Читать книгу Blutengel: Nathanael - Kim Landers - Страница 12

6.

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Steven trug Tessa vom Fahrstuhl in seine Wohnung. Erschöpft lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Seine Wärme hüllte sie ein wie ein schützender Kokon.

Sie liebte ihn. Natürlich liebte sie ihn.

Das Intermezzo mit dem gut aussehenden Fremden führte sie auf eine hormonelle Irritation zurück, weil sie sich von Steven vernachlässigt fühlte. Du belügst dich selbst, denn es hatte sich bei ihm irgendwie besser angefühlt, meldete sich wieder die böse Stimme in ihr, die sie schnell unterdrückte.

Ein roter Strahl blitzte neben der Tür auf. Es war der Netzhautscanner, der den Eingang absicherte, wie ihn fast alle Wohnungen in diesem noblen Haus besaßen.

Nach einem kurzen Piepton schwang die Tür leise summend auf. Stevens Schritte wurden vom Teppichboden verschluckt. In der Wohnung herrschte eine angenehme Ruhe. Die schalldichten Fenster schlossen New Yorks Leben aus.

Der Blick durch die raumhohen Fenster auf die nächtliche Skyline mit ihren unzähligen Lichtern und Leuchtreklamen war atemberaubend. Wenn sie nicht so müde gewesen wäre, hätte sie es genossen. Doch ihre Lider waren schwer und fielen immer wieder zu.

Steven trug sie ins Schlafzimmer und setzte sie vorsichtig aufs Bett.

«Ich bin nebenan, wenn du mich brauchst», sagte er und streichelte ihre Wange. Sie nickte.

Als er gegangen war, kleidete sie sich aus und schlüpfte in das seidene Negligé, das kunstvoll drapiert neben ihr lag und auf dem sich stets eine Praline befand. Das war das Werk von Mary, Stevens Haushälterin.

Lächelnd legte Tessa die in goldene Folie gewickelte Schokolade auf den Nachttisch. Normalerweise konnte sie Süßigkeiten nicht widerstehen, aber heute wollte sie nur noch schlafen. Sie schlüpfte unter die Bettdecke und ließ den Blick durch den vertrauten Raum gleiten.

Hochglanzpolierte cremefarbene Schränke, innen beleuchtet, rahmten sie zu beiden Seiten ein. Nicht ein einziges Staubkörnchen war zu entdecken. In Stevens Wohnung fand sich kein Stück Nippes. Im Regal rechts vom Bett standen die Bücher nach Größe und Farben sortiert in den Fächern. Steven legte großen Wert auf Symmetrie und Ordnung.

Stevens Wohnung stand einem Fünf-Sterne-Hotel in Nichts nach. Jeden Morgen lag auf der Anrichte im Wohnzimmer die neueste Presse, in der Küche stand ein Korb mit Obst. Das Bad glich mit dem Kristalllüster und dem Marmorboden einem Tanzsaal, in dem sich der runde Whirlpool verlor. Wenn sie aus Stevens Wohnung aus dem Fenster sah, lag ihr New York zu Füßen. Der Ausblick war atemberaubend.

Auch Tessa liebte Offenheit und klare Linien, nur von den Fotos ihrer Eltern und ein paar Erinnerungsstücken aus ihrer Kindheit konnte sie sich einfach nicht trennen. Dennoch konnte sie sich manchmal nicht des Gedankens erwehren, dass die Wohnung bei aller Eleganz doch etwas nüchtern war. Ja, sie war luxuriös und geordnet wie die Suite eines Fünf-Sterne-Hotels – aber eben auch genauso wenig persönlich.

Doch momentan war es ihr gleichgültig, ob sie in einem Luxusbett oder einer Kiste schlief. Tief kuschelte sie sich in die kühle Satinbettwäsche und schloss die Augen.

Sie hörte Steven, der zum Bett kam und sich neben sie setzte. Nach einer Weile ergriff er ihre Hand und küsste sie. Tessa schlug die Augen auf und lächelte ihn an. Ihr Lächeln erstarb, als sie seine düstere Miene bemerkte.

«Was ist los?», fragte sie.

«Ach, nichts. Es war ein anstrengender Tag. Schlaf jetzt.» Steven tätschelte lächelnd ihre Hand. Sein Lächeln konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwas nicht stimmte.

Anstelle des üblichen Gutenachtkusses küsste er sie auf die Stirn. Irgendetwas schien zwischen ihnen zu stehen. Steven wirkte plötzlich fremd. Sicherlich tat er es nur aus Rücksicht auf ihre körperliche Verfassung. Dennoch war sie vage enttäuscht. Der Fremde hätte sie bestimmt auf den Mund geküsst, schoss es ihr durch den Kopf. Sie rief sich sofort zur Ordnung. Wie konnte sie Steven mit dem verwegenen, frechen Kerl vergleichen?

Steven stand auf und ging in den Salon. Mit einem Fingerschnippen löschte er das Licht.

Sie hörte, wie er zur Bar trat und Gläserklirren. Der holzige Geruch von Single Malt Whisky wehte herüber. Er kippte das Glas mit einem Zug hinunter und goss sich zum zweiten Mal ein.

Wenig später rauschte das Wasser in der Dusche. Bei dem gleichmäßigen Geräusch nickte sie ein und wachte auf, als er in seinem seidenen Schlafanzug zu ihr unter die Decke kroch. Er legte immer großen Wert darauf, dass Mary seine Pyjamas bügelte. Selbst im Bett wirkte er wie ein Dressman.

Sie drehte sich auf die Seite und schlief gleich darauf ein.

Jemand schrie.

Tessa setzte sich ruckartig auf. Ihr Atem ging stoßweise. Eine Hand legte sich auf ihren Arm. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie es selbst gewesen war, die geschrien hatte.

«Hey, beruhige dich. Komm her.» Steven zog sie in die Arme. «Du hast nur schlecht geträumt», flüsterte er.

Seine Worte beruhigten sie.

Im Traum war Hazel wieder vom Dach gestürzt, gestoßen von dem Mann mit den rot glühenden Augen. Sein Lachen dröhnte ihr in den Ohren.

Dann sprang er vom Dach, um sie zu packen. In Panik lief sie davon, durch dunkle Hinterhöfe und Tunnel, aus denen Hände nach ihr griffen, bis sie gegen den Kerl aus der U-Bahn prallte. Lächelnd sah er auf sie herab. Doch dann verwandelte sich sein Gesicht in eine Teufelsfratze.

Tessa zitterte noch immer und ihr Herz raste, als wolle es ihre Brust sprengen.

«Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Hazel tot ist», flüsterte sie.

Schweigend drückte Steven sie an seine Brust und strich ihr über den Rücken. Eine Weile lauschte sie seinem gleichmäßigen Herzschlag, bis sie endlich wieder einschlief.

Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee weckte Tessa. Verschlafen rieb sie sich die Augen und blickte dann auf den digitalen Wecker neben dem Bett. Es war Sonntagmorgen, erst acht Uhr und Stevens Betthälfte leer.

«Steven?» Tessa setzte sich auf und spähte durch die geöffnete Tür in den Flur, in dem zwei Hartschalenkoffer standen.

Er trat aus dem angrenzenden Ankleidezimmer im dunklen Nadelstreifenanzug und band sich die Krawatte.

«Was machst du da? Habe ich was verpasst? Heute ist doch Sonntag, oder?» Tessa sah ihn fragend an.

Steven lächelte, aber es lag eine Spur Unsicherheit darin.

«Ja, heute ist Sonntag. Ich fliege nach Brüssel. Ab morgen beginnen die Konferenzen.»

Das hatte sie doch glatt vergessen. Seit Wochen drehte sich alles nur um dieses Thema. Aber er konnte sie jetzt unmöglich allein lassen. Sie brauchte ihn mehr denn je.

«Kannst du nicht morgen fliegen? Harold könnte doch die Präsentation in den nächsten Tagen übernehmen.»

«Nein.» Sein Blick wurde hart. «Die Chance, mich auch auf dem europäischen Markt zu etablieren, lasse ich mir nicht entgehen. Harold habe ich übrigens entlassen.» Er sagte es so emotionslos, dass sie schlucken musste.

Harold Masterson galt als loyalster Mitarbeiter der Firma. Er war seit über zwanzig Jahren bei Greenberg Pharma beschäftigt gewesen, jahrelang die rechte Hand von Stevens Vater gewesen. Und jetzt hatte Steven ihn rausgeworfen? Noch vor wenigen Wochen hatte er sich über Harolds Engagement lobend ausgesprochen.

«Du hast Harold gekündigt?»

«Mach doch jetzt kein Drama daraus. Er hat ständig gegen die Zulassung des neuen Medikaments interveniert. Er hat einen bei der Behörde bestochen, damit es nicht zugelassen wird. So etwas dulde ich nicht.» Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Unter seinem Blick fröstelte sie.

«Harold? Das kann ich nicht glauben.» Sollte sie sich so in dem sympathischen Mittfünfziger getäuscht haben? Irgendwie wollte ihr das nicht in den Kopf.

«Du bezweifelst ja auch Hazels Freitod.»

Seine Worte trafen sie. «Das ist doch was ganz anderes. Harold war immer offen und vertrauenswürdig …»

«War. Das ist das entscheidende Wort. Du kannst dir die Welt nicht immer nur schön reden, Tessa.»

«Das tu ich doch gar nicht.»

Irgendetwas stimmte nicht. Steven wirkte auf einmal so kalt und abweisend, als er von Harold sprach, wie sie ihn noch nie erlebt hatte.

Tessa wollte mit einer Erklärung fortfahren, als er ihr zuvorkam.

«Komm, Darling, lass uns jetzt nicht kurz vor meinem Abflug über Hazel und Harold streiten. Ich bin spät dran.» Er sah auf seine Rolex.

Sie hätte zu gern mehr über Harolds Entlassung erfahren, aber da stand Steven schon neben dem Bett. Er hasste es, seine Entscheidungen zu rechtfertigen.

Dabei wollte sie ihm gar nicht reinreden, sondern nur daran teilhaben. Als Firmenleiter war er ein Mann der schnellen Entschlüsse. Dennoch besprach er mit ihr all seine Entscheidungen vorher. In Harolds Fall musste es so eilig gewesen sein, dass er keine Zeit gehabt hatte, mit ihr darüber zu reden. Tessa wollte die Arme um ihn legen, doch er schob sie zurück und küsste sie flüchtig auf den Mund.

«Wir sehen uns dann in drei Wochen. Ich ruf dich an.»

«Wenn du aus Brüssel zurück bist, erzählst du mir dann mehr über Harold?»

«Ja, ja», gab er nach und seufzte. Schon eilte er zur Tür. Bevor er die Klinke fasste, drehte er sich noch einmal zu ihr um.

«Übrigens, ich habe vorhin Ernest angerufen und ihn gebeten, sich um dich zu kümmern.»

«Danke, aber ich brauche keinen Babysitter.»

«Er soll dich von deinen Grübeleien ablenken. Ich bin nicht gut im Trost spenden. Das ist doch die Aufgabe eines Priesters.»

Sie liebte ihren Bruder, dennoch hätte sie lieber Steven an ihrer Seite gewusst. Er kam noch einmal zurück und küsste sie. Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Wieder löste Steven sich aus der Umarmung.

«Ich würde ja auch gern hier bleiben, Darling, aber …», sagte er zwischen zwei Küssen.

«Ja, ja, ich weiß. Beeil dich, sonst verpasst du noch den Flieger.

«Wenn ich zurück bin, holen wir alles nach. Pass auf dich auf, okay?»

Jetzt war in seine Augen wieder dieser gewohnt liebevolle Blick zurückgekehrt. Das versöhnte sie etwas. Dennoch fühlte sie eine unglaubliche Leere in sich.

Drei lange Wochen ohne Steven standen ihr bevor, in denen noch dazu Hazels Beerdigung stattfand. Wie sollte sie das alles allein durchstehen? Ihr Handy klingelte auf dem Nachttisch.

«Hi, Ernest», begrüßte sie ihren Stiefbruder.

«Hi, Liebes. Steven hat mich gestern Nacht noch angerufen.»

«Ich weiß.»

«Das mit Hazel tut mir entsetzlich leid. Wie geht es dir jetzt? Möchtest du vielleicht nach dem Sonntagsgottesdienst zum Lunch kommen?»

Ernest wohnte in einem bescheidenen, aber gemütlichen Häuschen neben seiner Baptistenkirche in Harlem. Er lebte für und mit seiner Gemeinde. Normalerweise machte es Tessa nichts aus, am Gemeindetisch mit den anderen zu essen, aber heute konnte sie deren Fröhlichkeit nicht ertragen. Sie musste in Ruhe über Hazel und die Geschehnisse des letzten Abends nachdenken.

«Lieb von dir, aber heute nicht. Sei nicht böse, ich brauche einfach Zeit für mich.»

«Ja, ja, natürlich. Wenn du es dir anders überlegen solltest, bist du herzlich willkommen. Ich sehe gegen Abend bei dir vorbei.»

«Fein, dann bis nachher.»

Sie war froh, dass es ihn gab. Wenn sie auf einen Menschen nach dem Tod ihrer Eltern hatte zählen können, dann auf Ernest, gleichgültig wann und wo. Steven hatte recht: Ernest besaß das nötige Feingefühl und wusste, wie er sie trösten konnte.

Sie lief zum Fenster hinüber und öffnete per Knopfdruck die Vorhänge. Ganz Manhattan lag ihr zu Füßen. Heute war der Himmel strahlendblau mit winzigen Wattebauschwolken. Nur ein schmaler rosa Streifen am Horizont erinnerte daran, dass die Sonne erst vor Kurzem aufgegangen war. Die gläsernen Hochhausfassaden glitzerten im Sonnenschein wie Edelsteine. Selbst früh am Sonntagmorgen herrschte bereits reger Betrieb in den Straßen. Aus dem zwanzigsten Stock sahen die Autos und Menschen wie Spielzeug aus.

Ein sonniger Frühlingstag, der Hazels Tod wie einen Alptraum erscheinen ließ.

Vielleicht würde ein Spaziergang im Central Park ihren aufgebrachten Nerven guttun. Zu dieser frühen Stunde traf man dort nur vereinzelte Jogger und Leute, die ihre Hunde ausführten.

Eine halbe Stunde später machte Tessa es sich auf einer der Parkbänke gemütlich und beobachtete die Kinder, die auf dem Rasen tobten. Ihr wurde das Herz wieder schwer, als sie daran dachte, wie Hazel und sie einst hier herumgetollt hatten. Sie hörte noch immer ihre Stimme und ihr Lachen, als stünde sie neben ihr.

Doch nun war alles vorbei. Nie mehr mit der Freundin reden können, all die albernen Kaffeetreffen mit Klatsch und Tratsch verbringen und stundenlang durch Museen streifen. Das gehörte der Vergangenheit an.

Es fiel ihr schwer, die Endgültigkeit des Todes zu akzeptieren. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihr Blick nach Hazel suchte, als könne sie um die nächste Ecke biegen und ihr freudestrahlend zuwinken, so wie sie es immer getan hatte.

Die Hoffnung, Sonnenschein und klare Luft könnten ihre Gedanken vertreiben, zerschlug sich. Tessa stand auf und kehrte zum Wagen zurück.

Auf dem Weg durch den Park beschlich sie das Gefühl, verfolgt zu werden. Sie drehte sich mehrmals um, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Schuld an ihrer übertriebenen Reaktion war sicher ihr gestriges Erlebnis, der Kerl mit den rot glühenden Augen, der sie so in Panik versetzt hatte, dass sie schon zitterte, wenn sie eine Bewegung wahrnahm.

Der Weg schlängelte sich unter den frühlingslichten Baumkronen durch, an deren Zweigen zartgrüne Knospen sprossen, die nur darauf warteten, endlich in der Frühlingssonne aufzubrechen.

Tessa schrak zusammen und fuhr herum, als sie plötzlich etwas an der Schulter berührte. Außer einem jugendlichen Liebespaar, das auf einer der Bänke saß und knutschte, war niemand zu sehen. Dennoch klopfte ihr Herz eine Spur heftiger und ihre feinen Nackenhärchen stellten sich auf.

Sie zuckte mit den Achseln und schob ihre Reaktion erneut auf ihr gestriges Trauma. So ähnlich war es ihr auch damals nach dem Überfall ergangen. Sie hatte sich Dinge eingebildet, die gar nicht existierten.

Ihr Wagen parkte auf der gegenüberliegenden Seite der Fifth Avenue. Es war gegen zehn, New York erwachte. Zahlreiche Touristen mit Stadtplänen in der Hand liefen die Straße entlang. Aber auch viele New Yorker nutzten den Tag für einen Ausflug. Die Besucher fürs Naturkundemuseum verstopften den Gehweg.

Tessa quetschte sich durch einen Pulk Touristen am Straßenrand und nutzte die Verkehrslücke, um die Straße zu überqueren.

In dem Augenblick, als sie einen Schritt vortrat, versetzte ihr jemand einen Stoß in den Rücken. Halt suchend ruderte sie mit den Armen in der Luft, bevor sie der Länge nach auf die Straße schlug. Ihre Hände und Knie brannten wie Feuer und in ihrem Kopf dröhnte ihr Herzschlag, dumpf und schwer.

Benommen blieb sie liegen und starrte auf die aufblinkenden Scheinwerfer des sich nähernden Greyhound-Busses, die sich plötzlich in rot glühende Augen verwandelten. Wie durch einen Nebel nahm sie Schreie und lautes Hupen wahr.

Die immer stärker werdende Angst lähmte sie und erstickte jeden Laut in ihrer Kehle. Bilder der Vergangenheit stürmten auf sie ein. Damals hatte sie auch als Erstes die Scheinwerfer gesehen, bevor der Transporter in die Fensterscheibe und direkt auf sie zugerast war. Sie war vor Angst gelähmt gewesen, bis sie jemand am Arm fortgerissen und sich mit ihr auf den Boden geworfen hatte. Dann knallten die Schüsse. Aber das lag lange zurück.

Jetzt lag sie mitten auf der Fifth Avenue. Und wenn der Bus nicht rechtzeitig bremsen konnte, wäre es um sie geschehen.

Die roten Augen hatten sie fast erreicht. Noch immer lag sie teilnahmslos da, als befände sie sich in einem Film. Dabei sah sie dem Tod in die Augen. Gleich wäre alles vorbei. Verdammt, warum rührte sie sich nicht?

Plötzlich packten sie kräftige Hände an den Schultern und rissen sie hoch. Ein muskulöser Arm schlang sich um ihre Taille und drückte sie an einen harten, männlichen Körper. Der Mann rannte mit ihr weiter, während hinter ihnen die Reifen des Busses quietschten. Ein Knall berstenden Metalls ließ sie zusammenzucken. Sie zog den Kopf ein und wartete darauf, getroffen zu werden.

Doch der Mann bugsierte sie sicher zwischen den Autos hindurch zur anderen Straßenseite. Bei jeder Bewegung spürte sie seine Muskeln am Rücken. Er roch angenehm nach Sandelholz und frischer Luft und nach etwas undefinierbar, aber durchaus anziehend Herbem.

Tessa wehrte sich nicht, sondern blickte an sich hinunter. Gepflegte Männerhände drückten sich in ihre Taille und ihren Bauch und ließen erst los, als er sie auf dem Gehweg absetzte. Sie wollte sich gerade bei ihm bedanken, als er sie mit seinem Körper derb gegen die Museumsmauer presste und ihr den Mund mit seiner Hand verschloss. Es war der Fremde aus der U-Bahn. Verfolgte er sie etwa?

Die kalte Steinmauer drückte sich unangenehm in ihren Rücken. Was sollte das denn? Sie wollte ihn empört fortstoßen.

«Keinen Mucks», raunte er, «er sucht nach dir.»

Tessa sah fragend zu ihrem Retter auf, dessen Augen sich unruhig hin und her bewegten. Sie spürte seine angespannten Muskeln an ihrem Körper, was ihre Gedanken wieder in eine gefährliche Richtung dirigierte.

Nach einer Weile entspannte er sich und nahm seine Hand von ihrem Mund.

«Er ist weg.»

«Wer?»

«Der, der dich vor den Bus geschubst hat.» Sie hatte es sich also nicht eingebildet und war froh, dass es einen Zeugen dafür gab.

«Ich kenne ihn gar nicht. Warum hat er das getan?»

Er zuckte mit den Achseln. «Es gibt genügend Kriminelle und Verrückte.»

«Haben Sie seine Augen gesehen? Die waren leuchtend rot.»

Der Fremde senkte den Blick. «Nein, mir ist nichts aufgefallen.»

Tessa hatte das Gefühl, dass er ihr nicht die Wahrheit sagte. Aber vielleicht bildete sie es sich auch nur ein. Langsam interpretierte sie in alles etwas hinein und war wegen Hazel misstrauisch geworden. Ihre Nerven lagen blank.

Sie begann zu zittern, als ihr bewusst wurde, dass der Bus sie fast überrollt hätte, wenn er nicht gewesen wäre.

«Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für das, was Sie eben getan haben, danken soll …», sagte sie leise und sah zu ihm auf.

Wie schon neulich im Aufzug wurden ihr unter seinem begehrenden Blick die Knie weich. Dieser Mann besaß wirklich außergewöhnlich ausdrucksstarke Augen, in denen jetzt ein warmer Glanz lag.

«Ich wüsste schon, wie», antwortete er lächelnd und neigte seinen Kopf herab.

Tessas Puls begann zu rasen, als sich seine halb geöffneten Lippen auf die ihren legten. Mit einer Hand stützte er sich neben ihrem Kopf an der Mauer ab, während die andere sich um ihre Taille schlang.

Jeglicher Widerstand in ihr schmolz. Es fühlte sich so verdammt gut an, noch besser als beim letzten Mal. Sie schloss die Augen und gab sich seinem Kuss hin, der zärtlich und fordernd zugleich war.

Seine Zunge glitt über ihre Lippen, bis Tessa ihr bereitwillig Einlass gewährte. Als sich ihre Zungenspitzen trafen, glaubte sie zu verglühen. Er schmeckte ein wenig nach Apfel, süß und fruchtig. Seine Zunge erkundete ihren Mund, leckte über ihr Zahnfleisch und tanzte mit ihrer.

Tessa schlang die Arme um seinen Nacken und erwiderte den Kuss voller Leidenschaft. Niemand außer ihm hatte sie je so geküsst. Sie konnte gar nicht aufhören. Es war so unglaublich gut, lockend und ungestüm, als wüsste er genau, wonach sie verlangte.

Seine Hände schoben sich unter ihre Kleidung und legten sich auf ihren kalten Rücken. Heiß schoss das Blut durch ihre Adern und sammelte sich in ihrem Unterleib. Mit einem Stöhnen presste er sie fester an sich und schob ein Bein zwischen ihre Schenkel.

Tessa stockte der Atem. Sie bewegte leicht ihre Hüften und rieb über seine Erektion. Das Verlangen nach ihm war so übermächtig, dass sie alles um sich herum vergaß. Sie versank vollkommen in dem Sinnesrausch, den seine Liebkosungen in ihr erweckten.

Lautes Hupen ließ sie auseinanderfahren. Tessa fühlte sich benommen und ihr Herz raste vor Schreck noch wilder.

Ihre Wangen glühten vor Erregung und auch aus Scham, als sie sich bewusst wurde, dass sie beobachtet worden waren. Eine Gruppe Jugendlicher zeigte zu ihnen hinüber, kicherte und tuschelte.

Sie sah zu ihm auf und begegnete seinem von Leidenschaft verschleierten Blick. Seine Lippen waren von ihren Küssen gerötet.

Er wollte sie wieder in die Arme ziehen, aber sie wehrte ab.

«Nein, das geht nicht. Ich habe einen Fehler gemacht», flüsterte sie und stemmte die Hände gegen seine Brust. Für einen kurzen Moment glaubte sie, einen schmerzlichen Ausdruck darin zu erkennen.

Was hatte sie getan? Sie knutschte mit einem Wildfremden in der Öffentlichkeit und vergaß ihren Freund, mit dem sie seit Jahren eine harmonische Beziehung führte! Wie sollte sie Steven je wieder in die Augen sehen können?

Und das Schlimmste an der Sache war, dass sie eigentlich nicht damit aufhören wollte. Ihre Brüste spannten und ihr Unterleib brannte vor Verlangen.

«Du bereust, mich geküsst zu haben?» Der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht zu lesen.

«Ich lebe seit Langem mit jemandem zusammen», antwortete sie leise. «Neulich, im Trump Tower, ich war mit ihm dort … Es tut mir leid …», stammelte sie.

«Du brauchst mir nichts zu erklären. Es war nur ein Kuss. Ein Dankeschön.»

Seine Worte trafen sie. Für sie war es aufregend und unglaublich schön gewesen. Wie hatte sie nur glauben können, dass er das Gleiche dabei empfunden hatte? Es war nur ein Kuss. Seine Worte hallten in ihr nach. Sie fühlte sich plötzlich schrecklich.

«Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.»

Sie wandte sich um, damit er ihre feuchten Augen nicht sah. Ihr Herz war schwer wie ein Stein. Nie war ihr ein Abschied so schwer gefallen wie in diesem Moment. Vielleicht würden sie sich nie wiedersehen und seine Küsse waren die einzige Erinnerung an ihn. Dabei kannte sie noch nicht einmal seinen Namen.

«Nathanael. Ich heiße Nathanael», sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich.

Tessa schloss die Augen und kämpfte gegen die unerwartete Traurigkeit, die in ihr aufstieg, bevor sie sich noch einmal umdrehte. «Und ich heiße Tessa.»

Am liebsten wäre sie zu ihm gelaufen und hätte sich in seine Arme geworfen. Aber sie gehörte zu Steven. Es war nicht fair, ihn zu hintergehen. Das hatte er nicht verdient. Und es war bereits zum zweiten Mal geschehen. Weshalb fühlte sie sich von Nathanael so stark angezogen? Sie war doch glücklich in ihrer Beziehung. Ihr Leben verlief genauso, wie sie es sich gewünscht hatte.

Wirklich? Zum ersten Mal meldete sich in ihr die leise Stimme des Zweifels, die sie zu unterdrücken versuchte. Bald zählte sie zu den einflussreichsten Frauen der Branche, eine Position, um die sie viele Frauen in New York beneideten.

Die Stimme dröhnte in ihrem Kopf: Aber wann hat Steven dir zuletzt das Gefühl vermittelt, deinen Körper zu begehren?

Als sie genau darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass jede Zärtlichkeit zwischen ihnen stereotyp verlief. Die Luft war raus, jedenfalls was das Sexuelle betraf. Monotonie hatte sich in ihre Beziehung geschlichen, ohne dass sie es so richtig gemerkt hatte.

Was Nathanael betraf, so konnte es nur der Reiz an einer flüchtigen sexuellen Affäre sein, weil sie das Gefühl vermisste, sich begehrt zu fühlen. Sie durfte ihn auf keinen Fall wiedersehen. Wer weiß, wie weit sie sonst ginge, wenn sie alle Hemmungen in überschäumender Lust verlor. Hastig drehte sie sich um und eilte zu ihrem Wagen.

«Pass auf dich auf! Das nächste Mal ist vielleicht niemand da, der dich rettet», rief er hinter ihr her.

Mit Tränen in den Augen drängte Tessa sich an der Warteschlange vorbei zu ihrem Wagen. Sie hatte gehofft, er würde ihr folgen, aber er tat es nicht. Die Enttäuschung darüber brannte in ihrem Herzen wie Feuer. Es konnte doch nicht sein, dass ihr das so viel ausmachte? Das ließ nur den Schluss zu, dass zwischen ihr und Steven etwas nicht stimmte, etwas, das ihr nie bewusst geworden war. Leidenschaft und Begierde besaßen für sie offenbar mehr Bedeutung, als sie bislang angenommen hatte.

Alles in ihrem Kopf begann sich zu drehen. Sie hätte nicht hierher kommen sollen. Erschöpft sank sie aufs Wagenpolster und lehnte den Kopf zurück.

Der Bus stand noch immer an derselben Stelle, weil ein Wagen von hinten in ihn hineingefahren war. In der Zwischenzeit hatten sich zahlreiche Schaulustige um ihn gruppiert. Polizeisirenen ertönten. Der Busfahrer stand mit dem Fahrer des anderen Wagens zusammen. Er wirkte sehr aufgebracht und gestikulierte wild, während sein Gegenüber mit hängendem Kopf vor ihm stand und fassungslos den Kopf schüttelte.

Tessas Blick glitt weiter zu dem Punkt, an dem sie vorhin gestanden hatte, bevor sie gestoßen worden war.

Seine roten Augen stachen aus der Menge heraus. Er sah starr zu ihr herüber. Sein Blick schien sie durchbohren zu wollen. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Er war es gewesen, der sie vor den Bus geschubst hatte, der Kerl von gestern Abend. Da war sie sich sicher. Sie musste hier weg, bevor er einen weiteren Versuch startete, sie umzubringen.

Mit zittrigen Fingern drehte sie den Schlüssel im Zündschloss um und lenkte den Wagen aus der Parklücke.

Tessa war noch immer verstört, als sie wieder in ihre Wohnung zurückkehrte. Wenigstens fühlte sie sich hier sicher.

Während sie Kaffeepulver und Wasser in die Kaffeemaschine schüttete, dachte sie an Nathanael.

Seltsamerweise hatte sie sich noch nie so beschützt gefühlt wie in seinen Armen. Wie leicht er sie über die Straße getragen hatte, als wäre sie nicht schwerer als eine Katze. Tessa war zwar schlank, aber sie besaß keine Modelmaße. Sein muskulöser Körper dicht an dem ihren, seine leidenschaftlichen Küsse … Sie durfte nicht mehr daran denken.

Gerade mal einen Tag war Steven fort und schon spielten ihre Hormone verrückt, nur weil sie Nathanael erneut begegnet war. Aber weshalb hatte sie der Abschied von ihm geschmerzt?

Sie war verängstigt, verunsichert und einsam und dadurch leicht zu beeindrucken gewesen, zog sie das Fazit aus ihrer Begegnung.

Sie wanderte mit der Tasse ins Wohnzimmer hinüber und schaltete den Fernseher ein, um sich abzulenken. Herrgott, sie musste diese unselige Episode Nathanael vergessen. Schluss, aus und vorbei, bevor es begonnen hatte. Aber sie wusste, dass sie noch eine Zeit lang an ihn denken würde.

Als sie die Bilder eines weiteren Selbstmordes über den Bildschirm flimmern sah, knipste sie den Fernseher wieder aus. Das nicht auch noch! Arbeit würde sie auf andere Gedanken bringen. Sie setzte sich an den Laptop und schaltete ihn ein.

Während sie im Internet die Börsenkurse in Europa studierte, musste sie immer wieder an Hazel denken. Was mochte bei der Séance geschehen sein? Wer hatte außer ihr noch daran teilgenommen? Oder war sie etwa doch nicht hingegangen?

Wollte sie mehr über diesen schicksalhaften Abend erfahren, musste sie zur Wohnung ihrer Freundin fahren, zu der sie einen Schlüssel besaß.

«Für Notfälle», hatte Hazel damals gesagt und ihr den Schlüssel in die Hand gedrückt.

Seit Jahren ruhte er in Tessas Tresor. Ihn zu benutzen war, wie in die Intimsphäre der Freundin einzudringen. Doch Hazel war tot, und wenn sie Beweise für einen Mord sammeln wollte, würde sie nicht darum herumkommen.

Es klingelte an der Haustür. Wieder zuckte sie zusammen. Sie benahm sich wie ein schreckhafter Hase. Nathanael konnte es nicht sein, denn er kannte ihre Adresse nicht. Oder war er ihr heimlich gefolgt?

Tessa spähte durch den Spion und atmete auf, als sie ihren Stiefbruder vor der Tür stehen sah. Lächelnd öffnete sie die Wohnungstür.

«Ernest, ich bin so froh, dich zu sehen», sagte sie und fiel ihm um den Hals. Seine vertraute Nähe tat unglaublich gut.

Lachend befreite er sich aus der Umarmung. Seine elfenbeinfarbenen Zähne glänzten wie Perlen im kaffeebraunen Gesicht.

«Hey, so stürmisch hast du mich noch nie begrüßt. Ist was passiert?»

«Komm rein, dann erzähle ich dir alles.»

Tessa warf einen Blick über seine Schulter. Noch immer fühlte sie sich beobachtet. Sie suchte jeden Winkel des Hausflures ab. Ob der Kerl mit den rot glühenden Augen ihr gefolgt war? Bei dieser Vorstellung kribbelte es unangenehm in ihrem Bauch. Aber alles war wie immer.

Sie schob ihren Stiefbruder in die Wohnung und schloss hastig hinter ihm die Tür.

Ernest trug wie immer das gleiche Outfit, das aus einer schwarzen Hose und einem ebenso schwarzen Pullover bestand. Nur der weiße Kragen seines Hemdes hellte das Bild auf. Auf den ersten Blick hätte man ihn fast mit Martin Luther King verwechseln können, nur dass Ernest keinen Bart trug.

Er folgte ihr ins Wohnzimmer und machte es sich auf der Couch gemütlich. Jede seiner Bewegungen war bedächtig und unaufdringlich. Seine Aura strahlte Ruhe aus und vermittelte Geborgenheit. Er konnte stundenlang zuhören, ohne desinteressiert zu wirken. Genau das, was Tessa jetzt brauchte.

Die Beine lässig übereinandergeschlagen sah er sie erwartungsvoll aus seinen schwarzen Augen an. Mit Steven konnte sie nicht so zusammensitzen und zwanglos reden. Er stand stetig unter Strom, Termine hier, Termine dort, immer von einem zum anderen hetzend. Ihr erging es genauso. Sie lebten für ihren Job. Abends fiel sie todmüde ins Bett. Da blieb keine Zeit für ein Gespräch über ihre Beziehung oder Sex. Und sie hatte es bisher auch nie vermisst.

Wenn sie mit Ernest zusammen war, verpuffte jeder Stress durch seine stoische Ruhe. So war es schon immer gewesen. Als er und sein Dad damals bei ihr und ihrer Mom eingezogen waren, nahm sein sanftmütiges Wesen sie ein. Später war sie sogar ein wenig verliebt in ihn gewesen. Eine Teenagerschwärmerei, die sich schnell wieder legte, als sie begriff, dass Ernest nur für seinen Glauben lebte und eine Frau erst an zweiter Stelle rangierte.

Tessa holte eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser aus der Küche. Ernest trank nie etwas anderes.

Als sie eingoss, zitterten ihre Hände. Er nahm ihr die Flasche ab. «Ich mach das schon.»

Sie setzte sich ihm gegenüber und knetete ihre Finger.

«Wie geht es dir nach Hazels Tod?», fragte er leise und betrachtete sie mit sorgenvoller Miene.

Es hatte keinen Zweck ihn anzulügen. Er kannte sie gut genug, um sie zu durchschauen. «Schlecht. Ich kann und will es noch immer nicht glauben.»

«Alles braucht seine Zeit. Du hast doch nicht etwa Schuldgefühle, weil sie sich das Leben genommen hat?» Ernest trank einen Schluck und sah sie forschend über den Rand des Glases hinweg an.

«Hazel hat sich nicht umgebracht.» Ihre Stimme klang barscher als beabsichtigt. «Hat Steven das behauptet?»

Ernest nickte.

«Er hat mir gesagt, dass du dich wehrst, ihren Freitod zu akzeptieren.»

«Weil es keiner war! Ich habe unglaubliche Dinge beobachtet …» Tessa zögerte nur einen Moment, bis es aus ihr wie ein Sturzbach heraussprudelte. Auch den Vorfall vom Vormittag erwähnte sie. Den Kuss verschwieg sie ihm allerdings.

Ernest hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen.

«Puh.» Er steckte den Finger in seinen Kragen und weitete ihn, als würde er ihm die Luft abschnüren. Dann lehnte er sich zurück. «Das hört sich alles wirklich unglaublich an.»

«Hältst du mich jetzt für verrückt? Steven glaubt, ich halluziniere wieder. Wie damals nach dem Überfall. Aber glaube mir, das ist nicht so. Es ist ganz anders.» Sie forschte in seinem Gesicht, wollte wissen, was er dachte. Ernest kaute auf der Unterlippe.

«Ja, ich glaube dir, auch wenn es fantastisch klingt. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir Menschen nicht erklären können. Als Priester glaube ich an Wunder. Gottes Wirken hier unten auf der Erde ist mächtiger, als wir denken. Versprich mir, dass du auf dich achtgibst. Wenn der Kerl dich auf die Straße gestoßen hat, wird er es vielleicht noch einmal versuchen.»

Er lehnte sich vor und legte seine Hand auf ihre. Seine Berührung und seine Worte beendeten ihr Zittern. «Danke, dass du mir glaubst. Ich glaube auch, dass er es wieder versuchen wird.»

Ihre Angst war in diesem Augenblick wieder präsent und ballte sich in ihrem Magen zu einem harten Klumpen zusammen. Diesem Kerl oder besser gesagt diesem Wesen musste das Handwerk gelegt werden. Doch dafür brauchte sie Beweise.

«Hast du deine Vermutungen der Polizei mitgeteilt?»

Tessa schüttelte den Kopf. Die hätten ihr doch nie geglaubt.

«Solltest du aber. Wir können morgen zusammen auf das zuständige Revier gehen.»

«Das ist nicht nötig, ich schaff das schon allein. Aber danke für dein Angebot.»

Sie drückte seine Hand, bevor er losließ. Aber sie wusste, dass sie die Polizei nicht aufsuchen würde. Sie wollte sich nicht lächerlich machen, wie damals nach ihrem Unfall, als sie wegen ihrer Halluzinationen fast täglich aufs Revier gelaufen war.

«Es hat mir schon geholfen, dass du hier warst und mir zugehört hast. Es ist nur so … Wenn Steven nicht da ist, achte ich viel zu sehr auf jedes Geräusch.» Sie lachte unsicher auf.

«Das ist doch normal. Ruf mich an, wenn du dich ängstigst, egal zu welcher Uhrzeit.» Er lächelte ihr aufmunternd zu und hob demonstrativ sein Handy in die Höhe.

«Sag das nicht zu laut, sonst schmeiße ich dich jede Nacht aus dem Bett.»

«Versprich es mir», sagte er ernst.

«Ja, ich verspreche es.»

Ernests Gesichtszüge waren angespannt, die Kiefer fest aufeinandergepresst. Tessa spürte, dass auch ihn etwas bewegte.

«Du hast doch auch etwas auf dem Herzen, oder?», fragte sie.

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. «Nicht so wichtig», wimmelte er ab.

«Das glaube ich dir nicht. Rück schon raus. Du hast mir die ganze Zeit über zugehört, jetzt bin ich dran.» Liebevoll tätschelte sie seine Hand, aber er druckste noch immer herum.

«Die Kirche müsste renoviert werden», gab er schließlich zu, «von den Wänden bröckelt langsam der Putz und im Gebälk sitzt der Holzwurm. Mein Vorgänger hat nicht viel machen lassen, jetzt zahle ich die Rechnung.»

Mit einem tiefen Seufzer stützte er den Kopf in die Hände. «Ich kann keine Nacht mehr richtig schlafen. Irgendwann kracht uns noch das Dach auf den Kopf. Die Handwerker meinten, wenn ich nicht bald etwas unternähme, müsste ich die Kirche schließen.»

Wie egoistisch sie gewesen war, ihre Probleme bei ihm abzuladen, wo er doch selbst genug Sorgen hatte. «Aber das wäre doch nur für die Zeit der Renovierung.»

Ernests Brauen schossen nach oben, bevor er mit dem Kopf schüttelte. «Ich befürchte nein. Wir haben nicht genug Geld, um die Renovierung zu bezahlen. Wo soll ich dann einen Gottesdienst abhalten? Die Kirchengruppen führen? In meinem kleinen Pfarrhaus?»

Die Summe, die er ihr nannte, ließ ihren Atem stocken. Und das für ein Kirchendach. Wie gern hätte sie ihrem Stiefbruder finanziell unter die Arme gegriffen, aber sie besaß kein großes Vermögen. Sie hätte ihre Aktien verkaufen müssen und das bei den schlechten Kursen. Ein Verlustgeschäft. Und selbst wenn die Kurse sich verdoppelt hätten, würde die Summe nicht mal die Hälfte der Kosten abdecken.

Aber Ernest hatte recht, das Pfarrhaus war viel zu klein. «Vielleicht könnt ihr einen Saal mieten?»

«Tessa, wir haben kein Geld! Auch nicht für die Miete. Ich bete jeden Tag zum Herrn, er möge mir einen Weg aus der Misere zeigen.»

«Hey, wer von uns hat eigentlich den besseren Draht nach oben? Hast du nicht neulich von einem Wunder gesprochen? Warum sollte das nicht auch dir widerfahren? Du hast gesagt, man muss nur fest genug daran glauben.»

Sie wollte ihn aufmuntern, ihm Hoffnung geben, und es schien zu wirken, denn seine Miene hellte sich auf.

Einen Moment überlegte sie, Steven um Geld für Ernest zu bitten, aber sie bezweifelte, dass er es für eine kirchliche Einrichtung zur Verfügung stellen würde. Er war kein gläubiger Mensch und sah auf die Geistlichen herab, die seiner Meinung nach aus Machthunger Menschen manipulierten. «Angst ist das Mittel zum Zweck. Wer möchte schon seine Seele in der Hölle brennen sehen? Also gehorchen die Menschen den Gesetzen der Kirche», waren seine Worte gewesen. Als Kind war Steven von seinen Eltern dazu gezwungen worden, ein kirchliches Internat zu besuchen. Er hatte es gehasst: die strengen Regeln und Bestrafungen, das ständige Beten und die Priester, die ihre wahren Gefühle hinter einer freundlichen Miene versteckten.

Ernest lächelte sie an. «Vielleicht hast du recht und es geschieht wirklich ein Wunder.»

Sie redeten noch eine Weile über ihren Job, bis Ernest sich verabschiedete.

«Ich muss noch ins Hospiz.» Er warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr und hob die Brauen.

«Mrs Bradshaw?»

Er nickte traurig. Mrs Bradshaw war eine alleinstehende Dame von Mitte achtzig, die sich vor ihrer Krebserkrankung in Ernests Gemeinde sehr engagiert hatte. Jetzt lag sie im Hospiz und wartete auf den Tod. Ernest besuchte sie täglich.

Er küsste Tessa flüchtig auf die Wange, bevor er ihre Wohnung verließ.

Als er gegangen war, blieb sie nachdenklich zurück. Nachdem sie ihm von ihren Begegnungen erzählt hatte, war er seltsam still geworden. Selbst als sie von ihrem Job und dem ganzen Stress gesprochen hatte, hatte er geschwiegen.

Er wirkte geistig abwesend, als wenn ihn etwas beschäftigte. Natürlich konnte es an seinen eigenen Sorgen wegen seiner Gemeinde oder auch an dem bevorstehenden Besuch im Hospiz liegen, aber es schien Tessa dennoch seltsam. An sich war er mit seiner Aufmerksamkeit immer ganz bei der Person, mit der er sprach. So hatte sie ihn noch nie erlebt.

Blutengel: Nathanael

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