Читать книгу Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart - Kim Kestner - Страница 9

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4.

Irgendwann im Sommer, zu Hause

Der Sog scheint mich endlos in die Tiefe zu ziehen. Als drücke mich ein Strudel immer weiter nach unten. Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Auch Kays Hand nicht! Nie zuvor hat es so lange gedauert, die Zeit zu wechseln, und das erste Mal nehme ich bewusst wahr, wie ich körperlos zu sein scheine und trotzdem eine enorme physische Anstrengung verspüre.

Doch dann lässt der Druck nach, der Wirbelstrom wird langsamer und ich spüre meine Glieder wieder und … Kays Hand.

Er ist bei mir!

Ich reiße die Augen auf. Warmes Licht umfängt mich, verschwommene Brauntöne, und dann ganz klar: Kay.

Mein Gott. Er ist wirklich da. Es hat geklappt, ich habe ihn mit mir reißen können! Ein übergeschnapptes Lachen steckt in meiner Kehle und gleichzeitig ein rasendes Herz in meiner Brust, angetrieben von Panik.

Zögerlich löse ich meine Hand von Kays, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Zu groß ist meine Angst, ihn wieder zu verlieren. Aber er löst sich nicht in Luft auf. Nein. Ein Sonnenstrahl fällt auf sein Gesicht und jetzt wirkt er nicht mehr so furchtbar blass, sondern nur, als schlafe er. Was er auch tut.

Ich folge dem Lichtstrahl, in dem winzige Staubpartikel schweben, zu einer Bretterwand. Durch ein Astloch fällt die Sonne. Es riecht nach Leim und … Sägemehl. Ich bin zurück. Ich bin in Dads Tischlerwerkstatt.

Irgendwie komme ich hoch und sehe mich mit offenem Mund um. Bretter stapeln sich an einer Längsseite, gegenüber stehen Regale mit Kisten voller Werkzeug, ein halb fertiger Stuhl auf der Werkbank hinter mir, daneben ein Hobel, Holzspäne auf der Erde und eine staubige Matratze, die zusammengerollt und verschnürt zwischen einer Kreissäge und einem Hauklotz klemmt. Es ist genau, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich bin zu Hause!

Die Erkenntnis wird gleich darauf von einem Wirrwarr an heftigen Gefühlen erschlagen: unendliche Dankbarkeit, Sehnsucht, Geborgenheit, Glück. Vor allen Dingen Glück und die Angst, dieses Glück gleich wieder zu verlieren.

Wieder sehe ich zu Kay. Er zuckt unruhig. Bald wird er endgültig aufwachen. Und dann?

Mein Verstand sagt mir, wir sollten nicht hier sein, aber alles andere in mir weiß: Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich bin unendlich erschöpft. Geistig wie körperlich. Beinahe habe ich das Gefühl, eine leere Hülle zu sein, substanzlos, kaum mehr da. Über 2 Jahre Flucht, Entbehrung und Kampf haben mich ausgelaugt. Nein, ich kann nicht mehr. Sollten Ports kommen, müssen wir wieder fliehen, das ist mir bewusst. Aber bis dahin will ich einfach nur sein. Hier sein. Bei meiner Familie sein. Bei Kay sein.

Ich gehe zur Tür, drücke die Klinke und spähe hinaus. Gegenüber steht mein Elternhaus. Ein gepflasterter Weg führt über den kurz gemähten Rasen zu der weißen Veranda, die einmal um unser Haus herumläuft. Vom Schuppen aus kann ich durch eines der Fenster in unser Wohnzimmer blicken und erahne den Kamin. Er brennt nicht. Kein Rauch steigt aus dem Schornstein. Wieso auch? Es ist offensichtlich Sommer und auf Höhe des Dachfirsts sehe ich die Äste des Apfelbaums.

Um mich ist nichts als Frieden, keine Ports, kein plötzlicher Wetterumschwung und das einzige laute Geräusch stammt von einer gurrenden Taube, die in der Krone des Apfelbaums sitzt. Du meine Güte! Dass der Baum so groß ist, muss bedeuten, ich bin zurück in meiner Gegenwart! In etwa zumindest.

Wo sind Mum, Dad, Jeremy?

Ich öffne die Tür weiter und hole tief Luft, um nach Mum zu rufen. Sie müsste da sein. Vielleicht schläft sie nach ihrer Nachtschicht. Am liebsten würde ich ins Haus rennen und mich vergewissern. Aber ich möchte Kay nicht bewusstlos im Schuppen liegen lassen.

Kay! Oh Mann! Wie soll ich meinen Eltern nur seine Anwesenheit erklären? Wer er ist und dass wir uns nie mehr trennen werden, nicht weiter als 100 Meter? Denn nur so weit reicht der Störsender. Was werden sie sagen, wenn sie mich so sehen, abgemagert, von blauen Flecken überzogen, verdreckt, mit verfilztem Haar? Wie kann ich ihnen die letzten 2 Jahre begreiflich machen?

Pfeifend lasse ich die Luft aus meinen Lungen. Es wird sich alles finden. Dass wir hier sind, zusammen, dass wir leben, das allein ist wichtig. Ich lasse noch einmal meinen Blick über den Rasen zum Wald schweifen. Keine Menschenseele.

Erst jetzt entspanne ich mich ein wenig und setze mich im Schneidersitz neben Kay. Ich greife nach seiner Hand und betrachte jeden Zentimeter seines Gesichts, während ich darauf warte, dass er zu sich kommt. Kays Züge sind kantiger, als ich sie in Erinnerung hatte, sie wirken reifer und härter, alles Jungenhafte, Unbeschwerte ist daraus gewichen. Und das, was ich suche, was ich so sehr liebe, ist unter seinen geschlossenen Lidern verborgen: seine innere Kraft, seine Entschlossenheit, Liebe und Ruhe.

Wieder zuckt Kay. Jetzt kann ich es kaum noch erwarten, mit ihm zu sprechen. Wie wird er bloß reagieren, wenn er mich sieht?

Ich streiche über seine Stirn. »Hörst du mich?«

Kay brummt etwas. Es hört sich wie Zustimmung an. Mein Herz schlägt schneller.

»Hey, alles ist gut. Du bist in Sicherheit«, murmle ich, was vielleicht eine Lüge ist. Aber Kay wird genug zu verkraften haben. »Kannst du mich hören? Kay!«

Ein Krächzen kommt aus seiner Kehle. »Al–« Er hustet. »Alison. Wasser.«

»Wasser? Ja. Warte. Ich hole was zu trinken.« Suchend sehe ich mich um. In Dads Schuppen war mal ein Waschbecken, da bin ich mir sicher. Gleich neben der Werkbank. Jetzt ist dort nur ein silbernes Rohr. Er muss das Becken abmontiert haben. Wieso und wann auch immer. Mist! Vielleicht bin ich weiter in der Zukunft gelandet, als ich dachte. Womöglich sind seit meinem Verschwinden mehrere Sommer vergangen! Vielleicht ist Jeremy schon erwachsen und Mum eine alte Frau und alle denken, ich sei seit Jahren tot. Nicht zu wissen, in welcher Zeit ich genau bin, beunruhigt mich zutiefst.

Nein, es kann eine andere, viel harmlosere Erklärung geben. Seit Monaten war ich nicht mehr in Dads Schuppen. Er kann das Waschbecken genauso gut in dieser Zeit, also in der Vergangenheit, abgeschraubt haben.

»Wasser«, wiederholt Kay. Seine Augen sind halb geöffnet, aber noch glasig von der Betäubung. Er scheint noch nicht wahrgenommen zu haben, wo er ist.

Ich springe auf. In einem Regal stehen zwei Dosen Bier. Eine ist halb geleert, die andere noch verschlossen. Unschlüssig strecke ich meine Hand nach der vollen aus, als mein Blick auf eine verstaubte Dose Coke fällt. Das ist besser. Viel besser. Voller Zucker wird sie Kay auf die Beine bringen. Ich drücke die Lasche ein und es zischt. Gleich darauf habe ich Kays Kopf angehoben und presse die Dose an seine Lippen. Begierig trinkt er und etwas von der braunen Flüssigkeit läuft aus seinen Mundwinkeln sein Kinn hinunter.

»Langsam«, flüstere ich und da reißt Kay die Augen auf. Er drückt meine Hand mit der Dose von sich und starrt darauf. Ich suche Kays Blick, aber seine Pupillen fixieren nur die Coke. Ich weiß, er ist noch vollkommen desorientiert. Kay ist an die Zeitsprünge nicht so gewöhnt wie ich und nimmt seine Umgebung erst stückweise wahr. Trotzdem fühle ich Enttäuschung meine Brust hinaufkriechen. Insgeheim habe ich mir wohl ausgemalt, wie er mich in die Arme schließt, doch er begreift scheinbar nicht, dass nicht mehr mein um 2 Jahre jüngeres Ich bei ihm ist, sondern mein jetziges, 19-jähriges, totgeglaubtes Ich.

»Ich bin bei dir. Kay. Ich bin es. Sieh mich an.«

»Cola. Woher hast du …Welche Zeit haben wir?« Seine Stimme wird klarer, sein Verstand auch.

Gut. Sehr gut. Gleich wird er wissen, ich bin nicht gestorben.

»Ich weiß es nicht«, beantworte ich seine Frage. »Irgendwann in der Zukunft. 2015, 2017, vielleicht noch später.«

»Was? Wie … aber … wo …«

»Es ist vorbei. Die Show ist vorbei.«

Endlich sieht Kay mich an. Seine tiefdunklen Augen werden groß.

»Alison.« Kay kommt hoch und streckt die Hand nach meinem Gesicht aus. Ich bewege mich nicht, lächle noch nicht einmal, sage nur: »Ja. Ich bin’s. Ich lebe.«

Kay sieht aus, als hätte ihn der Schlag getroffen. Seine Gesichtszüge sind entgleist, seine Finger schweben vor meinem Gesicht und zittern, aber er berührt mich nicht.

»Wie alt bist du?«

»19 Jahre und einige Monate. Es kommt auf die Sichtweise an«. Jetzt lächle ich doch.

Kay hat mir vor 2 Jahren eine ganz ähnliche Antwort auf die gleiche Frage gegeben.

»Aber, du hast dich umgebracht! Ich … ich habe es gesehen, damals. Das Messer, der Marker.« Kay schüttelt heftig den Kopf und zieht seine Hand zurück. »Du kannst es nicht sein! Wer bist du? Aus welcher Realität kommst du? Wo sind wir? Wo ist Alison? Was ist mit mir passiert?«

In diesem Moment lese ich Misstrauen in Kays Augen und auch … Ist das Angst?

»Ich habe mich nicht umgebracht. Es sollte nur so aussehen. Ich habe …« Herrgott! Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich dachte, Kay würde mir sofort vertrauen. Wie soll ich ihm all das nur erklären? Er weiß ja noch nicht einmal, dass ich ohne Hilfe durch die Zeit springen kann. Ich muss ihm einen Beweis liefern, ihn davon überzeugen, dass ich die Frau bin, in die er sich verliebt hat. Etwas, das nur ich wissen kann. Vermutlich zumindest.

Kay ist am ganzen Körper angespannt. Er trägt noch immer das Fell als Poncho und seine Unterarme sind nackt. Jeder Muskel tritt deutlich sichtbar hervor.

»Die Tätowierung in deinem Gesicht hast du von einem Indianerstamm, der dich aufgenommen hat«, sage ich leise und strecke meine Hand aus, ohne den Blick von Kay zu wenden. Er soll in meinen Augen lesen können, wie sehr er mir vertrauen kann. »Dein Lieblingstier ist der Löwe, weil er so stark ist und anmutig und seine Familie immer beschützt.« Meine Finger berühren seinen Unterarm. »Du hast in der Hütte geglaubt, einen Tee zu trinken, und bist sofort eingeschlafen.« Ich streiche langsam über seine Haut, den Arm hinunter. Die Haare stellen sich auf, wo ich ihn berühre. »Aber das waren Kräuter, die mir bei etwas anderem helfen sollten. Doch dann habe ich sie benutzt, um dich zu betäuben, weil ich wusste, dass du sonst sterben wirst. Genau so, wie du es gesehen hast. An einem Lungendurchschuss.« Ich habe seine Hand erreicht und schließe meine darum.

Nach wie vor sieht Kay mich an, so wie ich ihn. Kein Blinzeln, kein Lächeln, kein Misstrauen mehr, nur Ungläubigkeit.

»Aber wie …?«, bringt er heraus.

»Ich kann durch die Zeit springen. Wann immer ich will.«

Kays Augen scheinen noch größer zu werden. Er presst die Kiefer zusammen und plötzlich schwimmen Tränen in seinen Augen. Das erste Mal erlebe ich ihn vollkommen fassungslos.

»Alison. Du …« Er schluckt. »Du lebst.«

»Genau das versuche ich dir die ganze Zeit zu …«

Noch bevor ich meinen Satz beenden kann, zieht Kay mich in seine Arme. Sein Griff ist so fest, dass ich mich kaum bewegen kann. Aber das will ich auch gar nicht. Mein Gesicht ist auf das Fell gedrückt, seine Hände pressen mich an seinen Körper, der unter lautem Schluchzen bebt. Kay drückt die Lippen auf mein Haar und nuschelt meinen Namen, wieder und wieder, und ich kann nur denken: endlich. Endlich, endlich, endlich!

Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart

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