Читать книгу Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart - Kim Kestner - Страница 7

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2.

Sommer 1999, Nähe Mill Valley

Meine Erinnerung trägt mich an meinen Zufluchtsort. Vielleicht bin ich in diesem Moment sicher, aber genauso sicher kann ich mir sein, die Ports erst recht auf mich aufmerksam gemacht zu haben. Falls sie wirklich systematisch alle Alisons ausschalten, die einen Marker tragen, habe ich mir mit meiner Aktion eben ein Leuchtschild umgehängt. Hallo, ich bin die richtige!, blinkt darauf. Obwohl, kann das überhaupt sein? Wieso ist Oscar derart überzeugt davon, dass ich die richtige bin, wenn es doch unzählige Alisons gibt?

Ich blicke zum Strand und meine, jemanden gesehen zu haben. Aber die Gestalt ist schon wieder weg, bevor ich sie erfassen kann. Vielleicht war ich es. Vielleicht bin ich nicht zum letzten Mal hier.

Plötzlich heult das Kind am Strand und bricht in Tränen aus. Wieso auch immer. Meine Mutter steht auf und geht mit schnellen Schritten hin.

Eigenartig. Ich entsinne mich nicht daran. Ich zucke mit den Achseln. Wahrscheinlich weil es unbedeutend ist oder zu lange her oder … Vielleicht hat mich auch meine Verzweiflung, meine Hilflosigkeit zu diesem Moment getragen wie ein weiterer Parameter zu den Bildern meiner Erinnerung. Womöglich spürte ich als Kind ähnliche Gefühle, weil … weil … meine Sandburg nicht gelang, so wie jetzt mein Plan nicht aufging.

Puh! Wie es aussieht, treffe ich nicht immer genau denselben Moment bei meinen Sprüngen, was gut ist, sonst würde ich unweigerlich auf noch mehr Versionen meiner Selbst stoßen und alles wäre noch komplizierter.

Auf der anderen Seite könnte diese Ungenauigkeit ein Risiko bedeuten. Im Augenblick jedoch ist nichts davon wichtig. Ich wüsste sowieso nicht, wohin oder in welche Zeit ich springen sollte oder warum überhaupt.

Einen Moment beobachte ich Mum dabei, wie sie das Kind hochnimmt. Mein Gott! Wie gelöst, wie jung sie aussieht. Nicht viel älter als ich. Ich kann sie kaum mit der Frau in Einklang bringen, deren Falten sich kummervoll verziehen, wenn sie sich wieder zur Nachtschicht schleppen muss. Und sosehr ich Mum vermisse, spüre ich jetzt, dass der Zauber dieses Ortes mit jedem meiner Besuche abnimmt. Wie bei einem Film, den man zu oft gesehen hat.

Ich gehe auf den Strand zu, jedoch weg von meinen Eltern. Ich weiß nicht, ob sie mir nachsehen, was sie über die magere Frau mit den verfilzten Haaren in verdreckter Kleidung denken, ob sie mich überhaupt registrieren. Ich weiß nur, dass mein Leben ein Trümmerhaufen ist. Voller zerstörter Möglichkeiten.

Meine Füße tragen mich ohne Ziel immer am Wasser entlang. Was habe ich nur getan? Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht. Kay hat den Speer in seiner Brust zwar überlebt, jedoch nur, um wieder Teil der Show zu werden. Der 31. Staffel von Top The Realities, die an Perversität nicht zu überbieten ist. Anscheinend reichte es den Zuschauern nicht mehr, Menschen um ihre Existenz kämpfen zu sehen, für Kay geht es einzig ums nackte Überleben. Während ich in der warmen Sonne Kaliforniens über den Strand laufe, ist er irgendwo, irgendwann mit zig anderen Kandidaten zusammen, denen nur ein Ziel vorgegeben wurde: Töte deine Mitspieler!

Kay wird gezwungen sein zu morden, um leben zu können. 2 Jahre wird diese Odyssee andauern und in jedem Moment davon ist er der Überzeugung, ich sei tot. Und warum? Weil ich ihn zum Teil meiner Inszenierung gemacht habe, die Ports glauben lassen wollte, ich könnte ohne Kay nicht weiterleben. Und jetzt liegt ein Stück Hasenfleisch auf dem Erdboden des 19. Jahrhunderts, über das sich irgendein Tier hermachen wird. Sie benötigen noch nicht mal eine DNA-Analyse, um zu wissen, dass es nicht meins ist. Ein Blick genügt, dann werden sie feststellen, dass kein Marker mit dem Fleischlappen verwebt ist. Alles umsonst.

Der Strand wird immer schmaler. Felsen ziehen sich bis zum Wasser und steigen nach und nach zu einer Steilküste an. Ich gehe weiter, über die vom Meer überspülten Steine, immer weiter bergauf, nur weil ich nicht stehen bleiben will, weil das Gefühl des Stillstands unerträglich wäre. Nichts tun zu können, ist fast so schrecklich, wie zu wissen, das Falsche getan zu haben. Vielleicht bin ich freier als jedes andere Individuum auf diesem Planeten, doch diese Freiheit bedeutet mir nichts, solange sie mich nicht zu meinem Ziel führt.

Bald greife ich nach den Wurzeln nur noch vereinzelt wachsender Büsche, um mich hochzuziehen, spüre den scharfkantigen Fels unter meinen Knien. Schweiß rinnt zwischen meinen Brüsten hindurch. Der raue Stoff der Kleidung, die ich seit Wochen trage, kratzt unangenehm und meine Haut fühlt sich wund an. Die Wahrheit ist: Ich bin so weit entfernt von einem freien Leben, wie ich es nur sein kann.

Als ich die höchste Stelle der Felsen erreicht habe, setze ich mich auf die Kante und blicke auf das Wasser. Der Himmel über mir ist wolkenlos und von einem derart intensiven Blau, dass er ohne Horizont mit dem Meer verschmilzt. Nur die glitzernde Wasseroberfläche verrät die Grenze zwischen Himmel und Ozean. Links von mir liegt eine Bucht, ein kleines Boot ankert davor, darüber kreisen Möwen, seichter Wind streift meine Haut.

Ich hasse es! Ich hasse Top The Realities! Ich hasse Wum Randy, der für mich die Verkörperung des Bösen ist, auch wenn ich weiß, dass Sam Oscar mindestens genauso viel Schuld an meinem Unglück trägt. Er hat dieser Show zugestimmt, um die Auswirkungen der Zeitreisen durch Kay und mich erproben zu lassen. Wir sind nicht mehr und nicht weniger als seine Versuchskaninchen.

Voller Bitterkeit verziehe ich den Mund. Plötzlich laufen Tränen über mein Gesicht. Ich lasse sie laufen. Wer sollte sie auch sehen? Ich weine und weine und weine. Mit jedem Tropfen weicht mein Hass, bis nur noch Hilflosigkeit bleibt. Was nur soll ich jetzt tun? Zu meiner Familie zurückkehren? Zu Kay? Dass er nur einen Wimpernschlag von mir entfernt ist, ich lediglich an den Moment denken müsste, da ich ihn im Wald des Jahres 1852 zurückgelassen habe, macht alles noch schwerer.

Doch spätestens jetzt, nachdem mein grandioser Plan gescheitert ist, gebe ich Sam Oscar recht: Die Ports werden auf mich warten. Bei mir zu Hause, überall dort, wo ich Kay finden könnte. Erst recht dort, wo unsere gemeinsame Vergangenheit endete und eine Zukunft möglich wäre. Und zwar als ich ihn betäubt zurückließ, um ihn zu retten. Dort hinzuspringen, wäre wirklich wie Selbstmord.

Eine Zeit lang stiere ich auf den Ozean, dann werfe ich kleine Felsbröckchen ins Meer, wobei ich die Ringe beobachte, die immer größere Kreise ziehen. Kay hat sie einmal mit Zeitreisen verglichen: Die kleinste Änderung würde immer größere Auswirkungen nach sich ziehen, meinte er, je weiter in der Vergangenheit wir in die Geschichte eingreifen. Inzwischen weiß ich, dass er damit unrecht hatte.

Ob meine jungen Eltern mich vorhin gesehen haben oder nicht, spielt keine Rolle. Falls sie mich bemerkt haben und sich ihr Leben dadurch verändert, ist das nur eine von unzähligen Varianten, die alle parallel zueinander existieren. Für mich ist es gleichgültig, ob ich die Zukunft durch mein Verhalten verändere. Sollte ich jemals nach Hause zurückkehren, wird die Schwierigkeit sein, das richtige Zuhause, die richtige Realität zu finden. Die Realität, die mit meinen Erinnerungen übereinstimmt. Die, in der keine zweite Alison existiert.

Die Ringe verschmelzen mit den seichten Wellen des Ozeans und ich schiebe meine Gedanken zur Seite. Stattdessen versuche ich, eine Plastikflasche mit Steinen zu treffen, die sich in einem Strauch verfangen hat, und denke an Mum und Dad und Jeremy, an Zeiten, in denen alles in Ordnung war.

Irgendwann tue ich gar nichts mehr, außer an Kay zu denken. Ich wäge alle Risiken gegen mögliche Chancen ab. Immer wieder. Und wieder. Und als die Sonne untergeht, ist mir klar, dass ich genau zwei Möglichkeiten habe.

Erstens, ich kann mich verstecken, irgendwo in den Wäldern unterkriechen, immer wieder die Zeit und den Ort wechseln, weiterziehen, auf der Flucht sein.

Ich merke, dass dieser Gedanke für mich nicht so erschreckend ist, wie ich es erwartet habe. Die letzten Jahre habe ich mich darauf vorbereitet. Aber wie lange kann ich so existieren? Wann werde ich eine Infektion bekommen, die sich nicht mit Johanniskraut oder sonst einer Pflanze heilen lässt? Werde ich in ein Krankenhaus gehen können? Würden die Ports es wissen, wenn meine Daten in irgendeinem System erfasst werden?

Himmel! Ich besitze ja noch nicht einmal eine Identität. Keinerlei Papiere, die meine Existenz belegen. Es bliebe, in eine Zeit zurückzukehren, in der solche Formalitäten keine Rolle spielen, aber da kämen einzig die Jahre 1852 und 1853 infrage. Denn bisher kann ich nur zuverlässig an Orte und in Zeiten springen, die ich schon einmal besucht habe. Aber nichts zieht mich mehr in den Wilden Westen. Und trotzdem. Ein Leben in den Wäldern wäre die sicherste und unauffälligste Möglichkeit.

Die Alternative dazu ist so unfassbar egoistisch und gefährlich, dass ich sie eigentlich nicht mal in Erwägung ziehen dürfte. Aber mein dummes Herz überschlägt sich geradezu bei dem Gedanken, Kay wiederzusehen. Und während sich der Himmel in kitschigem Rosarot färbt, überlege ich, wie es gelingen könnte. Es müsste der Moment sein, da Kay betäubt neben dem Bären liegt, der ältesten Version von ihm. Sollte ich gleich beim ersten Versuch den richtigen Augenblick treffen, könnte ich Kays Hand nehmen und ihn mit mir in eine andere Zeit reißen, so wie Sam Oscar es mit mir getan hat, als er mir die Zukunft zeigte.

Inzwischen ist es mir unbegreiflich, wie diese Zukunft möglich sein soll. Darüber nachzugrübeln, überfordert mich restlos. Ich habe seit mehreren Tagen nichts gegessen, und mich zu konzentrieren, fällt mir ohnehin verdammt schwer. Entbehrungen bin ich gewohnt, aber inzwischen scheint in meinem Gehirn nur noch Matsch zu sein. Ich brauche jedoch nicht viel Verstand, um zu wissen, wie gefährlich diese Alternative wäre. Kay zu sehen, bedeutet, von den Ports niedergeschlagen zu werden, wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, noch bevor ich Kays Hand greifen kann, denn anders als zuvor werden sie mein Erscheinen erwarten.

Wieso nur kann ich nicht zu einem Augenblick zurückspringen, da ich mir sicher bin, dass niemand auf mich wartet, um mich zu töten? An den Anfang unserer Geschichte, den ersten Moment unserer Begegnung, oder nur ein paar Tage zurück, als Kay und ich in der Hütte am Feuer saßen und er mich eine Löwin nannte?

Voller Bitterkeit zerrupfe ich eine einsame Blume, die eben noch gelb neben mir blühte, und zerreibe sie zwischen meinen Fingern zu Brei. Wenn es nur nicht unsere Vergangenheit beeinflussen würde … Kay könnte nicht mein Scout werden, ich nie seiner, wenn ich in die Geschichte vor unserer letzten Begegnung eingreifen würde. Es muss danach sein und das wissen die Drahtzieher der Zukunft. Sam Oscar hatte recht: Die Ports werden ab der Sekunde, da ich Kay neben dem toten Bären zurückließ, jeden Augenblick überwachen. Aber sollte es mir trotzdem gelingen, sollte ich wirklich schneller als die Ports sein und fähig, Kay mit mir zu reißen, könnten wir gemeinsam in der Wildnis leben, zumindest solange der Störsender funktioniert.

Ich streiche mit der Fingerspitze über die glatte Oberfläche des silbernen Reifs. Bislang hat er mich vor den Unmenschen der Zukunft und ihren kranken Technologien abgeschirmt. Irgendwann wird der Sender womöglich kaputtgehen oder einfach ausfallen. Aber dann bräuchte ich mir ohnehin keine Gedanken mehr über eine Zukunft zu machen. Im selben Augenblick wären die Ports bei uns und sie könnten jedem unserer Sprünge folgen.

Ich ziehe die Beine dicht an meinen Körper und seufze tief. Ich will die Entscheidung nicht mehr aufschieben. Mir fehlt einfach die Kraft, weiter im Ungewissen zu leben, ohne Ziel und voller Zweifel. Ich muss meine Wahl treffen: ein Leben allein oder Sterben zu zweit. Nicht im schlimmsten, sondern im wahrscheinlichsten Fall ist genau das die Alternative.

Noch einmal blicke ich auf das Meer. Nur noch ein schmaler rosa Streifen ist am Horizont zu sehen. Gleich ist es dunkel und ich weiß nicht, ob das Mondlicht kraftvoll genug sein wird, mich sicher die Felsen hinunterzugeleiten, zurück in den Kiefernwald, zu dem Schotterparkplatz, über die Straße, zu dem entwurzelten Baum, unter dem ich die Nacht verbringen werde, bevor ich morgen früh mein neues Leben allein in der Wildnis beginne.

Die Luft scheint mit jedem meiner Schritte kälter zu werden. Und obwohl ich glaube, mit dieser Entscheidung leben zu können, fühle ich mich unendlich einsam. So schrecklich, schrecklich allein. Unwillkürlich male ich mir aus, wie es sein könnte, wenn ich mich doch für die zweite Variante entscheide, nur um ein wenig Wärme im Herzen zu spüren.

Ich sehe Kay betäubt auf dem Waldboden liegen, gleich neben ihm der tote Bär, dessen blutverschmierter Schädel vom Tomahawk gespalten ist.

Noch über die Steine und dann bin ich wieder auf dem Strand.

Kays weiches Haar. Es schimmert wie dunkle Bronze. Bei keinem anderen habe ich je eine solch wunderbare Farbe gesehen.

Weiße Schaumkronen hüpfen auf dem dunklen Wasser. Meine Füße sinken leicht im Sand ein.

Sein Geruch. Wie ein Kiefernwald nach einem Regenschauer.

Die Nacht bricht an. Aber der weiße Sand leuchtet im Mondlicht und führt mich zuverlässig am Wasser entlang.

Es müsste der Augenblick sein, da ich Kay verließ, um nach dem Jungen zu suchen. Allein bei der Erinnerung daran, Kay ohne Botschaft zurückgelassen zu haben, wird es eng in meiner Brust. Noch jetzt spüre ich meine Lippen auf seiner Stirn, bevor ich endgültig ging, meinen Schmerz und meine Angst, allein zu sein, wie–

Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart

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