Читать книгу Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart - Kim Kestner - Страница 8

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3.

Winter 1852, Nevada, an der Grenze zu Kalifornien

Es reißt mich förmlich von den Füßen. Der Sog ist so heftig und unerwartet, dass mir wieder die Luft wegbleibt. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Oh Gott. Nein! Ich darf nicht … Ich Idiotin! Damit hätte ich rechnen müssen!

Noch bevor ich Luft holen kann, ist es taghell und kalt.

Die Ports!

Ich wirble im Kreis, stoße mit dem Ellenbogen gegen etwas Hartes, einen Körper, nein, einen dunklen Stamm. Der Wald ist voller Schatten. Jeder könnte ein Port sein.

Ich stolpere zwischen Tannen hindurch, reiße mein Messer aus der Schlaufe, stürze vorwärts. Mein Hals brennt plötzlich und erst da merke ich, dass ich mir die Seele aus dem Leib schreie. Ich presse mir die Hand vor den Mund.

Es ist ganz still. Nur das Hämmern meines Herzens kann ich noch hören und einen Specht, der seinen Schnabel im selben Rhythmus gegen einen Stamm schlägt. Das Messer halte ich immer noch umklammert, bereit zu töten. Meine Hand zittert dabei. Ach was. Mein ganzer Körper. Nirgendwo jedoch ist ein Port zu sehen. Nirgends! Aber … das verstehe ich nicht!

Kay! Ich muss ganz in seiner Nähe sein. Ihm galten meine Gedanken, bevor ich hierhergetragen wurde.

Langsam gewinnt mein Gehirn wieder Macht über meinen Körper und das Zittern weicht Anspannung. Ich lasse meinen Arm sinken und meinen Blick schweifen. Der Waldboden ist von Schneeflecken und Eis überzogen und nur dort, wo die Wipfel der Bäume die Erde überdachen, sind noch Tannennadeln zu sehen.

Ich bin mir sicher, zurück zu sein. Zurück im Jahr 1852 bei Kay, als ich ihn betäubt zurücklasse … Ich fühle es. Meine Angst mahnt mich, nicht hierzubleiben, woandershin zu springen, aber ich kann nicht. Nicht mehr. Nicht, da Kay ganz in meiner Nähe sein muss.

Bis aufs Äußerste angespannt schleiche ich in geduckter Haltung durch den Wald, achte darauf, dass kein Geräusch mich verrät, kein Ast unter meinen Füßen knackt, obwohl es lächerlich ist. Niemand scheint in meiner Nähe zu sein und wenn doch, würde meine Vorsicht kaum etwas nützen.

Ich folge meinem Instinkt, lasse mich von meiner Sehnsucht führen. Plötzlich höre ich leises Rauschen und halte inne, um mich zu orientieren. Das muss der Wasserfall sein! Oder sind es die Baumkronen? Ich blicke in den Himmel. Die vom Schnee schwer beladenen Äste der Tannen scheinen wie erstarrt. Es ist der Wasserfall! Ich kann nicht mehr weit entfernt sein von dem Lagerplatz, den ich vor über 2 Jahren verlassen habe.

Jetzt beschleunige ich meine Schritte, nestle das Messer zurück in die Schlaufe, beginne zu rennen, und schon bald wird das Rauschen zum Tosen herabfallender Wassermengen. Ich setze über Wurzeln, presche ungebremst unter tief hängenden Ästen hindurch, als ich aus den Augenwinkeln etwas wahrnehme. Etwas, das nicht hierherpasst. Ich bremse ab, laufe wenige Schritte zurück. Da! Tatsächlich! Ein großer Stiefelabdruck im Schnee. Ports? Sind sie doch da?

Mit angehaltenem Atem presse ich mich gegen einen Baum, eine, zwei qualvolle Minuten lang, bis ich die Luft nicht mehr anhalten kann, und konzentriere mich auf die Geräusche des Waldes. Doch sie könnten friedvoller nicht sein. Sogar ein Vogel lässt sich von der Kälte nicht abschrecken und singt. Nein. Niemand ist hier. Kein Port weit und breit.

Ich stoße einen wütenden Laut aus. Sam Oscar muss mich angelogen haben. Dieser Dreckskerl! Dieses feige Schwein! Er hat mein Leben riskiert statt seins, in Kauf genommen, dass ich meine Familie und Kay im Stich lasse, und das nur, damit mich nichts mehr hält, ich bereit bin, jedes Risiko einzugehen, um seinen Kampf zu führen. Und ich Idiotin habe mich von ihm manipulieren lassen!

Voller Zorn balle ich die Hände zu Fäusten und schlage gegen den Baum. Wenn ich eben noch angespannt vor Angst und gleichsam erwartungsvoller Hoffnung war, habe ich jetzt eine Scheißwut in mir und, wie ich mir eingestehe, Rachlust. Was auch immer geschieht, diese Rechnung werde ich begleichen!

Jetzt jedoch gibt es nur ein Ziel. Ich werfe noch einen Blick auf den Abdruck im Schnee. Er muss von Kay stammen. Voller Entschlossenheit schreite ich aus. Der Wasserfall wird schnell lauter. Meiner Erinnerung nach muss ich mich links halten und richtig, kurz darauf rieche ich Rauch. Ich kneife die Augen zusammen, entdecke plötzlich einen rot glimmenden Fremdkörper zwischen den tristen Winterfarben: den schwachen Schein eines Feuers. Kay!

Mein Gehirn setzt aus. Ich renne nur noch, denke nicht. Meine Füße berühren kaum noch den Boden, ich jage zwischen den Tannen hindurch, sehe Flammen, den Lagerfeuerplatz.

Hoffentlich! Gott! Bitte lass ihn da sein! Ein dunkler starrer Fleck. Ist es …?

Es ist der Bär! Mein Herz rast, mein Atem geht stoßweise. Ich breche durch irgendein Gestrüpp, meine Hand knallt gegen den Felsüberhang, unter dem der Bär bewegungslos liegt, und dahinter liegt … Kay!

Es kommt mir wie ein Traum vor. Ich kann es kaum fassen. Tränen schießen mir in die Augen. Mein Glück scheint nicht real und doch ist es das. Vollkommen überwältigt sinke ich auf die Knie und strecke die Hand so vorsichtig nach Kay aus, als könnte er sich unter meiner Berührung auflösen.

Sein Gesicht ist weiß und kalt wie Marmor. Oh Gott! Ist er …?

Meine Finger tasten schon nach seinem Puls. Dummdumm. Dumm-dumm. Kays Herz schlägt vollkommen regelmäßig. Es geht ihm gut. Er ist hier. Bei mir! Ein Zittern durchfährt meinen Leib. Ich heule und bebe und schluchze, ohne dass ich es aufhalten kann, kralle mich dabei an Kays bewegungslosem Körper fest und bedecke sein Gesicht, das bald nass von meinen Tränen ist, mit Küssen.

Kay reagiert nicht. Doch das ist egal. Er wird aufwachen und ich werde da sein.

»Ich bin hier. Ich bin hier. Ich bin doch hier«, presse ich hervor, immer wieder, weil ich es selbst nicht fassen kann. Nichts könnte mich mehr wärmen, keine Decke, kein Sonnenschein, als Kays kalter Körper, dem ich nicht nah genug sein kann.

Gleich darauf löse ich mich doch von ihm. Auch wenn ich eben noch davon überzeugt war, Sam Oscar habe mich angelogen und die Ports würden entgegen seiner Vorhersage nicht kommen, um mich zu ermorden, drängt sich mir das ungute Gefühl auf, doch nicht in Sicherheit zu sein. Einfach weil es zu schön ist, um wahr zu sein. Ich sollte von hier verschwinden. Aber nicht ohne Kay!

Kurz entschlossen greife ich nach seiner Markerhand, so wie Oscar es bei mir getan hat, um mich mit sich durch die Zeit zu ziehen. Ich schließe die Augen und denke an den Strand, meinen Zufluchtsort.

Nichts geschieht.

Ich rufe mir den Geruch der Kiefern in Erinnerung, ein Sandförmchen, die Wärme der Sonne, mich selbst als spielendes Kleinkind. Die Bilder sind ganz klar und trotzdem tut sich nichts. Rein gar nichts.

Panik beginnt, in mir aufzusteigen, plötzlich fühle ich mich vollkommen hilflos wie in einem Traum, in dem man rennt und rennt und doch nicht von der Stelle kommt. Kays bewegungsloser Körper wirkt wie ein verfluchter Anker.

Kurz bin ich versucht, es ohne ihn im Schlepptau zu probieren. Nur um zu überprüfen, ob es noch funktioniert, aber ich kann mich nicht überwinden, ihn alleinzulassen.

Kays Hand fest in meiner, öffne ich meine Augen wieder. Der Wald scheint noch düsterer geworden zu sein und es hat zu schneien begonnen. Bauschige Flocken fallen vom Himmel, bedecken den Boden, zerschmelzen über der Feuerstelle, noch bevor sie die Flammen erreicht haben. Ein Blick in den Himmel: Er ist grau und verhangen. Unmöglich zu sagen, wann die Nacht hereinbrechen wird, meiner Erinnerung nach müsste es jedoch später Nachmittag sein.

Das Gefühl, mein Glück sei nicht von Dauer, wird mit jedem Millimeter stärker, den die Erde unter der weißen Decke verschwindet. Der Anblick bringt eine vage Erinnerung zurück. Es ist mehr ein Gefühl. Das Gefühl, nicht zu Ende gedacht zu haben. Ich beiße auf meinem Fingerknöchel herum, während ich zu ergründen versuche, was zum Teufel ich übersehen habe.

Gut, also: Schneeflocken, Schneedecke, Waldboden … Es begann zu schneien, als ich Kay vor 2 Jahren verließ. Kurz darauf fiel mein Marker plötzlich aus. Richtig, damals konnte ich mir nicht erklären, warum. Jetzt weiß ich, der Reif an meinem Oberarm war schuld daran. Denn in dem Moment, da ich mich hierherportierte, um den Bären zu töten, setzte der Störsender den Marker meines jüngeren Ichs außer Kraft. Zumindest solange ich in ihrer Nähe war.

Ich blicke zu dem toten Tier. Die Schneeflocken färben sich rot, wo sie auf Blut treffen. Es kann also nicht lange her sein, dass die jüngste Version meines Selbst gegangen ist. Das Blut am Bärenschädel ist noch frisch.

Mein Gott! Sie muss sich noch im Umkreis von etwa 100 Metern befinden! Deswegen stand auf meinem Marker damals nach wie vor Technischer Ausfall.

Nicht weil die Wirkung des Störsenders eine Zeit lang anhielt, nachdem ich den Tomahawk nach dem Bären geschleudert hatte und wieder zurück zu Kay in die Hütte gesprungen war, sondern weil ich kurz darauf erneut hier aufgetaucht bin. Nämlich genau jetzt.

Linear gesehen müsste meine 17-jährige Version in wenigen Sekunden die Reichweite des Störsenders erreicht haben und dann wird man ihr Schmerzen zufügen. Rasende Schmerzen, die sich anfühlen, als würde ihr Kopf in Flammen aufgehen.

Damit wollten diese Mistkerle aus der Zukunft mich zwingen, ihnen zu verraten, wieso mein Marker ausgefallen war. Richtig! Jetzt erinnere ich mich an die Worte, die damals über den Marker meiner linken Hand liefen: Welche Kenntnis haben Sie über die technische Manipulation?

Sie wussten, ahnten zumindest, dass es sich nicht um einen Ausfall, sondern um eine Manipulation handelte, besser handelt, denn es geschieht jetzt. Wahrscheinlich in diesem Moment! Die Gedanken rasen förmlich durch meinen Kopf, versuchen, die Zusammenhänge logisch zu erfassen, spinnen alle möglichen Szenarien, stoßen auf Paradoxe, kehren zurück, schlagen neue Wege ein, überkreuzen sich, stoßen auf Mögliches, Unmögliches, Wahrscheinliches, getrieben von der Angst, jede Sekunde fliehen zu müssen und Kay nicht mit mir ziehen zu können. Werden die Ports doch plötzlich hier einfallen? Falls sie das vorhaben, wieso sind sie dann nicht schon hier? Oder waren sie bereits hier? Der Stiefelabdruck! Mein Kopf schnellt zu Kays Füßen. Er trägt feste Schuhe. Hatte er die schon immer? Ich erinnere mich nicht.

Plötzlich meine ich, brechende Äste zu hören. Ich lausche angespannt, aber das Blut pumpt so wild durch meine Adern, dass das Dröhnen jeden anderen Laut übertönt. Vielleicht bin ich inzwischen paranoid oder nur übervorsichtig oder total übergeschnappt, aber ich werde nicht hierbleiben, um es herauszufinden. Es muss mir gelingen, Kay mit mir zu ziehen. Es muss!

Noch immer umfasst meine Hand seine. Ich prüfe, ob unsere Marker genau aufeinanderliegen, womöglich spielt das eine Rolle. Dann schließe ich die Augen. In diesem Augenblick knackt es irgendwo und ein eiskalter Schauer überzieht meinen Rücken. Verworrene Bilder rasen durch meinen Kopf. Mein Elternhaus, Jeremy, der Strand, die Stylistin Ivana Jass, die Apfelplantage, mein erster Schultag … Kein Detail ist intensiv genug, um uns zu tragen. Verdammt!

Von irgendwo dringt ein markerschütternder Schrei zu mir, fast unmenschlich, der das Blut in meinen Adern gefrieren lässt. Er klingt grauenvoll. Unwillkürlich öffne ich die Augen und starre in die Richtung, aus der der Laut kam. Wieder ein lang gezogener, gequälter Schrei! Ich versteife mich, denn ich weiß, wer da schreit, und vor allen Dingen, wieso. Es ist mein 17-jähriges Ich, das die Reichweite meines Störsenders nun überschritten haben muss und jetzt über ihren Marker gefoltert wird.

Die Schreie brechen ab, branden wieder auf und werden immer leiser, je weiter sie sich von mir entfernt.

Bedeutet das, die Ports werden jeden Moment hier sein?

Hinter mir spüre ich die schützende Felswand, vor mir jedoch sehe ich durch das immer dichtere Schneegestöber nichts als undefinierbare dunkle Schatten.

Noch immer verharre ich reglos, meine Sinne aufs Äußerste geschärft, aber mein Gehirn scheint ausgeschaltet. Keine Bilder, keine rettenden Details, nur von Angst getriebene Wachsamkeit, und doch bin ich unfähig, mein Messer aus der Schlinge zu ziehen.

Meine Hand umkrampft Kays so stark, dass es wehtut. Doch er reagiert nicht einmal darauf. Egal. Ich darf nicht aufgeben.

Gerade als ich wieder die Augen schließen will, kommt ohne Vorzeichen heftiger Wind auf. Der Schnee wird zu harschem Graupel, der über mein Gesicht gepeitscht wird.

Das sind sie! Sie steuern das Wetter. Sie wissen, dass ich hier bin! Bestimmt sind die ersten Ports schon hier, höchstens 100 Meter entfernt, die maximale Reichweite des Störsenders, und das dichte Schneegestöber soll ihre Körper verschleiern, das Pfeifen und Rauschen des Windes ihre Schritte übertönen. Gleich werden sie aus dem Wald stürmen. Selbst durch das Tosen des Windes meine ich, wieder Äste knacken zu hören. Kein Tier verursacht dieses Geräusch, sondern Menschen, die kein Busch, kein tief hängender Ast aufhalten kann.

Vor lauter Angst, die Ports nicht kommen zu sehen, traue ich mich nicht mehr, die Augen zu schließen. Ein erbärmlicher Hilferuf kriecht aus meiner Kehle. »Hilfe. Hilfe. Hilfe …«

Noch nie hatte ich solch furchtbare, lähmende Angst. Nicht auf dem Schlachtfeld zwischen den unzähligen Ports, nicht als ich Kay sterben sah, nicht einmal, als sie mich das erste Mal in die Zukunft entführten. Und ich kenne den Grund für diese Angst: Ich bin mir sicher, schon verloren zu haben, weil es kein Glück für Kay und mich geben kann. Weil nichts von dem, was ich bisher getan habe, gut endete.

Niemals.

Ich hefte meinen Blick auf Kays regloses Gesicht und kann nur noch daran denken, dass unsere Zukunft nur wenige Minuten gedauert hat, von denen er nicht eine miterlebt hat. Wenn es gleich vorbei ist, wird er noch nicht einmal wissen, dass ich hier war, dass es mir endlich gelungen ist, zu ihm zu kommen.

Plötzlich spüre ich, wie Kay meinen Händedruck erwidert. Seine Lider zucken. Er wacht auf.

Er wacht auf! Ein Ruck geht durch meinen Körper.

Bist du wahnsinnig?, schreie ich mich in Gedanken an. Nach allem, was du durchgemacht hast, kampflos aufzugeben? Alison! Konzentriere dich! Los, such dir ein anderes Bild. Dein Zuhause meinetwegen. Etwas, das stark genug ist, euch beide zu tragen! Hauptsache weg. Gleich werden sie hier sein!

Mein Bedürfnis nach Sicherheit ist übermächtig und vor meinem geistigen Auge tauchen unwillkürlich Erinnerungen voller Geborgenheit auf: Dad in seinem Schuppen, der Geruch von Sägemehl, das Geräusch eines Hobels, die Wärme des Sommers, zwitschernde Vögel, der Apfelbaum vor meinem Zimmer.

Ich gebe mich dem Sog hin und umklammere Kays Hand noch fester. Nichts darf uns trennen.

Nichts!

Und endlich … Ein Kribbeln durchläuft meinen Körper, von meiner Markerhand in den Nacken, über den Rücken bis zu den Zehenspitzen. Ich meine, Rufe durch den Sturm hindurch zu hören, wage aber nicht, die Augen zu öffnen, damit die Bilder nicht zerfallen. Und als mich der Sog endlich davonträgt, fühlt es sich unendlich kräftezehrend an. Meine Muskeln brennen und Schweiß bricht aus meinen Poren. Ich kann nur beten, dass diese Anstrengung bedeutet, ich habe Kays Körper mit mir gezogen.

Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart

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