Читать книгу Die Legenden der Spiralwelten - Die obere Spirale - Kim S. Talejoy - Страница 14

Aufbruch

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Waya, die Schamanin der oberen Spirale, zupfte bedächtig kleine Runen aus ihrem Haarschmuck und breitete sie am Boden aus. Lange, schmale Tierhäute mit aufgefädelten Knochen verdeckten ihr Gesicht und ihren Körper, bunte, mit Tierfellen verwobene Federn und Knochen steckten in ihrem Haar. Aus ihrer Rocktasche zog sie ein schwarzes Säckchen hervor und öffnete es. Dann streute sie den Inhalt, etwas größere Runen, ebenfalls auf den Boden.

Sie entzündete dürre Äste einer Trauerweide und warf kleine Stücke von Tannenzapfen und getrockneten Pilzen in die Glut. Ein beißender Geruch von Wald und Schimmel durchzog ihre Hütte.

Waya nahm einen kleinen Kessel, füllte ihn mit Weidenstöcken, Kräutern und Wasser und setzte ihn auf das Feuer.

Bilder von zwei jungen Menschen blitzten in ihrem Kopf auf; sie ahnte, nein, sie wusste, dass die beiden Menschen der mittleren Spirale dringend ihre Hilfe brauchten! Aber dunkle Kräfte schwächten ihre seherischen Fähigkeiten, sie war nicht mehr die Schamanin, die sie einst gewesen war. Betrübt ließ sie ihren Kopf hängen.

»Ragmal, der elende Feigling, lässt uns alle im Stich!«, schimpfte sie vor sich hin. »Seine weise Kugel wüsste bestimmt Rat!«

Nach und nach streute sie weitere Kräuter in ihren Topf und fügte noch ein paar Körner einer eingetrockneten Frucht hinzu. Das Wasser kochte und die Weidenstöcke und Kräuter blubberten munter in dem Gefäß. Behutsam fächelte Waya den heißen Dampf ihrer Brühe über die Runen. Rote Schriftzeichen flackerten auf. Waya lächelte. Noch waren ihre Runen stark genug - noch! Die magischen Zeichen waren Wayas Schatz! Einer ihrer Vorfahren, ein mächtiger Schamane des goldenen Zeitalters, hatte Knochen sämtlicher Lebewesen der drei Spiralen gesammelt und sie mit Magie getränkt. Das Wissen der Alten schlummerte in diesen Runen.

Waya nahm den Kessel vom Feuer. Sie benetzte ein Tuch mit dem Gebräu und betupfte ihre Stirn, ihre Nase und ihre Augen. Dann träufelte sie noch ein wenig Flüssigkeit in ihre Ohren. Der Trunk schärfte ihre Sinne. Die restliche Flüssigkeit füllte sie in ein kleines Fläschchen, verschloss es, schnürte ein rotes Band um den Flaschenhals und verstaute es in ihrer Tasche.

Die Schamanin setzte sich auf den Boden. Liebevoll strich sie über ihre Runen.

»Stimmt es, dass das Geschwisterpaar bald kommen wird?«, murmelte sie. Die Knochen rückten zusammen, sie glitzerten und fremde Zeichen loderten auf.

»Sehr gut! Vielleicht sind es jene Geschwister, die uns Odgud, unser weiser Gott, vorhergesagt hat. Das Böse ist schon weit vorgedrungen, wir müssen ihm Einhalt gebieten!«

Die dürren Äste zischten und brodelten im Feuer. Eine helle Flamme wirbelte in der weißen Glut. Ein kleines Holzscheit sog gierig das Feuer in sich auf. Waya hob ihre Hand und streckte ihren Zeigefinger aus. Die Flamme fuhr in den Arm und verschwand in ihrem Körper. Wayas Blicke versanken in den Runen. Sie fühlte, dass sie irgendetwas übersehen hatte. Aber was?

Leises Raunen drang aus der Erde. Plötzlich rückten die Runen zur Seite. Ein hässlicher Wurm kroch aus dem Boden. Er war aalglatt und schleimig.

»Ein Nesmag!«

Langsam schlängelte sich der Wurm über die Runen. Er inspizierte jedes einzelne Zeichen und schüttelte angewidert seinen glitschigen Kopf. Jene Knochen, die er berührt hatte, wurden schwarz und zerfielen zu Staub. Dunkler Schleim überzog den Boden und vermischte sich mit dem trockenen Lehm zu einem stinkenden Brei. Waya rührte sich nicht, versteinert hockte sie am Boden. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn, ihr Atem war dünn und flach.

Der Wurm kroch um ihre Fersen, schlängelte sich um ihre Zehen und bahnte sich einen Weg zu ihren Schenkeln. Immer wieder hob das kleine Ungeheuer seinen Kopf und äugte neugierig in der Gegend umher. Gierig leckte es seine Lippen. Plötzlich reckte der Wurm seinen Kopf in die Höhe, starrte Waya an und grinste. Geschickt hantelte er sich an den Fellstreifen von Wayas Umhang hoch. Langsam kroch er bis zu ihrem Mund, ließ sich zwischen Nase und Oberlippe nieder und streckte seinen Kopf vor. Dann schlüpfte er in Wayas Nasenloch. Die Schamanin presste ihren Atem aus, aber der Nesmag robbte weiter. Wie gerne hätte Waya diesem elenden Vieh den Garaus gemacht, aber sie durfte ihn nicht töten. Das Schicksal Buntopias lag in ihren Händen. Lieber würde sie sterben!

Plötzlich zischte eine Flamme durch die Hütte und erfasste den Wurm, der schon halb in Wayas Nase verschwunden war. Das Tier schrie auf, die Glut verwandelte ihn in eine lodernde Schleimmasse. Ein spitzes Röcheln gurgelte aus seinem zahnlosen Maul; schließlich erfassten die Flammen auch seinen Kopf und bohrten sich in sein Gehirn. Schwarzer Rauch stieg aus Wayas Nase und der verkohlte Körper des Wurmes bröckelte heraus.

Die Schamanin keuchte. Schweiß tropfte auf ihren Umhang und versickerte in den Tierhäuten. Sie drehte sich um – von wo war diese Flamme gekommen; die Flamme, die ihr Leben gerettet hatte. Ragmal, der Dorfälteste, stand hinter ihr und lächelte zufrieden.

»Nesmags!«, flüsterte sie schwach.

»Ich habe sie gefühlt. Ich lasse dich niemals im Stich, auch wenn du es glaubst! Nur das Feuer der Freiheit konnte dich retten!«

»Das Feuer der Freiheit! Wie gerne würde ich diese Magie beherrschen!«, fauchte Waya zornig und fluchte leise vor sich hin.

»Du weißt, dass Odgud uns beiden das Feuer der Freiheit geben wollte. Denn nur diese Flammen verhindern, dass sich Nesmags oder andere dunkle Kreaturen wie eine Seuche ausbreiten!«

Waya nickte betrübt. Sie wusste nur allzu gut, wer es verhindert hatte, dass auch sie die Kraft dieses mächtigen Feuers besaß – Valhator!

»Valhator! Immer wieder Valhator!«, schrie sie zornig und stampfte mit ihrem Fuß auf. »Ich kann diesen Namen nicht mehr hören. Ständig kommt uns der schwarze Magier in die Quere und durchkreuzt unsere Pläne. Verrotten soll er in seinem Gefängnis; verfaulen und vermodern! Früher, im goldenen Zeitalter, hätte es das nicht gegeben. Damals haben sich alle, auch Valhator, an unseren Codex gehalten!«

»Beruhige dich, Waya, du kannst es nicht ändern. Aber bedenke, Odgud hat bestimmt, dass das Feuer der Freiheit nur einmal in hundert Jahren entfacht werden darf. Sei zufrieden, dass wenigstens ich diese Magie beherrsche; das muss für den Moment genügen!«

Waya nickte. »Ich danke dir, Ragmal, ohne dich wäre ich verloren gewesen«, erwiderte sie erleichtert und gleichzeitig beschämt. Wieso hatte sie an Ragmal gezweifelt?

»Diesmal habe ich es noch geschafft, die Kraft dieser mächtigen Flammen zu entfachen. Ob es irgendwann in hundert Jahren ein weiteres Mal möglich ist, weiß ich nicht. Ich bin schwach, wir sind alle zu schwach.«

»Wir müssen etwas tun, wir müssen stärker werden. Ich habe den Sinnestrunk der Alten gebraut. Vielleicht hilft er, aber noch wirkt er nicht!«

»Ich bin froh, dass du den Nesmag nicht erschlagen hast, Waya. Das hätte schreckliche Folgen gehabt!«

»Ja, ich weiß, ich hätte nur neue Nesmags erschaffen. Odgud sei Dank, dass mir der Wurm nicht meine letzte Magie entrissen hat!«, murmelte Waya und schloss die Augen.

Ragmal hockte sich neben Waya. Behutsam drückte er ihr einen Becher mit dampfender grüner Flüssigkeit in die Hand.

»Trink, du musst zu Kräften kommen!«

Angewidert starrte die Schamanin in das ekelige Gebräu. Eine warme Dampfwolke kräuselte sich vor ihren Augen. Die Gesichter eines Mädchens und eines Jungen flackerten im Nebel. Die beiden waren im Wald, sie suchten ihre Eltern. Tränen der Verzweiflung liefen dem Mädchen über die Wangen. Aber sie hatte ein Buch in der Hand - ein Buch, das Wayas ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Schamanin starrte weiter in die Dampfwolke. Das Buch öffnete sich. Tangamen, schillernde Buntdrachen, Veculaten, die schwarzen Vogelmenschen mit den spitzen Schnäbeln, und Equinien, prächtige weiße Einhörner, schwebten kurz aus den Seiten und verschwanden wieder. Aber auch Skratoren, hässliche Gnomtrolle, und Nesmags, schleimige Nasenwürmer, flackerten auf.

»Werden sie es schaffen? Werden diese beiden Kinder uns retten können?«

»Wir wissen es nicht«, antwortete Ragmal leise, »wir dürfen nur hoffen. Die beiden, und nur die beiden, haben unsere Zukunft und unser Überleben in der Hand. Odgud, unser weiser Gott, ist Herr unseres Schicksals. Wenn er diese Kinder zu uns schickt, dann ist es jenes Geschwisterpaar, auf das wir schon so lange warten.«

»Bist du dir da sicher, Magier?«

»Nenn mich nicht so. Meine Kräfte sind schon lange versiegt. Damals, vor langer Zeit, habe ich meinem Stand Ehre gemacht; ich habe es mit allen aufgenommen, ich war unbesiegbar. Aber schau doch, was aus mir geworden ist!«

»Immerhin bist du der Dorfälteste, die Guildhar zollen dir Respekt!«

Ragmal erhob sich, stützte sich auf seinen Stock und ging zur Tür.

»Was nutzt mir der Respekt der Guildhar, wenn ich mitansehen muss, wie mein größter Feind unsere Heimat vernichtet?«

»Befrage deine weise Kugel«, flüsterte Waya und sah Ragmal bittend an. Der Dorfälteste schüttelte seinen Kopf.

»Die Kugel ist Vergangenheit, meine Zauberkräfte sind Vergangenheit. Wir müssen unser Wissen nutzen und sonst nichts. Nur daraus können wir noch Kraft schöpfen!«

Ragmal verschwand in der Dunkelheit so leise wie er gekommen war.

Sanft legte Waya ihre Hände auf die Knochenasche und schloss die Augen. Der harte Lehmboden knirschte. Die Alte fühlte die Geburt neuen Lebens in ihren Runen. Die Kraft der Schamanin und der zerfallenen Knochen wurden eins. Eine regenbogenfarbene Spirale kräuselte sich um die Asche. Der Staub nahm die Gestalt der zerfallenen Knochen an; er wurde fest und hart.

Waya lächelte zufrieden, sie hatte es geschafft!

Eine dunkle Wolke trieb ein Blatt in Wayas Hütte. Es legte sich auf ein kleines, fast unsichtbares Loch. Unter dem Blatt regte sich etwas. Ein zweiter Nesmag schob seinen Kopf aus dem Erdreich.

»Du musst an die Runen kommen und sie der Alten wegnehmen. Dann ist ihre Macht gebrochen!«, flüsterte eine Stimme im Kopf des Nesmags. Der Wurm nickte. Leise wälzte er sich im Erdreich. Bald hatte er dieselbe Farbe wie der Boden angenommen. Die Alte würde ihn nicht entdecken!

»Ich muss Ragmal überzeugen, dass er die weise Kugel der Legenden zu neuem Leben erwecken kann«, grübelte Waya.

Sie nahm ihr schwarzes Täschchen mit den Runen. Irgendwie fühlte es sich anders an als sonst. Behutsam tastete die Schamanin ihren Schatz ab; die magischen Knochen schlummerten friedlich. Sie band eine Schnur um den Beutel, um keines ihrer wertvollen Stücke zu verlieren und verstaute ihn in ihrer Rocktasche.

Waya zögerte. Tief verborgen in ihrem Schrank ruhte noch eine besondere Rune – die Rune der Alten! In ihr vereinten sich die Kräfte und das Wissen aller Schamanen. Niemand wusste, dass sie dieses wertvolle Kleinod besaß.

Vor langer Zeit war die Rune der Alten verschwunden. Man munkelte, dass der dunkle Herrscher sie entweder in seinen Besitz gebracht oder sie zerstört hatte. Aber dank ihres Vaters war Waya in ihrem Besitz. Der Preis dafür war hoch gewesen; ihr Vater hatte die Rune mit seinem Leben bezahlt. Ratlos zog Waya ihre Augenbrauen in die Höhe und öffnete den Schrank. Ganz vorsichtig zog sie ihr wertvollstes Stück heraus und steckte es in die Tasche ihres Umhangs.

»Ragmal muss den Geschwistern helfen!«, murmelte sie und verließ ihre Hütte.

Eine Windböe schlug ihr ins Gesicht, das Eis knackte unter ihren Füßen.

Dunkle Nebelschwaden füllten den Wald und das Tal der Guildhar. Eisige Finger krallten sich an die Bäume, eine dünne Schicht Raureif überzog die Blätter und ließ das leise Singen des Laubes verstummen. Vergeblich bemühte sich der Mond, das Dickicht des Grau mit seinem Licht zu durchdringen.

»So ein Mistwetter!«, schimpfte Waya vor sich hin. »Heuer setzt der Winter besonders früh ein!«

Langsam stapfte sie über den steinigen Weg. Es war rutschig und glatt und sie hatte Mühe, auf den eisigen Steinen und Wurzeln nicht den Halt zu verlieren. Immer wieder blieb sie stehen und vergewisserte sich, dass sie allein war. Niemand durfte sie sehen, ihre Mission war geheim! Nur der Nebel folgte ihr.

Ragmals Hütte lag mitten in dem kleinen Dorf. Ein kleines Feuerchen loderte am Marktplatz und erhellte das Dorfzentrum. Alles war ruhig, kleine Rauchschwaden quollen aus Ragmals Schornstein.

Waya drückte gegen den schmalen Riegel. Die Holztür knarrte und ging auf. Die Schamanin trat ein.

Ragmal hockte auf einem klapprigen Stuhl. Die Brille saß schief auf der Nase, seine Augen waren geschlossen, er schnarchte leise.

»Ragmal«, rüttelte ihn Waya sanft, »wir müssen den Kindern helfen. Sie schaffen es alleine nicht!«

Scharf zog Ragmal die Luft durch die Nase und grunzte. Er öffnete die Augen.

»Was? Wieso? Warum müssen wir den Kindern helfen?«, murmelte Ragmal schlaftrunken und rieb sich die Müdigkeit aus den Augen.

»Ich habe eine dunkle Vorahnung, Ragmal, die Geschwister brauchen dringend unsere Hilfe! Deine Kugel der Weisheit muss uns helfen!«

»Ich habe dir doch schon in deiner Hütte gesagt, dass ich der Magie entsagt habe! Meine Kräfte sind erloschen, ich bin schwach!«

»Jammere nicht immer nur, dass du zu schwach bist«, schimpfte Waya zornig und schlug Ragmal heftig auf die Schulter. »Ich bin auch eine Guildhar und werde von den Dorfbewohnern immer nur abwertend angeglotzt. Deswegen lasse ich mich aber nicht davon abbringen, mein Wissen und meine Kräfte zu nutzen. Reiß dich endlich zusammen und werde dir bewusst, dass Magie nach wie vor in dir schlummert!«

Ragmal seufzte schwer. Er wusste, dass Waya Recht hatte, aber er hatte Angst, seine Fähigkeit wieder zu neuem Leben zu erwecken.

»Geh endlich und hol die Kugel«, befahl Waya und lächelte ihn freundlich an.

Ragmal zog seine Decke aus dem Bett und schlurfte zum Fenster.

»Eigenartig! Vor Kurzem war der Himmel noch klar und jetzt ist alles voller Nebel!«

»Es ist auch ziemlich kalt geworden.«

Waya half Ragmal, die Decke am Fensterrahmen zu befestigen.

»Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, grinste der Alte als er ihren verwunderten Blick bemerkte, »niemand soll sehen, was wir hier machen!«

Ragmal kniete nieder und zog eine staubige Kiste unter dem Bett hervor. Er öffnete den Deckel. Behutsam schob er Stofffetzen zur Seite und wühlte in alter muffiger Kleidung. Eine Kugel kam zum Vorschein. Sie ruhte auf einem schwarzen, sich nach unten verjüngenden Sockel. Liebevoll strich Ragmal über die glatte Oberfläche und wischte vorsichtig den Staub ab. Die Kugel der Legenden wurde warm und leuchtete in sanften Pastelltönen. Bunte Spirallinien kreisten im Inneren, die Spitze eines roten Dreiecks flackerte auf und fing die Linien ein.

Vorsichtig stellte Ragmal die Kugel auf den Tisch. Die Spiralen bildeten ein buntes Medaillon, die Hülle der Kugel schimmerte wie azurblaues Wasser, die Farben des Regenbogens spiegelten sich im Glas.

Waya und Ragmal setzten sich auf die zwei einzigen Stühle der kleinen Hütte. Waya kramte in ihrer Rocktasche und zog den Beutel mit den Runen hervor.

»Wir werden es nur gemeinsam schaffen«, murmelte der Dorfälteste und schaute Waya bittend an.

»Deine magischen Kräfte sind nicht verloren. Erwecke sie, Ragmal, sie schlummern tief in dir!«

Der Alte nickte. Ein zufriedenes Lächeln überzog Wayas Gesicht. Sie hatte es geschafft! Ragmal starrte in die Kugel. Seine Augen wurden glasig, seine Pupillen weit. Er sah einen Keller in einem Haus, er erblickte eine schwere Stahltür mit Symbolen. Der Zeigefinger eines Mädchens lag auf einem Zeichen.

»Du weißt, dass die beiden nur diese einzige Chance haben!«, stellte Waya fest und begann, Lieder ihrer Vorfahren zu summen. Ragmal fühlte Wayas Gedanken; er schloss seine Augen und wurde eins mit ihr.

Gierig sog die Kugel der Legenden die neuen Kräfte ihres Meisters ein. Sie strahlte und glänzte. Wohlige Laute drangen aus ihr, langsam erwachte sie zum Leben.

»Ragmal, was kann ich für dich tun? Lange hast du meine Kunst nicht in Anspruch genommen!«, flüsterte die Kugel vorwurfsvoll.

Ein Gefühl wohliger Zufriedenheit durchflutete den Dorfältesten, er dachte an die vergangenen Zeiten - damals, als das Wissen der Kugel und seine Kräfte dem Wohle der buntopianischen Völker dienten.

»Weise Kugel der Legenden«, begann der Magier, »Odguds Prophezeiung erfüllt sich! Das Geschwisterpaar wird kommen, aber wir brauchen deine Hilfe!«

Schwacher Nebel durchzog die Kugel.

»Ich werde mein Bestes geben, aber ich fühle, dass dunkle Kräfte versuchen, in mich einzudringen. Das Böse ist stark, sehr stark. Für diese schwierige Aufgabe brauche ich...«, die Stimme in der Kugel stockte und seufzte verzweifelt, »... die Rune der Alten! Aber ich zeige euch, wofür meine Macht noch ausreicht!«

Die Kugel gab den Blick auf Daria und Micha frei. Die Geschwister standen vor einer hässlich glänzenden Stahltür, Zeichen loderten kurz auf. Das Mädchen fuhr die Linien und Zeichen ab. Bald war sie am Ende, nur noch das letzte Zeichen und dann würde sich die Tür öffnen. Die Reise des Geschwisterpaares stand unmittelbar bevor.

Plötzlich blitzte eine schwarze Fratze in der Kugel auf. Sie grinste listig und leckte genussvoll über ihre Lippen. Ein dunkler Fleck erschien auf dem glänzenden Stahl und zog Darias Finger in seinen Bann. Der schwarze Punkt wurde größer, er quoll aus dem Stahl empor, packte Darias Hand und hielt sie fest.

Erschrocken riss Waya ihre Augen auf.

»Ragmal, schnell, hilf den beiden, sonst sind sie verloren!«

Der Zauberer öffnete seine Augen. Er starrte in die Kugel, aber er sah - nichts! Das Leben in der Kugel war erloschen.

»Der Nebel Valhators!«, schrie er zornig und drosch mit seiner Faust auf den Tisch. »Diesmal kommst du mir nicht in die Quere!«

»Alter Mann, du bist schwach! Glaubt ihr beiden wirklich, dass ich so schnell aufgebe? Waya, deinen Wunsch kann ich nicht erfüllen – so schnell verrotte und verfaule ich nicht!«, höhnte die Fratze. »Ich bin nicht allein! Niemand kann Morgud und mich aufhalten!«

Wütend drückte Ragmal die Kugel zusammen, das Glas knirschte bedrohlich unter der Kraft seiner Hände. Leichte Risse zogen über die gläserne Oberfläche.

»Der Sieg der dunklen Herrschaft steht fast bevor! Wenn die Kinder tot sind, reiße ich ihnen die fehlenden Stücke heraus. Nur noch ein paar kleine Schritte, und das, was mir gehört, ist mein!«, höhnte die Fratze weiter und verschwand.

»Ich kann den Geschwistern nicht helfen«, keuchte Ragmal erschöpft. »Das Böse ist zu stark. Valhator und Morgud - ein Albtraum! Die Kraft der Kugel ist zerstört. Entweder schaffen es die beiden alleine, oder sie sind verloren«, murmelte Ragmal betrübt und ließ seinen Kopf hängen.

Waya entzündete dünne Äste und beschwor die Kraft der Düfte. Tränen der Verzweiflung rannen über ihr Gesicht, denn sie wusste, dass ihre Runen und die Duftmagie gegen die Macht des dunklen Herrschers keine Chance hatten!

»Wenn wir doch nur die Rune der Alten hätten; sie ist das Einzige, was uns jetzt noch helfen könnte. Aber sie ist verschwunden!«, jammerte Ragmal.

»Sie war niemals verschwunden, sie befand sich immer in meinem Besitz«, erwiderte Waya und zog den Beutel aus ihrem Umhang. »Mein Vater hat sie gerettet, aber es hat ihn sein Leben gekostet. Jetzt ist der Moment gekommen, um meinen Vater zu rächen und ihn so zu ehren, wie es ihm gebührt!«

»Du hast die Rune der Alten?«, rief Ragmal fassungslos.

Waya nickte zufrieden. »Hoffentlich reichen die Kraft deiner Kugel und meiner Rune aus, um den Geschwistern zu helfen.«

Die Rune war dunkelgrau, fast schwarz und roch nach vertrocknetem Fleisch. Waya legte sie neben die Kugel und entzündete ein dünnes Ästchen einer Trauerweide.

Die Rune der Alten erwachte zum Leben, sie pulsierte, ihre Ränder glühten, ein schwacher Schimmer zog durch Ragmals Haus. Augen erschienen auf dem Knochen und wanderten im Raum umher. Sie erblickten Ragmal und sogen gierig den Duft der verbrannten Äste ein.

»Rune der Alten, lass uns eins werden!«, flüsterte die Kugel schwach.

Die Rune rückte näher, bunte Spirallinien erschienen wieder in der Kugel und hüllten mit ihrem Glanz die Rune ein.

»Valhator, du hast wohl einen Helfershelfer mitgebracht?«, fauchte die Kugel plötzlich. Die Spirallinien verdichteten sich und schossen in Wayas Rocktasche. Etwas schrie kurz auf, dann wurde es still. Verbrannte Wurmteile bröckelten aus dem Stoff und landeten neben Wayas Füßen.

»Schon wieder ein Nesmag!«, hauchte die Alte und starrte die leblosen Teile an.

»Diese Kreatur hat sich bei dir eingeschlichen. Valhator gab ihr den Auftrag, deine Runen und vor allem die Rune der Alten zu stehlen und damit deine Macht zu brechen.«

Erneut tauchte die Fratze Valhators in der Kugel auf. Die Rune der Alten wandte sich dem dunklen Magier zu. Bunte Flammenzungen schossen in die hässliche Grimasse. Valhator schrie auf und schleuderte pechschwarze Blitze gegen die Spiralen. Die Spiralen verwandelten sich in Pfeile und trieben zornig ihre Spitzen in das hässliche Gesicht. Ein Pfeil mit einem Widerhaken grub sich in seine Stirn.

»Mehr könnt ihr nicht?«, lachte Valhator hämisch und verschwand.

Die Pfeile verblassten und sanken kraftlos in den Sockel der Kugel.

»Dieser Kampf hat mir alles abverlangt; ich kann euch nicht mehr helfen!«, hauchte die Kugel.

»Die Geschwister sind verloren, wir sind verloren«, murmelte Waya und stützte ihren Kopf in die Hände.

»Vielleicht gibt es noch Hoffnung.«, ermutigte Ragmal die Schamanin, schob die Decke, die das Fenster verhüllte, beiseite und deutete hinaus. »Der Nebel hat sich verzogen. Die Kugel und die Rune der Alten haben Valhators Kraft geschwächt. Jetzt liegt es an Riada!«

»Habt keine Angst«, hörte Daria die Worte ihrer Mutter, »euer Weg ist vorgegeben!«

Die Kapsel stieß in die Dunkelheit, Bäume und Felsen splitterten wie Kleinholz.

Ein heftiger Ruck schüttelte das Gefährt und brachte es in Schräglage.

Micha klammerte sich an einen Sitz und spähte durch eine kleine Luke in die Finsternis. Zwei fremde Schatten klebten an der Außenhülle. Der Fahrtwind erfasste ihre Körper und versuchte, die Eindringlinge von der Kapsel abzuschütteln. Aber die beiden klammerten sich an der glatten Oberfläche fest. Die Kapsel torkelte und schwankte.

Plötzlich erkannte Micha die Schatten. Arno klebte an der Hülle; Hrüdiger an Arnos Beinen. Hilflos baumelten sie in der Luft. Irgendetwas Schwarzes flatterte um Arno. War es sein Mantel oder quoll etwas aus seinem Buckel?

Die Außenhaut der Kapsel wurde dünner und brüchiger. Eine poröse Blase wölbte sich nach außen und drohte jeden Moment zu platzen. Ein Mund stülpte sich aus der Haut und sog Arno und Hrüdiger ein. Ächzend purzelten die beiden auf den Boden; erschöpft, aber lebend lagen sie in der Kapsel.

»Arno, was ist mit deinem Buckel?«, schrie Micha aufgeregt. »Und wie seid ihr auf die Kapsel geflogen?«

Arno antwortete nicht. Bäuchlings lag er auf dem Boden und atmete schwer. Sein Buckel pulsierte schwach. Irgendetwas kam in dem Buckel zur Ruhe.

Die Luft in der Kapsel war schal und stickig. Daria keuchte. Sie hockte zwischen zwei Sitzen, ihre Hände zitterten, ihr Herz raste. Nervös zerrte sie am Kragen ihres T-Shirts, sie wollte Luft, nur frische Luft! Ratlos sah Micha auf seine Schwester und seine beiden Onkeln.

»Mir ist schwindlig, mir wird schwarz vor Augen! Hier ist nicht einmal genügend Platz zum Sitzen!«, hauchte sie und verdrehte ihre Augen.

»Denke an deine Eltern, stelle dir vor, wie es ist, wenn du sie wieder siehst«, flüsterte Riada in Darias Kopf. »Das gibt dir Kraft. Eure Reise ist bald zu Ende!«

Daria wurde ruhiger, ihre Wangen färbten sich rosig, ein zufriedenes Lächeln umspielte ihren Mund.

»Danke, Riada, es geht mir schon besser«, antwortete sie leise und strich liebevoll über ihre Hosentasche. Das Buch räkelte sich genüsslich. »Gern geschehen, ich muss auf dich aufpassen und dich beschützen. Nur durch gegenseitiges Vertrauen und Liebe sind wir stark genug, um unsere Mission zu erfüllen.«

»Wir ertrinken!«, kreischte Micha plötzlich und schlug wild um sich. »Schaut doch hinaus! Seht ihr nicht diesen Strudel, auf den wir zurasen?««

Eine durchsichtige Hülle lag schützend um ein fremdes Gestirn, darunter spiegelten sich Wasserstrudel, die spiralförmig in ein Zentrum zusteuerten. In der Mitte klaffte ein tiefer Abgrund und sog das Wasser ein.

Die Kapsel flog in die Strudel hinein. Lautlos glitt sie durch den fremden Ozean. Das Wasser war klar, bunte Fische tummelten sich um die Kapsel und beäugten neugierig die Fremden.

Es wurde dunkel, das Leuchten der Anzeigen erlosch. Eine Tür bildete sich an der Innenwand der Kapsel.

»Nun ist alles vorbei!«, flüsterte Daria angsterfüllt. »Das Wasser bringt uns alle um!«

Langsam schwang die Tür auf.

Statt Wasser blinzelten zarte Sonnenstrahlen in das Innere der Kapsel.

»Ich bin gespannt, wo wir gelandet sind«, stellte Micha trocken fest und verließ die Kapsel. Die anderen folgten ihm.

Sie standen am Marktplatz eines kleinen Dorfes.

Die Legenden der Spiralwelten - Die obere Spirale

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