Читать книгу Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart - Kim Kestner - Страница 6

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1.

Mitte Januar 1853, Kalifornien

Die kalte Nachtluft wirkt wie ein Kübel Wasser, der mich aus einem wunderbaren Traum reißt. Eben noch habe ich einen Blick in die Zukunft geworfen. In meine Zukunft. Es hätte auch die einer anderen Alison sein können, die ich habe heiraten sehen, eine aus den unendlich vielen parallel existierenden Realitäten. Aber so war es nicht. Die Braut, mein älteres Ich, zwinkerte mir zu, kurz bevor Sam Oscar mich wieder in die Vergangenheit riss. Sie wusste von meinem Erscheinen, da es Teil ihrer Erinnerungen war. Sie und ich sind dieselbe Person, was bedeutet: Ich werde Kay heiraten!

Nichts anderes zählt mehr.

Sam Oscar lässt meine Hand los und wendet sich mir zu. Seine dunkle Silhouette kann ich in der sternenlosen Nacht nur erahnen.

»Ist das eine Perspektive für dich? Grund genug zu kämpfen?«, fragt er. Seine Stimme zittert leicht.

»Sie meinen, wieder in die Geschichte einzugreifen?«

»Ich meine, Zeitreisen an sich zu verhindern, damit sich Top The Realities nicht derart menschenverachtend entwickeln wird und niemand sterben muss, um den Unterhaltungswert der Show zu steigern. Dieser ganze Rattenschwanz muss an seiner Wurzel abgetrennt werden. Nur dann kann es auch eine Zukunft für dich, für euch, geben. Verstehst du, Alison?«

Ich schüttle schweigend den Kopf, bis mir klar wird, Sam Oscar kann meine stumme Antwort in der Dunkelheit nicht sehen. »Das alles hier ist nicht mehr mein Problem. Sie haben es selbst gesagt, oder? Ich bin frei.«

»Nur weil du durch die Zeit springen kannst, bedeutet das nicht, dass du frei bist«, antwortet Oscar.

»Du kannst dir sicher sein, dass sie, die Ports –«

»Ports?«

»So werden die Männer genannt, die dich verfolgt haben. Eine aus dem Boden gestampfte Söldnertruppe. Ich habe am Rande mitbekommen, wie die Regierung meiner Zeit massenhaft Männer anwarb. Vom Militär, der Polizei, sogar von privaten Wachdiensten. Ein überaus gut bezahlter Job. Was Zeitreisen betrifft, dürften sie jedoch nur eine mangelhafte und sehr kurze Ausbildung genossen haben. Trotzdem, jeder von ihnen weiß, wie man tötet. Und das werden sie. Dich jagen und töten, so ungern ich es sage.« Oscar berührt meine Schulter, drückt sie leicht. »Alison. Du musst bald handeln. Sehr bald. Überrasche sie. Tue nichts, was sie erwarten könnten.«

Ich wende mich ab. Ich kann Oscars Gerede über meinen einsamen Kampf gegen eine Übermacht aus der Zukunft nicht mehr hören und versuche auch nicht mehr zu verstehen, wieso ich tun sollte, was er mir prophezeit. Denn so wird es nicht kommen. Es liegt in meiner Hand. Wenn ich die richtigen Entscheidungen treffe, löst sich das, was er zu wissen meint, für mich auf.

Einfacher gesagt: Ich werde niemals versuchen, Zeitreisen zu verhindern! Es gibt immer eine Alternative. Meine Alternative ist der Freitod. Natürlich werde ich mich nicht wirklich umbringen. Ich bin kaum in der Lage, mich selbst zu verletzen – obwohl ich es schon musste –, aber niemals würde ich mir tatsächlich das Leben nehmen. Die Ports, Top The Realities, Wum Randy und alle anderen werde ich allerdings glauben lassen, dass ich Suizid begehe. Es wird vor ihren Augen geschehen.

Meine Show wird ihre bei Weitem toppen und wenn sie mich tot glauben, werden sie keinen Grund mehr haben, mich zu verfolgen. Der Störsender an meinem Handgelenk verschleiert das Signal meines Markers. Niemand wird feststellen können, ob ich noch lebe.

Wenn mein Plan gelingt, kann ich mich endlich, endlich zu Kay portieren und dann werden wir unsere Zukunft neu schreiben. Und mein Plan wird gelingen! Denn anders ist es nicht zu erklären, dass ich uns habe heiraten sehen. Meine Familie und Freunde waren dabei. Niemand wirkte so, als drohe Gefahr. Wir alle sahen gelöst und glücklich aus.

Ich seufze bei dem Gedanken an das, was ich vorhabe. Es bedeutet ein großes Opfer. Nicht für mich, sondern für Kay, der mit dem Glauben an meinen Tod weiterleben muss. In diesem Fall wird sich eine Vorsehung erfüllen. Mein Tod ist bereits Teil seiner Vergangenheit. Er steht quasi fest. Kay hat mir vor über 2 Jahren erzählt, er habe mich sterben sehen. Ich hätte mir vor seinen Augen den Marker herausgeschnitten, was mich das Leben gekostet hat.

Und genau so wird es geschehen.

Ich werde einige Stunden zurückspringen, linear gesehen, zurück auf den Hügel, zu unserer Hütte, genau in den Moment, da unzählige Ports mich umbringen wollten. Diese Arbeit werde ich ihnen jetzt abnehmen. Doch damit es wirklich glaubhaft ist, muss ich es in Kays Nähe tun.

Dazu werde ich den Moment wählen, da er im Sterben lag. Blutüberströmt auf der Wiese, einen Speer in seiner Brust, kaum noch bei Sinnen. Ich werde den Ports weismachen, ich könnte ohne Kay nicht mehr leben, und das Messer an meinen Marker setzen. Tatsächlich aber werde ich eine mit Blut gefüllte Tierblase zerstechen und gleichzeitig ein sehniges Stück Fleisch des Tieres lösen, sodass es so wirken wird, als sei es ein Teil von mir. Genau der Teil, mit dem der Marker verwoben ist. Im gleichen Augenblick werde ich mich von dort wegportieren. Mich in Luft auflösen, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass der tote Körper eines Zeitreisenden in seine Realität und ursprüngliche Gegenwart zurückkehrt.

Ziemlich sicher. Aber nicht hundertprozentig. Vielleicht bringt der Marker ihn auch in die Zukunft zurück. Dann wüssten sie sofort, dass ich nicht tot bin. Es ist die einzige Schwachstelle in meinem Plan. Aber die werde ich auch noch ausmerzen. Um wirklich Gewissheit zu haben, werde ich Sam Oscar nach diesem Detail fragen müssen, ohne dass er Verdacht schöpft. Und dann werde ich endlich frei sein! Wirklich frei.

Kay jedoch wird einen hohen Preis für diese Freiheit zahlen. Er wird, kurz nachdem ich letztmalig den Hügel voller Ports verlassen habe, zurück in die Zukunft portiert und medizinisch versorgt werden, nur um gleich darauf Teil der 31. Staffel von Top The Realities zu werden. 2 Jahre lang. All die Zeit wird er überzeugt sein, ich sei tot. Für mich hingegen werden nur Sekunden vergehen, bis ich ihn nach diesem Martyrium aufsuchen und die erlösenden Worte sagen kann: »Ich bin hier. Ich lebe.«

Von Oscars Antwort hängt alles ab. Ich drehe mich um und suche in der Finsternis nach ihm. »Mr Oscar?«

»Also, was ist dein Plan? Wie wirst du Zeitreisen verhindern?« Die Stimme kommt aus der Richtung des umgekippten Baumstamms. Ich folge ihr.

»Würde das Wissen um das Wie und Was das Resultat verändern?«, frage ich, während meine Füße sich vortasten.

Sam Oscar lacht leise. »Du schlägst mich mit meinen eigenen Worten.«

Mein Zeh stößt gegen den Stamm. Ich suche mit der Hand nach ihm und setze mich neben Oscar. Mir ist kalt. Wind zieht auf, verfängt sich rauschend in den Baumkronen und erste Regentropfen streifen meine Haut. Es wird Zeit, die Frage zu stellen.

»Eine Sache verstehe ich noch nicht«, sage ich unvermittelt, so als sei es mir gerade erst eingefallen. Oscar soll auf keinen Fall merken, wie wichtig mir diese Information ist.

»So? Nur eine?«

»Bei meinem zweiten selbst gesteuerten Zeitsprung habe ich mich in die Zukunft portiert. Nur eine Woche vielleicht und da habe ich gesehen, wie Kay starb.«

»Und du hast ihm das Leben gerettet, vielmehr eine Variante geschaffen, in der er lebt.«

»Ja, aber darum geht es nicht. Es ist … es war irgendwie merkwürdig. In den letzten Sekunden, bevor ich zurückgezogen wurde, da war er plötzlich weg. Sein toter Körper, meine ich.« Eine direkte Frage vermeide ich. Sie wäre zu auffällig.

»Nun«, meint Oscar und ich ahne, dass er eine ausladende Geste macht. »Mit dem Hirntod stirbt auch die neurale Verbindung zu dem Marker, wenn ich es so salopp ausdrücken darf. In diesem Augenblick kehrt der Leichnam in seine ursprüngliche Zeit und Realität zurück. Ein ernsthaftes Problem, das wir zugegebenermaßen noch nicht gelöst haben. Der Marker zerfällt zwar wenig später durch den biochemischen Verwesungsprozess, aber die Gefahr, dass unvermittelt eine Leiche auftaucht und der Marker während einer Obduktion beispielsweise studiert werden kann, besteht. Wir haben – Herrgott! Ich vergesse immer wieder, dass mich diese Dinge nichts mehr angehen.« Er seufzt hörbar. »Die Wissenschaft ist das Einzige, was mir fehlt, weißt du? Manchmal juckt es mich, hier und da einzugreifen, die Entwicklung ein wenig voranzutreiben.«

Ich antworte nicht. Oscars Sehnsüchte sind mir gleichgültig. Der Regen wird plötzlich stärker. Wasser läuft mir in den Nacken, aber ich bin nur noch eine Frage weit davon entfernt, diesen Ort zu verlassen. Es führt kein Weg daran vorbei, sie direkt zu stellen, und ich kann nur hoffen, dass Oscar erst begreift, was ich vorhabe, nachdem er geantwortet hat. Ich versuche, meiner Stimme etwas Beiläufiges zu verleihen, innerlich jedoch zittere ich so sehr, dass ich sicher bin, er wird merken, welchen ungeheuerlichen Plan ich mir zurechtgelegt habe.

»Ist es auch umgekehrt so? Stirbt auch das Hirn, wenn der Marker zerstört wird?« Mein Atem geht jetzt schneller. Zum Glück übertönt der Wind meine hörbare Aufregung.

»Na ja, so leicht lässt sich ein Marker nicht zerstören«, erklärt Oscar ohne Argwohn. »Man müsste ihn geradezu herausschneiden oder gleich die ganze Hand abtrennen. Eine grausige Vorstellung, ich weiß, aber theoretisch wäre es so. Es käme dann zu einer Art Kurzschluss. Die Synapsen würden regelrecht durchbrennen. Man kann sich das folgendermaßen vorstel… Moment mal, wieso fragst … Alison? Nein! Du darfst nicht …«

Oscar greift nach meiner Hand, aber es ist zu spät. Die Bilder in meinem Kopf sind schon entstanden: das Messer, wie es aus meiner Hand gleitet, der Metallstab, die Waffe der Ports, die meinen Nacken streift, mein Körper, der daraufhin willenlos zusammensackt. Und jetzt genügt mein Entschluss, um mich wieder in die Vergangenheit zu tragen. Mitten aufs Schlachtfeld. »Danke«, sage ich schnell, einen Wimpernschlag später ist es taghell.

Kurz wundere ich mich darüber, dass es funktioniert hat, ich wieder portiert bin, ohne meine Arme zu kreuzen, einfach nur durch meinen Willen. Es war genauso leicht, wie die Hand zu heben, um sich an der Nase zu kratzen.

Doch noch bevor ich ergründen kann, wieso es mir gelungen ist, höre ich direkt hinter mir einen wütenden Schrei. Ich springe zur Seite. Eine andere Alison jagt schwer atmend an mir vorbei, brüllt: »Hey, ihr Arschlöcher! Ich bin hier!«

Fünf Ports setzen ihr nach. Sie sind alle gleich gekleidet: schwarzer Anorak, schwarze Hose, schwarze Armeestiefel, die das Gras unter ihren Füßen niedertrampeln. Ich stehe auf halber Höhe den Hügel hoch, ziemlich genau zwischen dem höchsten Punkt und der Rundhütte, die im Tal unter einer Baumgruppe steht. Es regnet und überall sind Ports.

Erst wenige Sekunden müssen vergangen sein. Noch habe ich nicht gefunden, was ich suche, und schon steuern die ersten Söldner auf mich zu. Ich achte nicht auf ihre Gesichter oder ihre Bewaffnung, sondern suche hektisch den matschigen Boden nach dem Messer ab. Regen verfängt sich in meinen Wimpern. Mit dem Handrücken wische ich ihn weg, drehe mich im Kreis. Das Stampfen der Stiefel ist von überall her zu hören und wird immer lauter. Es klingt bedrohlich, so als käme eine Horde Büffel auf mich zu.

Als ich aufsehe, ist ein Port nur noch zehn, vielleicht zwanzig Meter weit weg. Mit angewinkelten Armen stürmt er den Hügel hinauf. Anscheinend spürt er keine Anstrengung.

Verdammt! Das Messer müsste hier sein. Ich weiß, ich habe es an dieser Stelle fallen lassen. Ich weiß es!

Ich wirble um meine eigene Achse. Um mich herum tauchen immer mehr Versionen meiner selbst auf, die laut schreiend in alle Richtungen rennen. Sie ploppen auf und verschwinden wieder wie zerplatzende Seifenblasen. Ihnen bleiben ja nur 90 Sekunden. Bald, sehr bald, werde ich die einzige Alison auf diesem Hügel sein und dann werden die Ports mich überrennen.

Plötzlich entdecke ich Kay. Er liegt nur wenige Meter entfernt von mir, mit dem Speer in seiner Brust. Seine Augen sind halb geöffnet. Schwarz gekleidete Beine springen über seinen blutüberströmten Körper, streifen den Speer. Kay stöhnt so laut auf, dass ich selbst das Gefühl habe, ein Speer stecke in meiner Brust. Alles in mir schreit danach, die Vergangenheit zu ändern, Kay zu retten, ihn mit mir an einen sicheren Ort zu reißen. Aber die Geschichte muss sich erfüllen, damit mein Plan gelingt! Die Ports müssen überzeugt sein, ich nehme mir wegen Kays scheinbar unausweichlichem Tod das Leben!

Entschlossen balle ich die Hände zu Fäusten und suche Meter für Meter den Hügel ab. Wo verdammt ist das Messer?

Gleich wird mich der erste Port erreichen. Mir bleiben nur noch wenige Sekunden, bevor ich gezwungen bin zu springen, denn wenn sie mich erwischen, ist es aus. Plötzlich überkommt mich eine Scheißangst. Ich atme furchtbar schnell, mir wird schwindelig und ich beginne, fahrig zu werden: Ich renne, rutsche aus, rapple mich auf, stolpere weiter, schlittere einige Meter den Hang hinunter, direkt auf einen weiteren Port zu. Unsere Blicke treffen sich. Seine Augen sind emotionslos.

Ich muss hier weg! Denn überleben werde ich nur, wenn ich flüchte, in eine andere Zeit springe. Aber ich brauche das verfluchte Messer! Ich kann es mir nur von hier holen. In einer anderen Zeit meiner Vergangenheit ist das Messer für meine frühere Version nämlich genauso unverzichtbar.

Ohne meinen Willen entstehen Bilder in meinem Kopf: der Strand, das spielende Kind. Ich bin schon mal dort gewesen. Eine Kindheitserinnerung, mein Fluchtort. Schnell!

Ich schließe die Augen, atme tief ein. Ich kann es wieder versuchen. Hundertmal, wenn es sein muss.

Los! Weg hier! Jetzt!

Doch die Luft wird jäh aus meinen Lungen gepresst. Heftiger Schmerz tritt an die Stelle der Bilder, die mich retten sollten. Etwas hat mich mit ungebremster Wucht im Rücken getroffen. Ich reiße die Augen auf, fahre herum. Ein Port steht hinter mir, holt den Metallstab aus seinem Anorak.

Ich war zu langsam. Oh Gott! Gleich werde ich mich nicht mehr bewegen können. Jeder Muskel meines Körpers wird wie gelähmt sein. Heftig schüttle ich den Kopf. Sehr sinnig. Als ob ihn das abhalten würde.

Wie in Zeitlupe sehe ich den Stab näher kommen, lasse mich fallen, um nur eine Sekunde mehr in diesem Leben zu haben. Mein Arm landet zuerst im Matsch, dann schlägt der Kopf auf und ich sehe noch weitere Stiefel, die auf mich zurennen.

Ich habe mich überschätzt. Meine Fähigkeiten.

Hochmut kommt vor dem Fall, denke ich noch, und lache auf. Wie bildlich. Zumindest liege ich schon und werde nicht durch meine erschlafften Muskeln niedergezwungen.

Doch der Schlag kommt nicht. Stattdessen fällt ein Messer auf den Boden. Mein Messer. Eine Armlänge entfernt liegt es auf der regendurchtränkten Erde. Ich greife danach. Meine Hände umschließen den Hirschhorngriff, noch bevor ich hochblicke.

Da stehe ich, mein um Stunden jüngeres Ich. Vollkommen entkräftet. Sie nimmt mich nicht wahr. Auch den Stab nicht, der mich treffen sollte. Ihr Körper sackt neben mir in sich zusammen. Der Kopf schlägt wie meiner auf die Erde, aber ihrer kippt willenlos zur Seite.

Ich sehe ihr Gesicht nicht, nur ihr Haar, dunkel und verfilzt, und aus den Augenwinkeln einen Regenbogen, der sich über das Meer bis zu einem mächtigen Mammutbaum in der Ferne spannt.

Die Bilder meines Fluchtorts drängen sich geradezu in meinen Geist zurück und dann umfängt mich Wärme.

Das war verflucht knapp!

Ich ziehe scharf die Luft ein. Sie riecht nach Kiefern, mein Arm liegt jetzt in heißem Sand, in der Hand jedoch halte ich immer noch das Messer. Wahnsinn! Ich habe mehr Glück als Verstand gehabt.

Ächzend setze ich mich auf. Der Stoß in meinem Rücken war heftig. Ein stechender Schmerz zieht von meinem Schulterblatt bis in meine Waden und ich unterdrücke ein Stöhnen, während ich umständlich auf die Füße komme.

Gut 100 Meter entfernt spielt ein Kind am Wasser. Ich weiß, dass ich es bin, im Alter von drei oder vier Jahren. Die Erinnerung an diesen Moment hat mich hierhingetragen. Meine jungen Eltern liegen im Schatten einer Kiefer und beobachten ihr Kind. Wie friedlich es hier ist!

Einen Augenblick kämpfe ich mit dem heftigen Bedürfnis, zu ihnen zu gehen, sie zu umarmen. Aber was sollte ich ihnen sagen? Hallo, ich bin eure Tochter, 19 Jahre alt und durch die Zeit gesprungen, weil eine Söldnerarmee aus der Zukunft mich umbringen will?

Nein, es ist besser, sie bemerken mich nicht. Außerdem wird jeden Moment ein weiteres Ich hier auftauchen. Denn erst gestern war ich hier, linear gesehen, um den Ports zu entkommen, Zeit zu schinden. Da waren meine Sprünge noch auf exakt 90 Sekunden begrenzt. Dann hat mich eine unsichtbare Macht zurückgezogen und ich musste weiterkämpfen. Rennen und schreien und kämpfen, bis ich nicht mehr konnte, das Messer fallen ließ und einer der Ports meinen Nacken mit dem Stab berührte, der alle Muskeln erschlaffen lässt. Ich sank auf die Erde, sah den Regenbogen, den Mammutbaum an seinem Ende und schaffte es mit der Kraft der Verzweiflung, mich dahin zu portieren.

Dass Sam Oscar wirklich dort auf mich gewartet hat, kann nur bedeuten, er muss den Regenbogen aus meiner Warte gesehen haben. Irgendwo zwischen den Hunderten von Ports muss er zumindest einige Sekunden verharrt haben, um meinem um Wochen jüngeren Ich diese Information geben zu können. Er hätte mich auch einfach an der Hand nehmen, mich und Kay vom Schlachtfeld in eine andere Zeit ziehen können. Aber er will, dass ich leide, all diese schrecklichen Erfahrungen mache, damit ich seine Prophezeiung erfülle. Ich soll eine einsame Kämpferin werden, seine Kämpferin, die diesem grausamen Spiel ein Ende setzt.

Ich beschließe, nicht mehr über Oscar nachzudenken. Ohnehin werde ich ihn nie wiedersehen. Zumindest nicht, wenn mir der nächste Schritt gelingt. Ich muss ein geeignetes Tier erlegen, damit ich mit dessen Blut und Fleisch meinen Tod glaubhaft vortäuschen kann.

Das Messer und meine mit Matsch verdreckten Hände versuche ich an meiner Hose abzuwischen. Sinnlos. Sie ist genauso dreckig wie der Rest und schon steif von getrocknetem Schlamm. Ich werfe noch einen Blick auf das spielende Kind, dann drehe ich mich um und gehe tiefer in den Kiefernwald hinein. Niemand hat mich bemerkt und so soll es auch bleiben.

Den nächsten Schritt muss ich besser vorbereiten. Er dürfte nicht weniger gefährlich werden und die Inszenierung meines Selbstmords muss die Ports überzeugen. Ich darf keinen Fehler machen, denn einen zweiten Versuch werden sie mir nicht abnehmen.

Mit jedem Schritt spüre ich meine Erschöpfung ein Stück mehr. Wie lange habe ich schon nicht mehr geschlafen? 30 oder 40 Stunden? Ich weiß es nicht. Der ständige Wechsel zwischen Tag und Nacht bringt meine innere Uhr vollkommen durcheinander. Jetzt müsste es Mittag sein, die Sonne steht im Zenit und wirft ihre wärmenden Strahlen auf den mit Kiefernnadeln übersäten Boden. Wahrscheinlich wäre es vernünftig, einige Stunden zu schlafen. Aber ich bin mir sicher, dazu nicht in der Lage zu sein. Mein Herz schlägt auch jetzt noch viel zu schnell, um Ruhe zu finden.

Bald höre ich das Meer nicht mehr und kurze Zeit später treffe ich auf einen Schotterparkplatz. Ein Pick-up steht einsam dort. Dads Pick-up. Wie von einem Magneten angezogen, gehe ich darauf zu. Ich kann nicht anders. Ich muss ihn berühren.

Meine Finger streifen über das warme Blech, den senfgelben Lack, der in der Sonne glitzert. Der Wagen wirkt nagelneu. In einigen Jahren wird er voller Beulen und Rost sein. Ich schätze, Dad hat ihn gerade erst gekauft. Richtig, es war kurz nachdem sein Vater, mein Opa, starb … 1999, also.

So nah war ich meinem Zuhause seit Wochen nicht mehr und plötzlich wird mir bewusst, dass mein Elternhaus nur wenige Kilometer entfernt steht. Ich bin ganz in der Nähe von Mill Valley! Nur 2, vielleicht 3 Stunden zu Fuß entfernt von meinem Zimmer, den wiegenden Kronen der Mammutbäume, dem Gefühl von Frieden und Geborgenheit, dem Geruch von Sägespänen, der immer in der Luft liegt, wenn Dad in seinem Schuppen arbeitet.

Diese Erkenntnis raubt mir mehr Kraft als die vergangenen 40 Stunden und auf einmal fühlen sich meine Beine bleischwer an. Ich darf nicht länger hierbleiben. Sonst schaffe ich es nicht mehr, mich von diesem Ort zu lösen.

Ich reibe mir übers Gesicht, bis bunte Flecken vor meinen Augen tanzen, dann drehe ich mich um und überquere den Parkplatz, ohne nochmals zurückzublicken. Ich will nichts mehr fühlen, mich nicht mehr sehnen, und konzentriere mich ganz auf mein Ziel: die Jagd.

Nach wenigen Metern trennt eine schnurgerade Asphaltstraße die licht stehenden Kiefern von einem dicht bewachsenen Tannenwald. Ein einsamer Wagen rauscht vorbei, dann husche ich ungesehen auf die andere Seite.

Zwischen den hohen Tannen ist es merklich kühler. Moos überzieht flache Steine und überall wuchert Farn. Beides spricht für Feuchtigkeit. Es dürfte also nicht schwer sein, eine Wasserquelle zu finden.

Immer weiter folge ich den Zeichen der Natur: dichter werdenden Gräsern, Sumpfdotterblumen, Schilfgras, Wasserlilien, die mich nach einer gefühlten Stunde tatsächlich zu einem Bach führen. Er ist weder breit noch tief und beinahe ausgetrocknet. Aber wo auch nur ein Rest Wasser ist, sind auch Tiere. Vor allem im Hochsommer.

Jetzt, da ich es sehe, spüre auch ich meinen Durst. Ich habe schon eine Ewigkeit nichts mehr getrunken und bei meinem Kampf gegen die Ports jede Menge Flüssigkeit verloren. Ich schlucke trocken. In meinem Mund sammelt sich kaum noch Speichel.

Kurz entschlossen knie ich mich auf das feuchte Moos und schöpfe Wasser aus dem Bach in meinen Mund. Es ist warm und braun und ich weiß, ich sollte es abkochen, aber falls es mich krank macht, werde ich es frühestens in einem Tag merken und dann werde ich entweder frei oder ohnehin tot sein.

Als ich meine, keinen Tropfen mehr trinken zu können, suche ich mir einen armdicken Ast, schäle mit dem Messer erst die Rinde ab und schnitze danach so lange, bis er fast wie ein Riesenlöffel aussieht. Dann beginne ich zu graben. Ich werde drei Fallen bauen: eine Steinfalle, eine Schlinge und eine Grubenfalle. Vor allem Letztere ist verdammt mühselig und ich fürchte, es wird mich den Rest des Tages kosten. Dann muss ich auch noch Köder finden.

Also gönne ich mir keine Pause, kratze, scharre und schaufle Erde und Steine aus, bis mein Arm schmerzt. Irgendwann stelle ich fest, dass es kühler geworden ist und die Tannen zunehmend längere Schatten werfen, und als sich das Wasser im Bach rot unter der Abendsonne färbt, bin ich endlich fertig.

Die Grube ist so lang und tief wie mein Arm, bedeckt mit Schilfgras, ein nützliches Gewächs, aus dessen Fasern ich Seile für die anderen Fallen geflochten habe. Die Arbeit hilft mir, nicht über das Bevorstehende nachzudenken.

Ich stehe auf, strecke meine Glieder und blicke mich um. Ich weiß, wo ich nach einfachen Ködern suchen muss. Nach kurzer Zeit habe ich unter loser Borke sieben fette Käferlarven gefunden, breche sie auf und spicke zwei meiner Fallen damit. Mit der Schlinge hoffe ich, einen Hasen zu fangen.

Gut. Jetzt muss ich nur noch warten.

Damit mein Geruch die Tiere des Waldes nicht verschreckt, entferne ich mich von den Fallen und rolle mich in der Grube eines entwurzelten Baumes zusammen. Schon bald bricht die Dunkelheit herein. Zum Glück ist es trocken und die Erde warm.

Jetzt, da ich nichts mehr zu tun habe, bin ich unendlich müde. Ich gähne laut. Jeder Zentimeter meines Körpers fühlt sich geschunden an. Egal. Mein Magen knurrt. Gleichgültig. Mein Geist ist so erschöpft, dass ich zu denken kaum noch in der Lage bin. Unwesentlich.

Von irgendwoher ruft eine Eule in die Finsternis. Ein tröstlicher Laut. Ich schließe die Augen und hoffe auf eine erholsame Nacht.

Plötzlich schrecke ich hoch, stoße mir den Kopf an der Wurzel. Erde löst sich, rieselt in meinen Nacken. Oh Mann. Ich habe irgendetwas furchtbar Wirres geträumt, es hatte mit Jeremy zu tun. Aber die Bilder verflüchtigen sich noch schneller als das Gefühl, dass er in Gefahr ist.

Ich krieche unter der Wurzel hervor, schüttle die Erde aus meinen Haaren und blinzle. Noch ist es zu dunkel, um die Fallen zu kontrollieren. Die Vögel jedoch zwitschern schon. Vielleicht eine Stunde noch, dann wird die Sonne aufgehen. Bis dahin bin ich mit meinen Gedanken allein.

Aber ich will nicht über Jeremy nachdenken, über dieses verdammt blöde Gefühl, das ich eben hatte. Es ist besser, wenn meine Gedanken klar und analytisch bleiben, wie bisher. Emotionen darf ich mir nicht erlauben. Noch nicht.

Um irgendetwas Sinnvolles zu tun, beginne ich, meine Muskeln zu lockern, strecke mich weit zur Seite, dann nach vorn, bis ich das trockene Moos rieche, dehne alle Glieder, auch wenn ich schreien könnte vor Schmerz. Wahrscheinlich bin ich von blauen Flecken übersät.

Die Zeit bis zum Sonnenaufgang zieht sich quälend langsam dahin, und je entschlossener ich versuche, nicht über Jeremy nachzudenken, desto mulmiger wird mir, und als die ersten Sonnenstrahlen durch die Blätter brechen, kommt mir mein Plan vollkommen idiotisch vor.

Die Ports werden mir meinen Selbstmord nicht einfach so abnehmen. Sie werden nach einer Bestätigung suchen, vielleicht eine DNA-Probe von dem Blut vor Ort nehmen. Oder sie werden nach einem Leichnam suchen. Meinem Leichnam. Erst dann wird meine Familie in Sicherheit sein und auch Kay.

Während ich zurück zu den Fallen gehe, bin ich beinahe überzeugt zu scheitern. Wenn die Ports mich bisher noch nicht getötet haben, weil ihnen die reine Mannkraft fehlt, um alle Realitäten zu jeder Zeit zu überwachen, wie Sam Oscar meinte – würde mein plötzlicher Selbstmord sie nicht erst recht misstrauisch machen? Sie auf meine Fährte lenken? Oder gehen sie methodisch vor? Töten nach und nach alle Alisons aller Realitäten, die einen Marker tragen?

Allein bei dem Gedanken daran ziehen sich meine Eingeweide zusammen.

Ich bücke mich unter einem tief hängenden Tannenast hindurch und verlangsame meine Schritte. Gleich müsste ich am Bach sein.

Ich schließe alle Zweifel tief in meinem Herzen weg und schleiche auf Zehenspitzen zu der ersten Falle: der Grube. Gestern habe ich sie genau dort ausgehoben, wo abgeknickte Äste und kahler Waldboden auf eine Wildbahn hinweisen. Aber kurz darauf erkenne ich, die Gräser liegen nach wie vor ordentlich geschichtet über dem Loch. Ich muss nicht nachsehen. Kein Tier wird darin sein, außer ein paar Ameisen vielleicht.

Knapp 100 Schritte weiter zeigt die Steinfalle am Bach das gleiche Resultat. Ich stöhne. Wenn auch in der Schlinge nichts ist, werde ich in die Zivilisation müssen, in ein Zoogeschäft oder besser gleich zu einem Schlachter, ihn notfalls mit dem Messer bedrohen, damit er mir gibt, was ich brauche: sehniges Fleisch und Blut.

Aber als ich der Schlinge näher komme, sehe ich bereits, dass sie ausgelöst hat. Ein Tier hängt bewegungslos in der Luft und mein Herz schlägt schneller mit jedem Schritt. Es darf nicht tot sein. Ich brauche frisches Blut.

Mit wenigen Sprüngen bin ich bei dem Baum, an dem die Schlinge mit einem Hasen hängt.

Perfekt! Das Seil hat sich fest um seinen Bauch gezogen. Ich packe den Hasen an den Hinterläufen und schneide das Seil durch. Im gleichen Moment zuckt er wild, versucht mit aller Macht, meinem Griff zu entkommen. Vielleicht ahnt er, dass er sterben wird. Doch als ich mein Messer an das weiche graue Fell ansetze, fällt er plötzlich in eine Art Starre.

»Es tut mir leid«, flüstere ich, was die Wahrheit ist. Das Tier wird leiden, denn ich brauche zunächst seine Blase. Erst dann werde ich den erlösenden Schnitt die Kehle entlang führen, um sein Blut in das Organ laufen zu lassen, bevor es stockt.

Ich beiße meine Kiefer fest zusammen und versenke mein Messer in seinem Unterleib. Der Hase quiekt und schreit schrecklich, zuckt, strampelt, während seine Gedärme aus der Bauchhöhle platzen. Ich beiße mir in die Wange. Jede Sekunde, die ich ihn quälen muss, leide ich mit.

Keine Ahnung, wann er seinen letzten Klagelaut ausgestoßen hat, aber seine Schreie klingen in meinen Ohren immer noch nach. Heißer Schweiß rinnt mir den Nacken runter und meine Hände sind blutverschmiert, als ich fertig bin. Auf dem Waldboden liegen Fell, Eingeweide und Knochen verstreut. Ich würge. Meine Speiseröhre brennt von der Galle, und als ich zum Bach gehe, um meine Hände zu waschen, verabscheue ich mich selbst. Nie habe ich etwas Schlimmeres getan.

Das Wasser des Bachs ist auch am Morgen noch warm. Ich wünschte, es wäre kalt. Eiskalt. So kalt, dass ich nichts mehr spüren muss. Ich weiß, die Zeit drängt. Doch ich kratze das Blut unter meinen Fingernägeln hervor, schrubbe meine Hände mit Moos, bis sie weiß glänzen, aber trotzdem fühle ich mich immer noch schmutzig.

Ich kann mir jetzt aber keine weitere Verzögerung mehr leisten. Wenn ich noch länger warte, ist der Hase umsonst so qualvoll gestorben. Dann wird das Blut gestockt sein, eine zähe Masse, die nicht mehr das vortäuschen kann, was sie soll: das herausgeschnittene Fleisch meiner linken Hand.

Es ist überaus wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu treffen. Ich muss die letzte, die einzige Alison auf dem Schlachtfeld sein, die ungeteilte Aufmerksamkeit der Ports haben und die von Kay. Dann bleiben mir höchstens 60 Sekunden, um sie zu überzeugen, vielleicht aber auch nur 10.

Ich klemme die Blutblase zwischen meine Finger und überdecke sie mit einem hellen Stück Fleisch, das ich mit zwei Sehnen um die Finger und mein Handgelenk binde.

Zweifelnd blicke ich auf das Ergebnis. Aus der Nähe betrachtet wirkt es, als sei meine Hand geschwollen, aber ich habe nicht vor, die Ports so nah an mich herankommen zu lassen. Ich schicke noch einmal ein Stoßgebet zum Himmel, obwohl ich schon lange an nichts mehr glaube, was Gerechtigkeit verspricht, dann schließe ich die Augen. Also los …

Regentropfen, der Hügel, das Gefühl, auf die Erde zu schlagen, erst der Arm, dann der Kopf, das Messer, das zu Boden fällt, eine Armlänge von mir entfernt, Stiefel, die den Speer in Kays Brust streifen, der Regenbogen …

Jetzt!

Ohrenbetäubender Lärm, Trampeln und Schreie stürzen auf mich ein. Der Hügel ist derart von Ports belagert, dass ich kaum noch Gras sehe oder was ihre Stiefel davon übrig gelassen haben. Ich meine, sie müssten sofort auf mich zustürmen, aber immer neue Rufe lenken sie ab. Mit angewinkelten Armen laufen die Männer in verschiedene Richtungen, schlagen Haken, finden sich wieder zusammen, zücken ihre Stäbe, nur um sich von den unzähligen Versionen meiner Selbst wieder ablenken zu lassen.

Wie ein unendliches Echo hallen meine Rufe wider: »Hey, ihr Arschlöcher! Ich bin hier! Bin hier! Bin hier! Hier! Hier! …«

Eine Alison prescht den Hügel hinab, direkt an mir vorbei und löst sich in Luft auf. Eine andere erscheint wenige Meter entfernt von mir und taumelt nur noch. Eine spätere Version. Ihr gehen die Kräfte aus.

Kay! Wo ist Kay?

Ich drehe mich im Kreis, versuche, mich zu orientieren.

Jetzt haben die ersten Ports mich bemerkt und beginnen zu rennen. Uns trennen vielleicht 100 Meter, nicht mehr. Panik flammt in mir auf. Ich versuche, mich zu beruhigen, indem ich mich auf meinen keuchenden Atem konzentriere, das wild pumpende Herz, die Welle Adrenalin, die heiß durch meine Venen schießt. Zwecklos. Gegen meinen Willen steigen die Bilder in meinem Kopf auf, die mich hier rausbringen. Das kleine Mädchen. Meine Eltern … Denk an etwas anderes. Denk an … an … Ich spüre schon den Sog. Nicht. Nein!

In diesem Moment löst sich eine Gruppe Ports voneinander, ich entdecke Kay und die Bilder zerfallen. Sein Kopf ist von mir abgewendet, der Speer steckt schräg in seiner Brust, wenige Meter weiter bricht eine Alison zusammen, gleich darauf eine zweite. Die Schreie werden weniger, das Echo verhallt. Oh Gott! Gleich ist es so weit!

Ich sprinte los, rase zwischen zwei Ports hindurch und bin bei Kay. Es bleibt keine Zeit, ihn anzusprechen, aber ich weiß, dass er mich wahrnimmt. Er erinnert sich an diesen Moment.

»Hey, ihr Arschlöch–«, höre ich meine Stimme von weit her und auf einmal ist es ganz still. Selbst das Trampeln der Stiefel hat aufgehört. Die Ports stehen einen Moment wie versteinert auf der Stelle. Ich reiße meinen Arm hoch, schreie: »Neeeiiiin!«

Ihre Köpfe wenden sich alle im selben Augenblick zu mir, als wären sie geistig miteinander verbunden. Irre! Wahrscheinlich sind sie das sogar, über ihren Marker. Der Gedanke erschreckt mich, aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um darüber nachzugrübeln, was das für mich bedeutet. Ich darf nur an meinen Plan denken.

Ohne Hast steuern die Männer auf mich zu. Sie wissen, wie sehr sie mir überlegen sind. Ich gehe in die Knie, um Kays Wange zu berühren. Er ist furchtbar blass. Wahrscheinlich wegen des vielen Blutes, das er verloren hat. Kay bewegt sich nicht, aber seine Lider flattern. Mein Gott! Was habe ich nur vor? Ein dicker Klumpen ballt sich in meinem Magen, wo eben nichts als Leere war. Meinetwegen wird Kay 2 Jahre leiden, so sehr, dass er irgendwann nur noch den Wunsch haben wird zu vergessen, dass es mich je gab. Und das nur, weil ich ihn glauben lasse, ich sei tot. Der Klumpen wiegt schwer wie ein Felsbrocken, der mich niederzwingt.

»Verzeih mir«, flüstere ich und balle meine Hand zur Faust, als könnte ich den Felsbrocken damit zerquetschen. Ich wende meinen Blick von Kay ab, ziehe das Messer aus der Schlaufe meiner Hose und hole tief Luft.

»Er stirbt! Er stirbt!« Ich kreische, meine Stimme überschlägt sich und hört sich unecht in meinen Ohren an. Wie aus einer billigen Seifenoper. »Ich kann das nicht mehr …« Ich wimmere. Zu leise. »Ich kann das nicht mehr!«, schreie ich und springe auf.

Die Ports haben eine Wand gebildet. Ach was, vier Wände, die sich dunkel und drohend von allen Seiten immer näher schieben. Noch 20, vielleicht 30 Schritte sind sie entfernt und keiner von ihnen reagiert auf mein Schauspiel.

Verdammt! Es wird nicht gelingen. Es interessiert sie nicht einmal. Doch es ist zu spät, meinen Plan zu ändern. Ich sehe einem von ihnen fest in die Augen. Er erwidert meinen Blick ohne Emotion und geht einfach weiter.

»Ich kann das nicht mehr. Nicht ohne ihn!«, kreische ich und setze das Messer an.

Kay krächzt etwas. Unwillkürlich sehe ich zu ihm. Blutblasen kommen statt Worten aus seinem Mund.

Ich setze das Messer an meine Hand, strecke sie den Ports theatralisch entgegen und steche durch das Fleisch in die mit Blut gefüllte Blase. Nur wenig dunkelrote Flüssigkeit sickert hervor.

Das Blut ist gestockt. Scheiße, verdammt!

Die Männer sind jetzt so nah, dass ich nichts außer ihren schwarz gekleideten Körpern sehen kann.

»Ihr kriegt mich nicht!«, schleudere ich ihnen entgegen.

Keine Antwort, keine Emotion. Plötzlich ist mein Gehirn nur noch davon besetzt, wie lächerlich ich wirken muss. Meine Bewegungen werden fahrig, und als ich die Sehne durchtrenne, fallen der Fleischlappen und die Blase auf die Erde. So ein verfluchter Mist! Das war anders geplant. Das Stück Fleisch sollte nur blutend herabhängen, als hätte ich einen Teil meiner Hand fast abgetrennt.

Ich starre auf das Requisit am Boden, dann wieder auf die Männer. Keiner der Ports verzieht eine Miene. Sie heben ihre Stäbe. Ich kann bereits ihren Schweiß riechen und lasse mich fallen.

Viel zu spät. Noch bevor ich auf die Erde schlage, ist mir klar, dass mein Plan misslungen ist. Mein Schauspiel war erbärmlich. Niemand wird glauben, dass ich mir den Marker herausgeschnitten habe und mein toter Körper in seine Zeit zurückgekehrt ist.

Niemand außer Kay.

Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart

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