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3.

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Steven genoss es sichtlich, der Mittelpunkt des Abends zu sein, und schlenderte lächelnd zwischen den zahlreichen Gästen umher, schüttelte unzählige Hände und wechselte mit jedem ein paar belanglose Worte. Dieser Small Talk ging Tessa mit der Zeit auf die Nerven. Es war wie verhext, immer wenn sie glaubte, sie hätte ihn einen Moment für sich allein, um ihm zu sagen, wie stolz sie auf ihn war, stand ein neuer Gratulant vor ihnen und beanspruchte Stevens Aufmerksamkeit. Am liebsten hätte sie sich zurückgezogen, aber als Lebensgefährtin des erfolgreichen Steven Greenberg war ihr Platz an seiner Seite.

Ihr brummte der Schädel vom Stimmengewirr. Noch vor wenigen Tagen hatte sie diesem Abend entgegengefiebert, um Steven und all den anderen zu beweisen, dass sie nicht nur eine talentierte Bankerin war, sondern auch eine perfekte Gastgeberin. Und jetzt das!

Ausgerechnet heute musste sie erfahren, wie anstrengend es sein konnte, mit einem Dauerlächeln jedem der Gäste genügend Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn sie die Gespräche langweilten. Meistens drehte sich alles nur um Klatsch und Tratsch, wer sich gerade scheiden ließ, seinen Partner betrog, oder um irgendwelche Wohltätigkeitsveranstaltungen von Promis. Daran musste sie sich wohl an Stevens Seite gewöhnen. In solchen Momenten zweifelte sie daran, ob sie dieses Leben auf Dauer glücklich machen konnte.

Die Luft im Saal wurde immer heißer und stickiger, das Stimmengewirr schwoll an und verursachte ihr Kopfschmerzen. Tessa war todmüde, ihre Füße schmerzten vom langen Stehen. Ständig musste sie sich mit den Fingern die Schweißperlen von der Stirn tupfen.

«Senator Davis, ich danke Ihnen für Ihre Glückwünsche.» Steven schüttelte die Hand eines kleinen, untersetzten Mannes im weißen Smoking, den Tessa nur aus der Presse kannte. Der Senator befragte Steven nach der Versuchsreihe des neu entwickelten Migränemedikaments. «Alles bestens, Senator. Keinerlei Nebenwirkungen.»

Steven berichtete ausführlich von seinen Gesprächen mit den Behörden. Tessa hörte nicht mehr zu und unterdrückte ein Gähnen. Steven warf ihr einen warnenden Blick zu.

«Wenn du mich entschuldigst, Steven, ich werde mal nachsehen, ob das Buffet aufgefüllt werden muss», sagte sie und war heilfroh, diesem langweiligen Gespräch zu entkommen.

«Ja, ja, mach das, Darling», pflichtete er ihr hastig bei, bevor er sich wieder in das Gespräch mit dem Senator vertiefte. Tessa verspürte nur noch den Wunsch, dem Stimmengewirr und der schlechten Raumluft zu entgehen. Sie zwängte sich in Richtung Ausgang durch eine Flut neu hereinströmender Gratulanten und wurde regelrecht eingekeilt, sodass sie weder einen Schritt vor noch zurück konnte. Und das bei ihrer Platzangst!

Schweiß brach ihr aus allen Poren, ihre Hände begannen zu zittern und ihr Herz raste. Raus hier, bloß raus hier, hämmerte es in ihrem Kopf. Tessa wusste nicht mehr, wie oft sie ‹Excuse me› gesagt und ihre Ellbogen eingesetzt hatte, bis sie dem Pulk entkommen war. Als sie den Ausgang sah, atmete sie erleichtert auf.

Draußen im Flur war es bedeutend kühler und die Stimmen hinter ihr klangen nur noch wie das Summen eines Bienenschwarms. Eine Weile suchte sie vergeblich vor der Tür nach einer Sitzgelegenheit. Als ihre Waden krampften, lief sie auf die Fahrstühle zu. Sie brauchte jetzt einen Kaffee und einen Stuhl.

Wenig später trat sie aus dem Lift und stand im Atrium des Gebäudes, das exklusive Geschäfte und Cafés beherbergte. Auch hier war es nicht menschenleer, doch im Gegensatz zu Stevens Party waren die Stimmen gedämpfter und die Luft durch die künstlichen Wasserfälle, die von den Wänden plätscherten, angenehm kühl. In der nächsten halben Stunde würde Steven sie mit Sicherheit nicht vermissen. Nur für eine Weile abschalten und die Beine ausruhen, bevor sie wieder nach oben fuhr.

Tessa lief auf das orientalische Café zu, das sie von zahlreichen Besuchen kannte, wenn sie hier im Tower auf Steven gewartet hatte. Seufzend sank sie auf einen der Stühle und bestellte sich einen Cappuccino.

Während sie trank, beobachtete sie die Liebespaare, die eng umschlungen an ihr vorüberschlenderten. Sie wirkten alle so glücklich, dass es ihr einen Stich versetzte. In letzter Zeit waren die Stunden trauter Zweisamkeit mit Steven immer seltener geworden. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann sie gemeinsam in einem Café in Ruhe eine Tasse Kaffee getrunken hatten. Doch sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ, als sie Steven bei seinen Plänen unterstützte, und konnte sich nicht beklagen. Der Verzicht auf ein Privatleben war der Preis, den sie für das Verwirklichen ihrer Ziele zahlen musste. So war das Business.

Ein hochgewachsener Mann vor dem gegenüberliegenden Laden weckte ihre Aufmerksamkeit. Tessa erstarrte. Es war der gut aussehende Fremde aus der U-Bahn, der lässig einen Finger durch den Aufhänger seiner Lederjacke gesteckt hatte, die über seiner Schulter hing. Unwillkürlich ließ sie den Blick über seine muskulöse Figur gleiten.

Bei der Erinnerung an die kräftigen Arme, die sie gehalten hatten, schnellte ihr Puls nach oben. Wie nah sie seinem Körper gewesen war, so nah, dass sie seine Erektion gespürt hatte. Allein das bewirkte abwechselnd heiße und kalte Schauer, die ihr über den Rücken liefen.

Dazu fiel ihr Hazels flapsiger Spruch in einer solchen Situation ein: «Ein Sahneschnittchen wie den würde ich nicht von der Bettkante stoßen.» Wenn sie ihm allein auf einer Party begegnet wäre, hätte sie vielleicht eine Nacht mit ihm verbracht. Himmel! Wie konnte sie auch nur einen Gedanken daran verschwenden, mit einem Wildfremden Sex zu haben?

Sie sah, wie er den Kopf neigte und zu jemandem sprach, den er mit seinem Körper verdeckte. Tessa lehnte sich ein Stück zur Seite, um zu erkennen, wem seine Aufmerksamkeit galt. Alles, was sie erhaschte, war ein Blick auf schmale Finger mit pink lackierten Nägeln, die sich auf seinen Arm legten, und ein brünetter Zopf.

War ja klar, ein Mann mit diesem Aussehen und der sinnlichen Ausstrahlung zog Frauen wie ein Magnet an. Die Brünette trat hinter ihm hervor und lächelte ihn kokett an, während sie mit einer aufreizenden Geste wie zufällig ihren Zopf über die Schulter gleiten ließ. Sie war Tessa auf Anhieb unsympathisch.

Du bist nur eifersüchtig, Tessa McNaught, meldete sich eine Stimme in ihr, die sie zu ignorieren versuchte. Es war sowieso Zeit, wieder nach oben zu fahren. Dort oben war ihr Platz, an Stevens Seite. Was ging sie der Kerl an?

Hastig trank sie den letzten Schluck Kaffee, bevor sie nach dem Kellner rief. Sie zückte ihr Portemonnaie und schob ihm über den Tisch eine Fünfdollarnote zu. Als sie danach wieder zum Laden gegenüber sah, waren der Fremde und seine Begleiterin verschwunden. Da hatte er für heute Abend also ein williges Opfer gefunden, dachte sie bissig. Aber diese Erkenntnis besaß einen bitteren Beigeschmack.

Was bist du enttäuscht? Hast du geglaubt, er würde dich an ihrer Stelle mitnehmen?

Wütend auf sich selbst steuerte Tessa auf die Aufzüge zu. Dabei warf sie einen flüchtigen Blick über die Schulter zurück und übersah prompt den Mann, der mit einer vollen Einkaufstüte um die Ecke gehastet kam. Als sie zusammenprallten, zerriss die Einkaufstüte, aus der eine Flasche Alkohol fiel und vor ihren Füßen mit einem Knall zersplitterte.

Erschrocken trat Tessa einen Schritt beiseite und glitt in der Wodkapfütze aus. Die Katastrophe des Abends! Unerwartet umfassten kräftige Hände ihre Ellbogen und fingen den Sturz ab.

«Haben Sie keine Augen im Kopf?» Der Mann mit der Einkaufstüte warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

«Das Gleiche könnte man von Ihnen auch behaupten.» Das Timbre der männlichen Stimme klang trotz des barschen Tonfalls unglaublich sexy. Schon wieder der Fremde aus der U-Bahn. Tessa wagte nicht, sich umzudrehen, sondern heftete den Blick auf ihr Gegenüber, das wutschnaubend nach einem Reinigungsdienst rief.

Als ein Mann in Security-Uniform nahte, wurde ihr bewusst, dass sie noch immer hier stand und der Fremde sie festhielt. Ihre Haut brannte unter seiner Berührung.

«Danke, dass Sie mich aufgefangen haben. Sie können mich jetzt wieder loslassen.»

Mein Gott, ihre Stimme klang fremd und heiser, als steckte ein Kloß in ihrem Schlund. Als sein warmer Atem ihren Hals streifte, stellten sich ihr die Härchen im Nacken auf. Der Fremde dachte nicht daran, sie loszulassen, sondern drehte sie um.

Unter seinem begehrlichen Blick fühlten sich ihre Beine wie Gummi an und in ihrem Magen schien ein ganzer Schmetterlingsschwarm zu flattern. Aber sie gönnte ihm nicht die Gewissheit, welche Wirkung er auf sie besaß, und setzte eine freundlich distanzierte Miene auf. Sie würde sich genauso cool geben wie in der Metro. Cool?

Widerwillig gestand sie sich ein, dass sie neulich keineswegs kühl gewesen war und auch heute nicht die Lage beherrschte. Vielmehr brodelte in ihr ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Obwohl er sie nur ansah und am Ellbogen berührte, glaubte sie, seine Hände überall heiß und verlangend auf ihrem Körper zu spüren. Drehte sie jetzt durch?

«Und wenn ich das nicht will?»

Eigentlich hätte sie mit dieser provokanten Gegenfrage rechnen können, aber seine Dreistigkeit ließ sie dennoch wütend werden. Sie ärgerte sich, weil er sie verunsicherte.

«Ich bin Ihnen sehr dankbar, aber nun lassen Sie mich bitte los. Ich muss zu einem wichtigen Termin.» Tessa senkte den Blick und wand sich aus seinem Griff. Doch er packte erneut ihren Arm und trat dicht hinter sie.

«Wichtiger als ich?», raunte er ihr ins Ohr.

Sein warmer Atem kitzelte auf ihrer bloßen Haut und die Sinnlichkeit in seiner Stimme drang bis zu ihrem Innersten vor, süß und düster wie Satans Stimme. Himmel, jetzt verlor sie sich in irgendwelchen Metaphern, dabei war dieser Kerl einfach nur selbstherrlich und unverschämt. Ihrem Körper schien das allerdings völlig egal zu sein. Tessa stöhnte innerlich auf.

«Sie bilden sich wohl ein, mit diesen Sprüchen bei jeder Frau landen zu können», erwiderte sie, wehrte seine Hand ab und streckte den Arm nach dem Fahrstuhlknopf aus.

Er stützte seinen Arm neben ihrem Kopf an der marmorierten Wand ab. Tessa wandte sich empört zu ihm um.

Er grinste anzüglich. «Vielleicht.»

Sein Gesicht kam ihrem gefährlich nah. Seltsam, seine Züge wirkten vertraut, als würde sie ihn schon lange kennen. Was kamen ihr nur für Gedanken in den Sinn?

Tessa war es nicht möglich, den Blick abzuwenden. Sie starrte auf seine vollen, geschwungenen Lippen, die sich zu diesem unwiderstehlichen Lächeln kräuselten, das sich seit der Metro in ihr Hirn gebrannt hatte. Fast hätte sie mit dem Finger sein Kinngrübchen berührt.

Sie leckte nervös mit der Zunge über ihre spröden Lippen, was er als Einladung zu einem Kuss zu interpretieren schien, denn er beugte sich vor und spitzte die Lippen. Reglos stand Tessa da und wurde erst aus ihrer Erstarrung gerissen, als sich hinter ihr mit einem Klingelton die Aufzugtüren öffneten.

Sie stolperte rückwärts in den Aufzug und drückte hastig auf den Knopf, um die Türen zu schließen. Wider Erwarten machte er keine Anstalten, ihr zu folgen. Ohne dass sie es gewollt hätte, enttäuschte es sie, dass er so schnell aufgab. Mit einem Summen begannen die Türen sich zu schließen. Ein unergründlicher, aber warmer Ausdruck lag in seinen Augen, der sie mehr berührte, als ihr lieb war.

«Du kannst vor mir, aber nicht vor deinen Gefühlen davonlaufen», flüsterte er.

Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als die Türen sich schlossen und der Aufzug sich in Bewegung setzte. Nathanaels Worte klangen in ihr nach.

Du kannst nicht vor deinen Gefühlen davonlaufen.

Mit seinen Worten hatte er ins Schwarze getroffen. Ja, sie lief vor ihm und ihren Gefühlen davon. Ihr Leben war geordnet, und das war gut so. Vor allem wollte sie nicht, dass sich jemand in ihre Beziehung mit Steven drängte.

Tessa lehnte sich an die Wand und verfolgte die Stockwerksanzeige in der Hoffnung, sich durch Ablenkung zu beruhigen. Aber ihr Puls raste noch immer.

Außer ihr befand sich noch ein Pärchen mittleren Alters im Aufzug, das sie neugierig musterte. Befanden sie sich etwa auf dem Weg zu Stevens Feier? Nicht auszudenken, wenn die beiden Steven kannten und ihm erzählen würden, was eben geschehen war.

Sie heftete den Blick fest auf ihre Schuhspitzen. Hoffentlich sah man ihr nicht an, wie aufgewühlt sie war. Was wäre geschehen, wenn er ihr in den Lift gefolgt wäre? Es war besser, nicht darüber nachzudenken. Er besaß eine Anziehungskraft, der sie offensichtlich nur schwer widerstehen konnte.

Der Aufzug hielt und das Pärchen stieg aus. Tessa atmete erleichtert auf, weil die beiden nicht zu Stevens Gästen gehörten. Der Aufzug hielt im nächsten Stockwerk, und ehe sie protestieren konnte, trat der Fremde ein. Überrascht machte sie einen Schritt zurück und die Türen schlossen sich wieder.

Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals. Noch zehn Stockwerke bis zum Saal, zählte sie im Geist.

Der Fremde streckte den Arm aus und betätigte einen Schalter. Mit einem Ruck blieb der Aufzug stecken.

«Hey, was soll das?» Tessa beugte sich vor, um den Schalter wieder umzulegen und die Fahrt fortzusetzen. Doch der Ausdruck in seinem Gesicht ließ sie innehalten. Sein Blick besaß etwas Hypnotisches, das sie lähmte.

Sie starrte in seine dunklen Augen mit den goldenen Einsprengseln. Langsam neigte sein Kopf sich zu ihr herab, bis seine Lippen sich auf ihre legten. Sein Kuss schmeckte nach Schokolade und war verführerisch sanft. Tessa umklammerte den Haltegriff hinter ihr, weil ihr die Beine nachgaben.

Seine Zunge öffnete ihre Lippen, tauchte in ihren Mund und schickte eine Flamme des Verlangens durch ihren Körper. Sie schloss die Augen und stöhnte leise in seinen Mund, als er seine Hände auf ihr Gesäß legte, um sie näher an sich heranzuziehen. Deutlich spürte sie seine Erektion an ihrem Bauch, die eine Welle ungeahnter Lust in ihr auslöste.

Wie von selbst schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken, während ihre Zunge gierig nach der seinen suchte. Sie vergaß alles um sich herum und gab sich ganz dem köstlichen Geschmack seines Kusses hin.

Plötzlich ruckte der Aufzug und Tessa schlug die Augen auf. Der Fremde löste sich von ihr. Verwirrt sah sie ihn an. Sie spürte, wie ihre Wangen vor Erregung glühten.

Er tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze und lächelte. «Du schmeckst noch besser, als ich es mir vorgestellt habe», flüsterte er.

Genauso schnell, wie er in den Aufzug gestiegen war, schlüpfte er hinaus, als sich die Tür im nächsten Stockwerk öffnete.

Die eben empfundene Lust wich einem plötzlichen Schamgefühl. Wie sollte sie jetzt Steven begegnen, ihm in die Augen sehen? Sie hätte ihn fast mit dem Fremden im Aufzug betrogen. Was war nur los mit ihr?

Was regst du dich auf, war doch nur ein Kuss, hätte Hazel gesagt. Stimmt, es war nur ein Kuss. Aber es wäre mehr gewesen, wenn er sich nicht zurückgezogen hätte.

Großer Gott, niemand durfte ihr ansehen, was geschehen war. Als die Türen des Aufzugs sich in der gewünschten Etage öffneten, stürzte sie hinaus in Richtung Toiletten, um ihr erhitztes Gesicht zu kühlen.

Nachdem sie sich eiskaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, fühlte sie sich besser. Aber als sie in den Spiegel über den Waschbecken sah, besaßen ihre Augen einen seltsamen Glanz, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte.

Sie gab sich noch ein paar Minuten, aber ewig konnte sie sich hier nicht verstecken. Wahrscheinlich würde sich Steven ohnehin schon wundern, wohin sie verschwunden war. Sie atmete noch einmal tief ein und aus, zog ihre Kleidung glatt und verließ die Toilette mit entschlossenem Schritt.

Bevor sie den Saal betrat, meldete sich ihr schlechtes Gewissen zurück. Da drinnen befand sich der Mann, den sie heiraten wollte. Wie konnte es sein, dass sie diesen dreisten Fremden begehrte?

Wenn du jetzt den Saal betrittst, hast du ihn vergessen. Es war nur ein Kuss, mehr nicht, versuchte sie sich einzureden. Entschlossen drückte sie die Klinke hinunter.

Die Luft im Saal war noch stickiger, das Stimmengewirr lauter geworden. In der Zwischenzeit waren weitere Gäste eingetroffen, die vom Buffet mit einem gefüllten Teller zurückkehrten und vergeblich nach einem freien Tisch suchten.

Steven stand zusammen mit einer Handvoll Männern in dunklen Nadelstreifenanzügen in der Nähe der Tür und unterhielt sich angeregt. Er hatte sie noch nicht bemerkt. Tessa nutzte den Augenblick, um ihn zu betrachten. Du willst ihn nur mit dem anderen vergleichen, meldete sich eine spöttische Stimme in ihrem Hinterkopf, die sie geflissentlich ignorierte.

Steven trug einen nachtblauen Armani-Anzug, der seine schlanke Figur betonte. Sein kurz geschnittenes, blondes Haar besaß an den Schläfen bereits feine Silberfäden, was seine Attraktivität jedoch keinesfalls minderte.

Dennoch musste sie sich eingestehen, dass er sie nicht auf dieselbe Weise faszinierte, wie der Fremde es tat. Es fehlte dieses Charisma, das sie in den Bann zog. Bei Steven war der Wunsch nie übermächtig gewesen, ihn überall zu spüren.

Sie verwarf den Gedanken sofort. Es mochte ja sein, dass die Verwegenheit und Sinnlichkeit des Fremden ihr für einen Moment den Kopf verdreht hatte. Ein kurzes Aufflammen der Leidenschaft, nicht mehr. Das, was sie wollte – Beständigkeit, Sicherheit, gemeinsame Werte –, würde sie sicher nicht bei ihm finden. Ihre Zukunft war hier. Bei Steven.

Sie trat zu ihm hinüber und hakte sich beim ihm ein. Er drehte sich zu ihr und lächelte sie kurz an, bevor er sich wieder seinem Gesprächspartner zuwandte.

Tessa spürte, wie sich ein unangenehmes Pochen in ihren Schläfen ausbreitete. Es war ein langer Tag gewesen und am liebsten wäre sie nach Hause gefahren. Aber sie wollte Steven nicht allein hier lassen. Dass sie möglicherweise dem Fremden erneut begegnen würde, wenn sie jetzt zum Taxistand lief, spielte bei ihrer Entscheidung keine Rolle. Nicht die geringste.

Die Dinnerparty zog sich fast bis Mitternacht hin. Als endlich die letzten Gäste den Saal verlassen hatten, war sie todmüde und überreizt. Dankbar nahm sie Stevens Angebot an, sie in seinem Wagen nach Hause fahren zu lassen. Als sie in die weichen Polster des BMWs sank, waren ihre Kopfschmerzen fast unerträglich geworden.

Dennoch konnte sie sich nicht des unangenehmen Gefühls erwehren, vor etwas davongelaufen zu sein.

Blutengel: Nathanael

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