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5.

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Der gleichmäßige Piepton nervte und dröhnte in ihrem Kopf.

Ihre Lider waren schwer wie Blei. Nur mühsam schlug Tessa die Augen auf. Grelles Licht blendete sie und zwang sie zu blinzeln. Es dauerte einen Moment, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte.

Der Piepton stammte von einem kastenförmigen Gerät direkt neben ihr, mit dem sie über ein Kabel am Arm verbunden war. Ein grüner Punkt hüpfte auf einer Skala. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass das Gerät ihren Puls aufzeichnete.

Sie lag in einem Ambulanzwagen auf der Trage. Steven saß mit besorgter Miene neben ihr und hielt ihre Hand.

«Gott sei Dank, du bist wach.» Er presste seine Lippen auf ihren Handrücken. «Darling, wie geht es dir?»

Sie entzog ihm ihre Hand und legte sie an seine Wange. Es fühlte sich so gut an, glatt und vertraut. Seine Nähe besaß etwas Beruhigendes und Tröstendes zugleich.

«Ich … weiß nicht genau.» Sie rang sich ein Lächeln ab. «Ich habe schreckliche Kopfschmerzen.» Ihre Stimme klang wie ein Krächzen.

«Du warst ohnmächtig und stehst noch unter Schock.»

«Was ist geschehen?» Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern, aber es gelang ihr nicht, den dichten Nebel in ihrem Kopf zu vertreiben.

Steven zögerte mit der Antwort, als fiele sie ihm schwer.

«Was ist?» Forschend blickte sie ihn an.

Er fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes, blondes Haar und seufzte, aber er schwieg noch immer.

Draußen hörte sie aufgeregte Stimmen. Jemand rannte am Krankenwagen vorbei. Sie sah aus dem Fenster und erstarrte.

Hazels Wohnblock.

Die Erinnerungen kehrten schlagartig zurück. Hazel war vom Dach des Hauses gesprungen, und sie hatte es nicht verhindern können.

Die Trauer um ihre Freundin schnürte ihr die Kehle zu. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie setzte sich auf und versuchte, um den riesigen Kloß in ihrer Kehle herum zu atmen.

Steven zog sie in die Arme und drückte ihren Kopf an seine Brust. Sanft wiegte er sie hin und her, während seine Hand über ihr Haar strich und er beruhigend auf sie einredete. Tessa wurde von Schluchzern geschüttelt.

Wäre sie eher zu Hazel gefahren, hätte sie sie vielleicht retten können.

«Warum bin ich nur zu spät gekommen?», flüsterte sie.

«Quäle dich nicht.» Steven küsste sie aufs Haar. «Sie scheint ihren Selbstmord schon lange geplant zu haben. Die Polizei hat oben in ihrer Wohnung eine Art Abschiedsbrief gefunden. Wenn sie es heute nicht geschafft hätte, hätte sie es wieder versucht. Du konntest es nicht verhindern.»

Sie wand sich aus seinen Armen und sah ihn an.

«Nein! Wie kannst du so was behaupten? Hazel hat sich nicht umgebracht.»

Sie kannte ihre beste Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie das nie getan hätte. Hazel war eine lebensbejahende, starke Frau mit Zukunftsplänen. Jemand wie sie brachte sich doch nicht um. Wenn sie ein Problem gehabt hätte, wäre sie zu ihr gekommen, so wie immer.

«In ihrem Abschiedsbrief stand, dass sie die Scheidung von Simon nicht verkraftet hat und ihn noch immer liebt», wandte Steven ein.

Stevens Worte empörten sie. «Ein Abschiedsbrief? Das ist doch Blödsinn! Das hat Hazel nie geschrieben. Hör auf damit!», rief sie und begann von Neuem zu weinen.

«Bitte, Tessa, reg dich nicht auf. Lass uns in Ruhe darüber reden, wenn du den Schock überwunden hast. Der Arzt wird dich im Krankenhaus untersuchen.»

Sie fühlte sich erschöpft und besaß keine Kraft mehr, ihm etwas entgegenzusetzen. Aber von einem war sie überzeugt: Hazel hatte sich nicht das Leben genommen.

«Ich will nicht ins Krankenhaus, Steven.» Flehend sah sie ihn an.

Anstelle einer Antwort hob er fragend die Brauen.

«Bitte, ich fühle mich nur benommen und will nach Hause. Kannst du den Arzt holen?»

«Ich werde mit ihm sprechen. Mal sehen, ob er zustimmt.» Das war die Antwort, auf die sie gehofft hatte.

«Danke.» Sie küsste ihn auf den Mund.

«Ich bin gleich wieder zurück.» Steven stand auf und verließ den Krankenwagen.

Tessa sank auf die Trage zurück und zog die Manschette des Messgerätes vom Arm. Ihr Kopf war leer und ihre Augen brannten.

Sie konnte nicht mehr denken, nicht mehr fühlen.

Nach einer Weile kehrte Steven zurück.

«Der Arzt wollte darauf bestehen, dich ins Medical Center zu bringen. Ich habe die ganze Zeit auf ihn eingeredet, bis er nachgegeben hat, unter der Bedingung, dass du dich morgen von einem Arzt untersuchen lässt.»

«Danke.» Sie drückte seine Hand.

«Komm, ich bringe dich zu meinem Wagen.»

Tessa war froh, dass Steven sie in sein Penthouse bringen wollte. Sie konnte jetzt nicht allein sein und brauchte ihn.

Hazel war tot. Tessas Tränen waren versiegt, nur der dumpfe Druck in ihrer Brust blieb. Sie war froh, dass der Krankenwagen nicht im Innenhof, sondern an der Straße parkte. Hazels Leiche noch einmal sehen zu müssen, hätte ihre Kräfte überstiegen.

Steven legte schützend seinen Arm um ihre Schultern und führte sie langsam zu seinem Wagen. Er öffnete die Tür des Ferraris und Tessa sank auf das weiche Lederpolster. Bevor Steven einsteigen konnte, rief jemand seinen Namen. Er beugte sich zu ihr herab.

«Darling, der Arzt ruft mich. Keine Ahnung, was er noch will. Kann ich dich allein lassen? Es dauert bestimmt nur einen Moment.»

«Ja, natürlich.»

Die Wagentür fiel ins Schloss. Tessa sah im Rückspiegel, wie Steven auf den Arzt zuging und mit ihm hinter dem Krankenwagen verschwand.

Sie kuschelte sich in den Sitz und sah durchs Fenster zum sternenklaren Himmel auf. Schritte näherten sich. Eine Frau führte ihren Hund Gassi und verschwand hinter der nächsten Hausecke.

Die Geschäfte waren bereits geschlossen, für eine Weltmetropole sehr ungewöhnlich. Sie führte es auf die hohe Kriminalität zurück, und doch lag hier noch etwas anderes in der Luft, eine Finsternis, die sie schaudern ließ.

Fröstelnd zog sie den Mantel enger. Sie gähnte und schon klappten ihr die Lider wieder zu.

Das sanfte Geräusch schlagender Flügel ließ sie auffahren. Sie spähte aus dem Fenster. Als nichts zu sehen war, zuckte sie mit den Achseln und lehnte sich langsam wieder zurück.

Unter halb geöffneten Lidern fiel ihr Blick auf einen Mann, der auf der anderen Straßenseite unter dem beleuchteten Reklameschild einer Wäscherei stand. Sie war sich sicher, dass er vor einigen Sekunden noch nicht dort gestanden hatte. Seine schmächtige Gestalt erinnerte sie an jemanden.

Natürlich! Der Spinnenmann, der auf das Garagendach gesprungen und die Hauswand hochgeklettert war. Was wollte er hier noch?

Im selben Augenblick verschwand er, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Tessa spähte zum Fenster hinaus und suchte nach ihm. Sie erschrak, als sie unerwartet in rot glühende Augen blickte.

Sie gehörten einem Mann, der nur wenige Schritte vom Wagen entfernt stand. Niemand besaß solche Augen. Nur der Mann, mit dem sie auf den Stufen der U-Bahn zusammengeprallt war. Das waren auch keine Kontaktlinsen. Linsen leuchteten nicht. Das konnte kein Zufall mehr sein.

Ihr Verstand suchte nach einer plausiblen Erklärung, aber ihr fiel keine ein.

Die Hände lässig in die Hüften gestützt schlenderte er auf sie zu. Jede seiner geschmeidigen Bewegungen strahlte Gefahr aus, wie bei einer Raubkatze, die sich an sein Opfer heranpirschte. Tessa presste sich tiefer ins Polster.

Verdammt, wo blieb denn nur Steven? Sie sah in den Rückspiegel, aber immer noch keine Spur von ihm.

Tessa überlegte, ob sie aussteigen oder einfach ruhig sitzen bleiben und ihn ignorieren sollte. Als es in seinen Augen aufblitzte, dachte sie nur noch an Flucht. Draußen würde Steven oder einer der Rettungskräfte sie schreien hören und ihr zu Hilfe eilen. Sie wollte aussteigen und zog am Türgriff. Im selben Augenblick versanken die Verriegelungsknöpfe mit einem Klacken in den Türen. Tessa zog mit aller Kraft am Türgriff, aber es rührte sich nichts.

Hastig lehnte sie sich über den Fahrersitz, um auf der anderen Seite ihr Glück zu versuchen. Doch auch diese Tür ließ sich nicht öffnen.

Weil der Autoschlüssel nicht im Zündschloss steckte, konnte sie auch nicht die Fenster herunterfahren, durch die sie hätte nach draußen klettern können. Sie hasste es, eingesperrt zu sein, weil sie dann keine Luft mehr bekam. Diese vollelektronischen Wagen hatte sie noch nie leiden können.

Der Mann mit den roten Augen näherte sich dem Ferrari. Seine finstere Miene machte ihr Angst, und als er fauchte, stemmte Tessa sich gegen die Tür, um sie aufzudrücken. Sie fluchte, weil Steven die Alarmanlage ausgestellt hatte, die ihn durch ihr lautes Hupen alarmiert hätte.

Es war wie verhext, die verdammten Türen ließen sich nicht öffnen. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Besaß der Kerl etwa übernatürliche Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, die Türen zu verriegeln? An solch einen Hokuspokus glaubte sie nicht. Eigentlich. Männer liefen aber eigentlich auch keine Häuserfassade hoch.

Sie geriet in Panik, trommelte mit den Fäusten gegen die Scheiben und riss an den Türen. Dabei schrie sie aus Leibeskräften nach Steven. Aber alle Versuche blieben erfolglos.

Tessa schluckte, denn der Fremde stand jetzt direkt vor ihrem Fenster. Beim Anblick seines fratzenhaften Lächelns packte sie Entsetzen. Gier lag in seinen Augen. Hatte er Hazel umgebracht und sie sollte ihr folgen?

Tessa zitterte vor Furcht. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie saß in der Falle und musste irgendwie raus. Wenn ihr doch nur etwas einfiele.

Langsam umkreiste der unheimliche Mann den Ferrari wie seine Beute. Unerwartet sprang er vor und klatschte mit den Händen an die Scheibe. Tessa warf sich erschrocken auf den Fahrersitz und hielt die Hände schützend über den Kopf. So wie damals, als die Schüsse krachten.

Stille.

Tessa wagte nicht sich aufzurichten. Zitternd hing sie über der Gangschaltung, die sich schmerzhaft in ihren Bauch drückte. Warum öffnete er nicht die Türen und zerrte sie heraus?

Weil er dir Angst einjagen will. Es ist für ihn wie ein Spiel.

Als nichts geschah, hob sie nach einer Weile langsam den Kopf. Der Fremde war tatsächlich nicht zu sehen, nur die Abdrücke seiner Finger prangten an der Fensterscheibe.

Erleichtert setzte sie sich auf. Ihr Brustkorb hob und senkte sich im schnellen Rhythmus. So war es auch gewesen, als sie sich damals im Supermarkt vor den Räubern hinter dem Tresen versteckt hatte. Dem Tod so nah zu sein, aber nicht zu wissen, wann er sie ereilte, war das Schlimmste gewesen.

Vorsichtig streckte sie die Hand aus und zog am Türgriff. Zu ihrem Erstaunen ließ sie sich öffnen. Sie wollte gerade aussteigen, als er auf die Motorhaube sprang. Wie gelähmt starrte sie ihn an. Er lächelte siegesgewiss und spitzte die Lippen zu einem Kuss.

Gleich würde er sich auf sie stürzen. Jemand, der Häuserwände emporkletterte, besaß mit Sicherheit körperliche Kräfte, gegen die sie nichts auszurichten vermochte. Eine Flucht erschien ihr aussichtslos. Hier draußen würde er sie schneller zu fassen bekommen als im Wagen. Jedenfalls hoffte sie das.

Sie sprang wieder hinein und verriegelte die Tür. Er lachte auf und entblößte eine Reihe spitzer Zähne, die sie an einen Hai erinnerten.

Da kam ihr ein Gedanke. Sie musste Steven und die anderen im Innenhof auf sich aufmerksam machen. Weshalb war ihr das nicht schon früher eingefallen? Sie drückte mit der Hand auf die Hupe.

Mit einem Kreischen sprang das unheimliche Wesen von der Motorhaube und verschwand in der Dunkelheit. Erleichtert sank sie nach hinten und rang nach Atem. Der heutige Tag war ein einziger Alptraum gewesen.

Eilige Schritte näherten sich. Es war Steven, der die Tür aufriss.

«Ist etwas passiert? Geht es dir schlecht? Tessa, du bist ja leichenblass.»

Bei Stevens Anblick beruhigten sich Puls und Nerven.

«Wo bist du denn so lange gewesen?», platzte sie heraus, noch immer erregt.

«Wieso lange? Es waren doch nur fünf Minuten.»

Ein Blick auf die Uhr im Cockpit des Wagens bestätigte seine Worte. Ihr war es wie eine Ewigkeit vorgekommen. Sie stöhnte.

«Der Arzt hat mir noch ein paar Anweisungen deinetwegen gegeben.» Er legte ihr seine Hand auf die Schulter. «Sollen wir nicht doch lieber ins Krankenhaus fahren?»

Tessa schüttelte den Kopf. Es brannte ihr auf den Lippen, ihm zu erzählen, was sie eben erlebt hatte. Aber er würde ihr nicht glauben, sie für geistig verwirrt halten und alles wie damals auf den Schock schieben.

Sie musste zugeben, dass es sich fantastisch anhörte und sie selbst Probleme hatte, das Erlebte zu verdauen. Gerade ihr, die nie an Übersinnliches geglaubt hatte, musste so etwas geschehen. Oder waren es nur wieder Halluzinationen, ausgelöst durch ein Trauma? Egal, sie wollte das nie wieder erleben.

«Bring mich jetzt bitte nach Hause.» Tessa befürchtete, der Mann mit den rot glühenden Augen könnte zurückkehren, und drängte Steven zur Eile.

«Ja, ja, natürlich. Du bist erschöpft und brauchst Ruhe.»

Er startete den Motor und fuhr los. Eine Weile saßen sie schweigend im Wagen.

Immer wieder erlebte Tessa Hazels Tod aufs Neue. Der Schock saß tief. Sie war fest davon überzeugt, dass der Kerl mit den übernatürlichen Fähigkeiten etwas damit zu tun hatte.

«Hazel hat sich nicht das Leben genommen», sprach sie ihre Gedanken ungewollt aus.

Tessa betrachtete Stevens Hände, die das Lenkrad umklammerten, als müsse er sich daran festhalten. Er war wütend, weil sie noch immer auf ihre Behauptung pochte.

«Ich verstehe dich nicht. Du selbst hast doch Hazel springen sehen.»

«Ja, aber sie wäre niemals freiwillig gesprungen.»

Steven schüttelte den Kopf. «Das ist doch absurd! Oder hast du etwa noch jemanden gesehen, oben auf dem Dach?» Ein Muskel zuckte unter seinem Auge, ein Zeichen für seine Anspannung.

Einen Moment lang war sie wieder versucht, ihm von dem Mann mit den rot glühenden Augen zu erzählen, aber sie tat es nicht.

«Nein, habe ich nicht. Wieso glaubst du, ich könnte jemanden auf dem Dach gesehen haben?» Das war auch nicht gelogen. Schließlich hatte sie nur beobachtet, wie er aufs Garagendach gesprungen war.

Steven atmete aus. «Ich habe schon befürchtet, dass …»

«Dass ich wieder Dinge sehe, die es nicht gibt? Das liegt doch Jahre zurück. Nach der Therapie ist es nicht mehr zurückgekommen. Mach dir keine Sorgen.»

Vor zwei Jahren war sie Zeugin eines Überfalls auf einen Supermarkt geworden, bei dem zwei Menschen ums Leben gekommen waren. Noch Wochen danach hatte sie immer und immer wieder den Überfall erlebt, die Schüsse und Schreie gehört.

Dann quälten sie Panikattacken und Halluzinationen, die sie nicht mehr in den Griff bekam, weshalb sie ein Vierteljahr in einer psychiatrischen Klinik verbringen musste. Dieses Kapitel ihres Lebens hätte sie am liebsten vergessen. Doch durch Hazels Tod und die Begegnung mit den beiden fremden Männern kehrten die Erinnerungen zurück.

«Es fällt schwer, einen Selbstmord zu verstehen, noch dazu, wenn der Mensch einem sehr nahesteht. Dann sucht man nach allen möglichen Erklärungen. Vielleicht auch, weil man sich selbst schuldig fühlt.»

«Ja», antwortete sie leise, denn längst schon waren ihr die Augen wieder zugefallen. Sie war so unendlich erschöpft und sehnte sich nach Schlaf.

Aber egal, was Steven sagte – sie würde niemals glauben, dass Hazel sich selbst umgebracht hatte.

Blutengel: Nathanael

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