Читать книгу Blutengel: Nathanael - Kim Landers - Страница 13

7.

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Beweise! Beweise! Das Wort hämmerte die ganze Zeit über in ihrem Kopf, noch lange nach dem Gespräch mit Ernest.

Sie konnte doch nicht nur mit Vermutungen bei der Polizei aufkreuzen, sondern brauchte einen stichhaltigen Beweis. Wie sollte sie denen erklären, etwas Übersinnliches beobachtet zu haben? Keiner würde ihr glauben, genau wie damals.

Sicher existierte irgendwo noch ein Aktenvermerk über die irre Tessa McNaught, die sich verfolgt fühlte. Doch dieses Mal war es etwas anderes. Es waren keine Visionen, sondern harsche Realität. Hazel war gesprungen und auch die anderen.

Das Beste wäre gewesen, sie hätte zum Beweis von dem Rotäugigen ein Foto auf frischer Tat geschossen. Tessa schnaubte leise durch die Nase. Genau, in Panik noch schnell das Handy zücken und ein Foto machen.

Selbst wenn sie das Übersinnliche nicht erwähnte, würde die Polizei ihr vorwerfen, nach dem Vorfall am Vormittag niemanden angezeigt zu haben, gleichgültig, ob sie ihn kannte oder nicht. So ein Mist.

Wenn sie einen Beweis finden könnte, dann nur in Hazels Wohnung. Da die Polizei den Selbstmord der Freundin offiziell bestätigt hatte, war deren Wohnung sicher nicht mehr versiegelt.

Es war weit nach zehn, als Tessa im Innenhof vor Hazels Mietshaus stand. Immer wieder blickte sie sich um, jeder Schatten wirkte bedrohlich. Hof und Straße waren leer gefegt. Wie von Furien gehetzt überquerte sie das Pflaster, bis sie atemlos vor der Haustür stoppte.

Sie war froh, sich für die Turnschuhe mit den weichen Sohlen entschieden zu haben, mit denen sie besser rennen konnte als mit den Pumps, die sie sonst trug.

Die Leuchtreklame erhellte für Sekunden das Pflaster, auf dem noch die aufgetragenen Umrisse von Hazels Leiche erkennbar waren. Dort hatte sie gelegen mit verrenkten Gliedern und weit aufgerissenen Augen. Der Anblick hatte sich in Tessas Hirn gebrannt wie die Schüsse des Überfalls. Bei jeder Gefahr drängten sie sich in ihr Bewusstsein.

Tessa fröstelte und begann zu zittern. Ihr wurde übel, sodass sie schwankte und sich an der Hausmauer abstützen musste. Für einen Moment schloss sie die Augen, als die Bilder vor ihren Augen zu rotieren begannen.

Reiß dich zusammen. Alles ist vorbei, Hazel liegt dort nicht mehr, sondern unter der Erde. Denke jetzt nicht an das Geschehene, sondern daran, wie du Hazels Mörder finden kannst.

Mit aller Kraft kämpfte sie gegen die Schwäche und seufzte erleichtert, als sie sich wieder fing.

Eine Böe streifte sie, obwohl die Äste des Baumes an der Straße sich nicht bewegten. Ängstlich flog ihr Blick über den Hof und zum Garagendach hinüber, doch nichts war zu sehen. Was hatte sie gedacht? Dass der Rotäugige sich auf sie stürzte mit den Worten: «Du bist die Nächste»?

Nein, diese Art von Mörder wollte die Angst in ihr schüren und sich daran ergötzen, bevor er ihr den Todesstoß versetzte. Sie schloss die Haustür auf und verschwand im dunklen Hausflur.

Wenige Minuten später stieg Tessa aus dem Fahrstuhl und stand vor Hazels Wohnungstür, an der noch immer der verwelkte Blumenkranz hing, den sie ihr im Februar zum Geburtstag geschenkt hatte.

Ein Gefühl der Beklommenheit stieg in ihr auf, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Die Tür sprang auf, aber sie zögerte einzutreten. Als wenn sie etwas Verbotenes täte.

Sie atmete langsam ein und trat in den schmalen Flur. Hazel hätte nichts dagegen gehabt, wenn du ihre Wohnung betrittst, beruhigte sie ihr schlechtes Gewissen. Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter.

Drinnen empfing sie stickige Luft – ein Gemisch aus fauligen Pflanzen und saurem Joghurt. Mindestens ein Dutzend Jacken hingen in bunter Mischung an der Garderobe.

Tessa lächelte wehmütig angesichts der gewohnten Unordnung ihrer Freundin. Alles wirkte so, als müsse Hazel jeden Moment gut gelaunt durch die Tür treten und sie mit einem lockeren Spruch begrüßen. Stattdessen herrschte eine bedrückende Stille. Den ganzen Tag lang lief hier sonst das Radio, damit Hazel nicht den Wetterbericht verpasste. Jetzt war auch das bedeutungslos geworden.

Außer einer Großtante von über achtzig Jahren besaß Hazel keine Verwandten. Sie sprach nicht gern über die Vergangenheit ihrer Familie und Tessa hatte sie nie mit Fragen bedrängt. Sie wusste nur, dass Hazels Eltern bei einem Lawinenunglück in Kanada ums Leben gekommen waren.

Oft hatten sie über den Tod gesprochen, aber nie daran geglaubt, dass es eine von ihnen früh träfe. Hazel winkte bei diesem Thema stets ab, als wäre sie unsterblich.

Wer mochte sich wohl um ihren Nachlass kümmern? Gab es vielleicht ein Testament, und war das der Grund, warum Hazel umgebracht worden war? Aber Hazel hatte nie ein Testament erwähnt.

Ein kratzendes Geräusch drang aus dem Wohnzimmer herüber. Tessa verharrte und lauschte mit klopfendem Herzen, bevor sie es wagte,um die Ecke zu schielen. In deraufblinkendenLeuchtreklame erkannte sie einen Vogel, der draußen auf dem Fenstersims stakste. Er flatterte krächzend davon, als sie das Wohnzimmer betrat. Erleichtert atmete sie auf und schaltete das Licht ein.

Auf dem Couchtisch stand eine Vase mit Tulpen. Die Blätter waren verwelkt und lagen über den Tisch verteilt. Das Wasser stank faulig. Tessa entsorgte das Wasser und warf die Blumen in den Mülleimer in der angrenzenden Küche. Als sie den Deckel hochklappte, stieg ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase. Sie zog den Beutel heraus und steckte ihn im Flur in den zentralen Müllschacht.

Dann kehrte sie wieder ins Wohnzimmer zurück und überlegte, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte.

Unzählige Bücher stapelten sich an einer Seite des ausladenden Ledersofas. Kissen und Decken knautschten in allen Ecken und auf dem kleinen Beistelltisch stand ein halb geleertes Glas Cola, dessen Neige bereits Schimmel angesetzt hatte.

Auf dem Schreibtisch daneben befand sich Hazels Laptop. «Mein Hirn und mein Herz», hatte sie immer scherzhaft gesagt.

Hazel führte Tagebuch und Terminkalender elektronisch. Tessa konnte sich nicht daran erinnern, sie je mit einem Notizblock bei einer Sitzung mit den Händlern in der Bank gesehen zu haben. Stattdessen tippte sie auf einem Mini-Laptop.

Wenn Tessa etwas über ihren Tod erfahren wollte, mussten sich Hinweise in ihren Dateien finden lassen. Rasch brachte sie das Colaglas in die Küche und setzte sich danach an den Laptop.

Sie drückte den roten Einschaltknopf. Ein Kästchen mit einem Ausrufezeichen erschien auf dem Bildschirm, und eine sinnliche Männerstimme forderte das Passwort.

Verdammt! Hazel hatte nie mit ihr darüber geredet. Über dem Kästchen schwebten Raffael di Santis dicke Engel vom Gemälde der Sixtinischen Madonna, bis sie anschließend einen Kreis über den Bildschirm zogen.

Tessa fand das Motiv recht kitschig. Es passte nicht zur nüchternen Hazel. Eine Séance hatte auch nicht zu ihr gepasst. Hatte Hazel die Séance aus Neugier besucht oder steckte doch ein Mann dahinter?

Die Stimme forderte erneut das Passwort. Tessa stöhnte laut. Es gab Tausende Möglichkeiten.

Grübelnd kaute sie auf der Unterlippe und tippte nacheinander mehrere Wörter ein, die ihr spontan einfielen, darunter auch der Titel von Hazels Lieblingsroman. Aber alle entpuppten sich als falsch.

Dann versuchte sie es mit dem Wort Séance. Wieder eine Niete. Engel.

«Oh, oh, Passwort abgewiesen. Du hast nur noch einen Versuch, bevor das System gesperrt wird», tönte die Männerstimme und ein drohender Zeigefinger tauchte auf.

Na, klasse.

«Ich brauche schon ein paar Versuche mehr als einen.» Verärgert schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. Verdammtes System. Warum musste die Freundin auch alles in diesen verflixten Computer tippen?

Sie stützte den Kopf in die Hände. Wenn sie jetzt nicht weiterkam, würde es ihr nie gelingen, mehr herauszufinden.

Sie starrte auf den Bildschirm, als hoffte sie, das Passwort würde dort auftauchen. Der Bildschirmschoner mit den Engeln drehte weiter seine Kreise und lullte sie ein. Es besaß fast schon eine hypnotische Wirkung.

Umso mehr erschrak sie, als das Engelbild sich plötzlich in der Mitte positionierte, nach vorn kippte und die Engel von der Wolke purzelten. Flammen züngelten von der unteren Kante des Bildschirms empor und verschlangen die Engel. Dann war der Spuk vorbei und der Bildschirmschoner zog von Neuem seine Kreise.

Sie kannte Hazel gut genug, um zu wissen, dass sie jeder Kleinigkeit eine Bedeutung beimaß und oft ihre Programme mit einem Gag versah. Warum also auch nicht hier? Vielleicht lag hier der Schlüssel zum Passwort und zum Abend der Séance?

«Engel, die von einer Wolke kippen …», sinnierte Tessa und kaute nervös an den Fingern.

«Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen?» Grinsend hämmerte sie auf der Tastatur die Worte ‹Fallen Angels› und wartete voller Spannung, ob sich ihre Vermutung bestätigte.

Pling! Der Eintritt ins Computersystem wurde gewährt.

«Bingo!», rief sie erleichtert aus und trommelte mit den Fäusten vor Freude auf dem Schreibtisch.

Während die Icons sich auf dem Bildschirm manifestierten, streifte ihr Blick eine Tablettenschachtel im Regal hinter dem Schreibtisch. Wieder etwas, das nicht zu Hazel passte, denn ihre Freundin schwor auf Homöopathie. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Hazel jemals eine Tablette geschluckt hatte, die kein homöopathisches Mittel gewesen wäre.

Tessas Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf den Bildschirm, als das Kalender-Icon vor ihr aufblinkte.

«Na, also.»

Sie klickte sich akribisch durch Hazels Kalender, aber alles, was sie fand, waren Eintragungen biblischer Männernamen. Hatte ihre Freundin heimlich einer Sekte angehört?

Hazel und sie waren seit vielen Jahren miteinander befreundet. Tessa glaubte, ihre Freundin zu kennen, aber seit ihrem Tod schien sie eine Fremde vor sich zu haben. Sie blätterte virtuell durch den Kalender und gelangte schließlich zum Datum der Séance.

Hastig griff sie nach Zettel und Stift, um sich die Adresse zu notieren, wo die Sitzung stattgefunden hatte. Auch die Namen der beiden anderen Teilnehmer und des Mediums kritzelte sie dazu. Eine Frau und zwei Männer, deren Namen sie noch nie zuvor gehört hatte. Hazels Kollegen? Nachbarn?

Ein überdimensionales, verschnörkeltes S erstreckte sich über alle Zeilen verschiedener Kalendereinträge. Kein weiterer Hinweis. Stand das S vielleicht für Séance?

Tessa klickte auf Hazels Organizer und gelangte zu einer To-do-Liste. Sie beinhaltete nur berufliche Einträge zu irgendwelchen Programmen, die sie erstellt hatte, nichts Privates. Auch kein S. Also doch S für Séance? Aber weshalb dann an einem Dutzend Tage?

Bevor sie nicht mit den Séanceteilnehmern gesprochen hatte, käme sie nicht weiter. Tessa war enttäuscht, sie hatte sich viel mehr von den Eintragungen ihrer Freundin versprochen.

«Hazel, was sollen diese blöden Ratespiele? Da komme ich doch nie dahinter!», schimpfte sie laut. Den Kopf in die Hände gestützt starrte sie deprimiert auf den Bildschirm, bis die Engel auf der Wolke wieder kreisten.

Noch eine ganze Weile klickte sie sich durch sämtliche Dateien von Hazel, ohne auf einen Hinweis zu stoßen. Genervt schaltete sie den Computer aus.

Tessa sah auf ihre Uhr. Es war schon Mitternacht, und sie war todmüde.

Mit dem Zettel in der Hand verließ sie nachdenklich Hazels Wohnung.

Blutengel: Nathanael

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