Tochter«, sagt Dad kalt und kneift die Augen zusammen.

Er muss mich wirklich tot geglaubt haben.

Ich sehe zu Kay hoch, flüstere »Schon gut« und berühre Dad mit ausgestrecktem Arm. »Bitte, Dad. Ich bin es. Ich lebe. Es ist so viel passiert. Ich kann ni–«

»Aaal-iii-sooon!«, brüllt mein Vater, noch bevor ich meinen Satz beenden kann.

Über mir fliegt ein Fenster auf. Ruckartig lege ich meinen Kopf in den Nacken.

»Was ist denn los?«, ruft eine helle Stimme zurück.

Noch bevor ich sie sehe, ahne ich, was los ist, und mein Herz setzt aus.

Sie beugt sich weit aus dem Fenster, um zu uns herunterzublicken. Ihre schwarzen Haare sind lang, sehr lang und seidig und fallen ihr ins Gesicht. Sie schiebt sie zur Seite, zieht mit den Zähnen ein Band von ihrem Handgelenk und schlingt es um ihre Haare.

»Alles in Ordnung, meine Kleine?«, fragt Dad.

Sie nickt und der lockere Knoten löst sich wieder.

»Haben wir Be–«

Jetzt sehen wir uns direkt in die Augen. Ihre sind groß und wach, in meinen schwimmen Tränen.

Dies ist nicht mein Zuhause, sondern ihres! Ich habe die falsche Realität erwischt.

»Kennst du diese Leute?«, höre ich Dad fragen und fühle mich plötzlich wie in Trance. Meine Knie werden weich. Ich spüre, wie ich wegsacke. Kay greift mich unter den Armen und zieht mich mit sich. Ich stolpere willenlos hinter ihm her.

»Hey! Mein Werkzeug!« Dads Stimme ist weit entfernt, aber lange nicht so weit wie mein Zuhause. »Alison! Ruf die Polizei!«

Die Polizei, die Ports … Deswegen war niemand hier. Denn von dieser Alison geht keine Gefahr aus. Sie darf ein ganz normales Leben führen. Meine Bitterkeit darüber ist so groß, dass ich sie sogar im Mund schmecke. Alles darin zieht sich zusammen, und als wir in den Wald eintauchen, kotze ich mir die Seele aus dem Leib. So lange, bis ich meine, mein Inneres hätte sich nach außen gestülpt.

Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart

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