Читать книгу Die Legenden der Spiralwelten - Die obere Spirale - Kim S. Talejoy - Страница 20

Flügel des Vergessens

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Legt euch auf den Boden und schließt die Augen!«, befahl Waya. Sie stellte zwei Becher mit Wasser und zwei leere Gefäße neben die Geschwister. Aus einer schäbigen Truhe kramte sie eine Handvoll Erde, formte sie zu zwei Häuflein und türmte sie mit zwei glühenden Kohlen daneben auf. Ächzend ließ sie sich am Kopfende der Geschwister nieder, entzündete trockene Äste einer Trauerweide und warf ihre Runen aus.

Geruch nach fauligen Eiern durchzog die Hütte und schwebte in die leeren Becher; die darin enthaltene Luft färbte sich hellgrün. Leise murmelte Waya Sprüche und summte Verse und Lieder.

Riada ruckelte nervös auf dem Tisch, die Seiten knisterten laut.

»Dieser Gestank tut mir nicht gut!« schimpfte das Buch und rümpfte seine Ecken und Kanten. »Altes Pergament ist sehr geruchsempfindlich! Außerdem musst du meine Kräfte nicht wecken! Nimm doch ein bisschen Rücksicht«, quengelten die Buchseiten und rieben lautstark aneinander. Aber niemand beachtete Riada. Das weise Buch der Legenden nahm sein Schicksal selbst in die Hand – es schwebte lautlos in die Höhe und verschwand unter Wayas Tierfellen.

Die Gedanken der Schamanin wanderten in die Köpfe der Geschwister. Ihre magischen Kräfte drangen in deren Herzen, sie füllten die pulsierenden Kammern und breiteten sich wie eine Decke über die Körper der Geschwister aus.

»Nun seid ihr bereit, erwartet die Elemente!«, krächzte Waya und streckte ihre Hände aus. Ein Lichtstrahl fuhr in Darias und Michas Körper, er suchte einen Weg in ihre Köpfe und erlosch.

Kälte und Dunkelheit krochen aus den Ritzen, eiserne Klammern packten die Geschwister und krallten sich an ihnen fest. Darias Körper bäumte sich auf, Micha wand sich am Boden, die gellenden Schreie der beiden erschütterten die Wände der morschen Hütte. Daumendicke Lianen wirbelten unter dem Dach, sie fielen auf die Geschwister und fesselten die beiden an die Holzlatten des Bodens.

Darias Schreie verebbten, auch Micha wurde ruhiger.

Das Wasser brodelte und quoll aus den Bechern. Langsam kroch es zu den Achseln; zischend entwich die grüne Luft aus den Gefäßen, die Erde und die glühenden Kohlen folgten.

Das Feuer brannte ein kleines Loch in Darias und Michas Achselhöhlen. Rasch glitten die Elemente in die Körper.

Wellenförmig pulsierte das Wasser unter der Haut, die Erde ballte sich zusammen und drückte es stärker gegen die dünne Hülle. Flammen züngelten aus den Poren, die Luft in den Körpern stülpte sich über die Elemente und umhüllte sie wie eine große Blase. Darias und Michas Haut war zum Zerreißen gespannt, rote Flammenzungen blitzten darunter hervor.

Bilder flackerten in Darias und Michas Köpfen, Bilder von riesigen Wellen, die Häuser und Dörfer vernichteten. Hilflose Kinder rangen in den Fluten ums nackte Überleben, aber gierig und unerbittlich rafften die Fluten Menschen, Häuser, Wälder und Dörfer dahin.

Daria und Micha stiegen aus den Fluten. Sie bündelten ihre Kräfte und geboten dem Wasser Einhalt. Aber noch wurden die Wellen größer und mächtiger.

Dann verschmolzen die Gedanken der Geschwister, sie wurden eins.

Das Wasser sträubte sich, die Wellen schlugen ineinander und rasten auf die Geschwister zu. Daria und Micha breiteten ihre Arme aus, sie bildeten eine Mauer gegen das tosende Wasser. Der Druck der Wellen wurde größer, doch die Geschwister hielten stand und warfen sich gegen die Macht des Elements. Sie gewannen die Oberhand – sie hatten das Wasser besiegt! Ruhig lag es vor ihnen, nur die Oberfläche kräuselte sich ein wenig.

Die große Blase pulsierte weiter durch die Körper, sie wanderte zum Hals und bahnte sich ihren Weg Richtung Stirn. Augen und Wangen der Geschwister schwollen an, feuerrote schwammige Lider entstellten ihre Gesichter. Die Blase teilte sich am Nacken, wanderte zu den Achselhöhlen und von dort ins Freie. Nur wenige Tröpfchen waren vom Wasser noch übrig, das Gas hatte sich verflüchtigt. Kleine Flämmchen und ein paar Krümel Erde hüpften aus Darias Achseln. Micha stöhnte auf, das Loch in seiner Achsel wurde größer. Eine mächtige Feuerzunge und ein Erdhaufen quollen aus ihm heraus.

Die Wassertropfen sprangen in die Becher, die Erde häufte sich, ein Großteil der Glut war erloschen.

Waya zerrieb ein paar Blätter und legte sie Daria und Micha unter die Nase. Die beiden schlugen die Augen auf. Mühsam rappelten sie sich hoch.

»Könnt ihr euch an etwas erinnern?«, fragte Waya besorgt. Es war schon einige Zeit her, seit sie das letzte Mal magische Kräfte bei einem Menschen geweckt hatte.

»Ich fühle mich stärker, aber unheimlich müde. Mein Bauch und meine Achseln schmerzen, so als hätte jemand mit Nadeln in meiner Haut herumgestochert!«, stöhnte Daria und rieb ihre Oberarme, um das brennende Gefühl zu vertreiben.

Micha schaute zu seiner Schwester und antwortete: »Mir geht es ähnlich, aber ich habe das Gefühl, dass ich innerlich verbrannt bin. Alles in mir ist so heiß. Waya, was hast du mit uns angestellt?«

»Odgud sei Dank! Ich habe nichts falsch gemacht!«, jubelte Waya und lachte zufrieden. So musste es sein!

»Was wäre mit uns passiert, wenn du einen Fehler gemacht hättest?« Die Geschwister blickten sie mit entsetzten Gesichtern an.

»Ähm, nun ja, daran wollen wir gar nicht denken. Ihr werdet euch bald wieder besser fühlen, diese Schwäche geht rasch vorbei. Schlimmer wäre es gewesen, wenn ihr diese Schmerzen, diese Hitze nicht gefühlt hättet! Dann wäre ...!«

Ragmal riss die Tür auf. Er war nach dem Besuch bei Yaven zurück gekehrt und hatte unendliche Minuten vor Wayas Hütte ausgeharrt. Immer wieder lugte er nervös durch das kleine Fenster in Wayas Kammer. Er konnte es kaum fassen, wie geschickt Waya nach so langer Zeit wieder magische Kräfte bei Menschen erweckte! Seine Hände zitterten, er war aufgekratzt, aber das Lächeln, das seine Lippen umspielte, wirkte zufrieden.

Er setzte sich zwischen Daria und Micha, legte seine Arme um deren Schultern und drückte die beiden fest an sich.

»Seit eurer Geburt habt ihr magische Kräfte. Das ist bei Lebewesen der mittleren Spirale außergewöhnlich. Ihr beide seid einzigartig, ganz speziell du, Daria!«

»Warum ich?«, fragte Daria. »Sagtest du nicht, dass wir beide diese magischen Fähigkeiten haben? Und warum haben wir sie überhaupt?«

»Micha kann nun über zwei Elemente herrschen, das Wasser und die Luft. Du, Daria, bist die Herrin über Feuer, Wasser, Erde und Luft. Selten gibt es Menschen, die alle vier Elemente beherrschen. Samantha war auch eine Ausnahme. Sie hat ihre Kräfte offensichtlich an dich weitergegeben.«

»Warum nicht auch an Micha?«

Ragmal überlegte. Er wusste nicht genau, was er den beiden sagen sollte.

»Euch ist doch bestimmt schon aufgefallen, dass ihr sehr unterschiedlich seid. Wie Feuer und Wasser, wenn man so sagen will.« Zufrieden schmunzelte er über seinen kleinen Scherz.

»Sicher!«, platzte Micha heraus. »Daria ist ein Mädchen und beschäftigt sich auch nur mit Mädelskram. Und ich mach halt die coolen Sachen!« Er konnte sich einen kurzen frechen Blick in Richtung Daria nicht verkneifen. Seine Schwester verdrehte nur die Augen und grinste zurück.

»Und sonst ist euch nichts aufgefallen? Keine Ähnlichkeiten, keine Unterschiede?«

Wieder war es Micha, der antwortete: »Na ja, Daria hat viel mehr von unserer Mutter als ich. Man braucht sie ja nur anzusehen. Jeder sagt, sie sieht genauso aus wie Mum. Sie hat sogar denselben dunkleren Teint wie sie und ich bin blass wie ein Gespenst. Aber das ist sicher vollkommen uninteressant. Ich meine, Daria und ich sind Geschwister, also sind wir in gewisser Weise gleich!«

»Nicht ganz«, widersprach Riada laut und machte es sich wieder in Darias Tasche gemütlich, »aber noch wird die Einigkeit der Spiralen nicht wahr!«

Der Boden bebte. Ein Spalt klaffte in der Erde und wurde breiter und größer. Zwei schwarze Flügel quollen aus dem Untergrund. Ihre Spitzen waren knorrig und schlaff, aber ihr Körper war stark und fest.

»Schütze die Geschwister vor den Flügeln des Vergessens«, schrie Waya und schob Daria und Micha hinter Ragmal.

»Wir müssen fliehen!«, brüllte der Dorfälteste, packte die Geschwister und rannte los. Aber die Schwingen waren schneller, sie hatten sich bereits um Darias und Michas Beine geschlängelt. Ragmal griff nach Wayas Holzaxt und drosch auf die Flügel ein. Schwarzes Blut spritzte aus den Wunden und besudelte Darias und Michas Gesicht.

Waya schoss Feuerbälle auf die Flügel und den Spalt. Heiseres Lachen dröhnte aus der Erde.

»Das nützt gar nichts!«, höhnte die fremde Stimme. »Die beiden sind mein! Die Flügel des Vergessens sind unbesiegbar!«

Kurz bebte die Erde nochmals, dann verschwanden die Geschwister im Abgrund!

Daria und Micha lagen auf einer Lichtung. Sanfte Sonnenstrahlen kitzelten ihre Nasen und wärmten ihre Körper. Daria schlug die Augen auf. Es war mitten am Tag, die Vögel trällerten ausgelassen und die Sonne lachte vom Himmel. Mühsam setzte sie sich auf. Ihre Augen brannten, die Arme schmerzten, ihr Bauch rumorte und die Beine waren schlapp. Micha lag neben ihr, er hatte die Augen geschlossen und schlief noch tief und fest. Daria rüttelte ihren Bruder.

»Wach auf, Micha. Wo sind wir?«

Der Junge schlug die Augen auf. Das Sonnenlicht brannte in seinen Augen. Er rappelte sich hoch, rieb seine Augen und gähnte laut.

»Ich habe keine Ahnung, wie wir hierher gekommen sind«, murmelte er. Sein Kopf war leer, er konnte sich an nichts erinnern.

»Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, ist, dass wir Waya besucht haben!«, überlegte Daria.

»Die alte Hexe!«, schrie Micha böse und sprang auf. Von seiner Müdigkeit spürte er nichts mehr.

»Sie ist schuld daran, sie hat uns verhext und hierher ins Nirgendwo geschickt!«

»Wir sind gar nicht im Nirgendwo. Schau doch, da vorne ist das Dorf der Guildhar!«

Tatsächlich, nicht weit von der Lichtung entfernt, erspähte Micha die Häuser der Guildhar.

»Lass uns zurückgehen! Onkel Arno weiß sicher, was mit uns passiert ist!« Micha zog seine Schwester auf. Wackelig staksten die beiden durch das Gras, nur langsam kehrte die Kraft in ihren Beinen zurück.

»Ich werde zu Waya gehen und sie fragen, was sie mit uns angestellt hat.«

»Onkel Arno weiß es sicher besser. Außerdem können wir ihr nicht trauen, sie will nicht, dass wir unsere Eltern finden«, protestierte Micha und packte seine Schwester am Arm. »Wir gehen zurück ins Dorf!«

»Ich gehe zu Waya«, widersprach Daria scharf und riss sich los.

»Wie du willst. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Du steckst wohl mit der Alten unter einer Decke! Auch gut, dann finde ich unsere Eltern eben allein!« Zornig stiefelte Micha in Richtung Dorf. Er kochte innerlich. Diese alte dämliche Hexe!

Micha erreichte das Dorf der Guildhar und betrat die kleine Hütte.

»Wie war eure Erkundungstour?«, fragte Arno als er seinen Neffen bemerkte. Michas Blick wurde eisig.

»Was soll die blöde Frage? Ich will wissen, was mit Daria und mir passiert ist.«

»Was meinst du?«, fragte Arno unschuldig.

»Wie sind wir auf diese Waldlichtung gekommen? Wir können uns an nichts mehr erinnern! Aber ich bin mir sicher, dass du weißt, was hier vor sich geht!«

Arno lachte kurz auf. »Also wirklich, Micha, wieso glaubst du, dass ich das weiß? Ich nehme an, ihr seid müde geworden. Das Klima hier auf Buntopia ist ein bisschen anders als auf der Erde. Wahrscheinlich habt ihr euch ins Gras gelegt und seid eingeschlafen. Hrüdiger und ich waren auch unterwegs; wir sind ebenfalls müde und erschöpft.«

Obwohl Arnos Erklärung plausibel klang, gab es aber doch noch einen Punkt, der Micha interessierte.

»Und warum können wir uns an nichts erinnern?«

Arno zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, es war alles ein bisschen viel für euch. Ihr seid müde und da kann es schon passieren, dass man etwas vergisst oder sich nicht erinnern kann.«

Arnos Plauderton verunsicherte Micha. Hatte sein Onkel Recht?

»Wo ist eigentlich deine Schwester?«, fragte Arno und klopfte dem Jungen auf die Schulter.

»Wir haben uns gestritten und sie ist lieber zu Waya gegangen. Wahrscheinlich lästern die beiden gerade über mich.«

Die letzten Worte blieben Micha fast im Hals stecken, denn plötzlich zuckte Arnos Buckel wild. Irgendetwas wollte heraus, an die Oberfläche. Arno nahm seinen Stock und stieß ihn heftig auf den Boden. Der Buckel beruhigte sich augenblicklich.

Micha starrte seinen Onkel verdattert an. »Was machst du da?«

»Manchmal spielen die Muskeln in meinem Buckel etwas verrückt«, beruhigte Arno den Jungen. »Wenn ich mich auf meinem Stab fest aufstütze und die Muskeln anspanne, lässt das Zucken nach.«

Micha nickte, aber er hatte das Gefühl, nein, er wusste, dass Arno ihm nicht die Wahrheit sagte. Bilder eines Zauberstabs schossen durch seinen Kopf, verblassten aber sofort wieder.

»Du solltest dich von Waya und Ragmal fernhalten«, begann Arno. »Ich habe das Gefühl, dass die beiden nur an sich denken. Aber wir brauchen sie, sie sind mit den Gewohnheiten der Guildhar am besten vertraut. Hrüdiger und ich wollen, genauso wie ihr beide, eure Eltern finden. Auf Hrüdiger und mich kannst du dich wirklich verlassen! Wir sind schließlich eine Familie!«

»Danke, Onkel Arno. Das habe ich Daria auch gesagt.«

»Werdet ja nicht zu sentimental!«, lachte Hrüdiger, der die letzten Wortfetzen der beiden aufgeschnappt hatte. Er stand im Türrahmen. »Packt euer Zeug, morgen beginnt unsere Reise. Suchen wir endlich eure Eltern!«

Daria war unterdessen den Weg zurück zu Wayas Hütte gegangen. Die Schamanin und Ragmal erwarteten sie vor dem Haus.

»Ich bin froh, Schätzchen, dass dir nichts passiert ist«, murmelte Waya und drückte Daria fest an sich.

»Wir sind auf einer Lichtung aufgewacht. Wie sind wir dorthin gekommen? Was hast du mit uns gemacht?«

»Ist dein Bruder zurück ins Dorf, zu Arno und Hrüdiger gegangen?«

Daria nickte.

»Ich muss heim! Wenn Micha bei Arno und Hrüdiger ist, sollte ich zurück«, unterbrach Ragmal und stapfte davon.

Die Alte runzelte nachdenklich die Stirn und fuhr fort: »Ich habe deine und Michas Kräfte geweckt.«

Langsam kamen die Bilder in Darias Kopf zurück. Sie roch wieder den Schwefel in Wayas Hütte, sie fühlte Wasser, Erde, Feuer und Luft in ihrem Körper.

»Dass ich eure Kräfte geweckt habe, konnte die dunkle Herrschaft nicht verhindern. Aber sie hat verhindert, dass ihr euch daran erinnert. Die schwarzen Flügel haben euch in den Abgrund des Vergessens gezogen.« Wayas Fingerspitzen legten sich auf Darias Hände. Ein heller Strahl zuckte aus den Fingern der Alten und verschwand in Darias Körper.

»Ich habe dir einen Teil meiner Kraft übertragen, Teile meiner Augen und Teile meines Wissens. Alles kann ich dir noch nicht geben. Du musst erst lernen, mit deinen Kräften umzugehen!«

»Aber was ist mit Micha?«, schluchzte Daria. Sie hatte das Gefühl, ihren Bruder verloren zu haben. Nun war sie alleine und hatte keine Ahnung, wie es weiter gehen sollte.

»Daria, was ich dir jetzt sage, ist hart für dich. Die Wahrheit kann manchmal schrecklich sein!«

Waya nahm das Mädchen in den Arm. »Micha kann sich an nichts mehr erinnern, er weiß nicht, dass er magische Kräfte hat und dass ich sie geweckt habe.«

»Was passiert jetzt? Wir wollten doch nur unsere Eltern finden!«

»Das hat nichts mit euren Eltern zu tun, ihr werdet sie bestimmt wieder sehen. Es wird der Moment kommen, wo Michas Erinnerung zurückkehrt. Halte dich aber von Arno, Hrüdiger und auch von Micha fern. Ich befürchte, dass einer eurer Onkeln mit der dunklen Herrschaft verbündet ist. Das Böse versteckt sich gut. Ragmal und ich wissen noch nicht, wer von den beiden den Pakt mit den dunklen Mächten geschlossen hat.«

»Was hat das alles mit Micha zu tun?«

»Das Böse hat auch die Gedanken deines Bruders infiltriert. Micha hat dunkle Anteile in sich, die er selber nicht sieht und fühlt. Er glaubt, dass Ragmal und ich euch Böses wollen. Ich kann seine schwarzen Teile nicht aus seinem Kopf verbannen. Dazu sind die dunklen Kräfte zu stark!«

»Das sagst du so leicht! Vielleicht hat Micha ja Recht, wenn er meint, dass wir euch kaum kennen. Wie soll ich wissen, wer mich anlügt und wer nicht?«, protestierte Daria laut und riss sich los.

»Höre auf dein Herz und deine Schulter. Der magische Stein in dir wird dich beschützen. Micha hat nur einen kleinen Teil eines solchen Steins in sich. Sein Splitter ist viel schwächer, deshalb konnten die dunklen Mächte in ihn eindringen. Dein Stein wird verhindern, dass du auf die schwarze Seite gezogen wirst. Ist dir noch nie aufgefallen, wann deine Schulter schmerzt und wann es ein angenehmes Gefühl ist?«

»Doch, aber ...«

»Es gibt kein ›Aber‹, Daria«, protestierte Riada, »Waya will dein Bestes! Vertraue nur Ragmal und Waya! Wenn du zweifelst, dann schau dir meine Seiten an!«

Das weise Buch der Legenden flog aus Darias Tasche, landete in ihren Händen und öffnete sich. Eine dunkle Wolke mit einer hässlichen Fratze zuckte auf. Micha stand inmitten des schwarzen Dunstes, eine schwere Rüstung glänzte an seinem Körper. Hunderte Soldaten standen hinter ihm und warteten auf seinen Befehl.

Plötzlich kam Wind auf; eine heftige Böe schleuderte Riada aus Darias Händen. Das Buch fiel zu Boden. Ein dünner Ast einer Tanne riss die aufgeschlagene Seite aus Riada und katapultierte sie in den Himmel. Böse zuckte eine schwarze Stichflamme am Firmament auf und fuhr in das alte Pergament. Die Seite brannte lichterloh.

Die Guildhar versammelten sich frühmorgens am Marktplatz und bildeten einen kleinen Kreis um die Gruppe; Ragmal stand in der Mitte.

»Guildhar!«, rief der Dorfälteste mit fester Stimme. »Heute brechen unsere Freunde auf, um Buntopia zu retten! Die dunkle Herrschaft muss zurückgedrängt werden. Die Völker Buntopias werden wieder in Ruhe und Frieden leben! Aber es geht nicht nur um Buntopia! Daria und Micha sind auf der Suche nach ihren Eltern. Hoffen wir für sie, dass ihr Vorhaben gelingt!«

Unigund trat vor und überreichte Daria ein Päckchen. »Das sind eure alten Sachen. Diese Sachen sind bei uns nicht üblich, aber man kann nie wissen, wozu ihr sie vielleicht noch braucht. Nehmt sie sicherheitshalber mit.« Sie lächelte aufmunternd und trat zur Seite, um ihrer Tochter Platz zu machen, die sich durch die Menschen nach vorne drängelte. Ana drückte Daria einen dicken Schmatz auf die Wange. »Komm bald wieder!«

Daria schmunzelte und umarmte Ana; die Kleine war ihr ans Herz gewachsen. Ana baute sich vor Micha auf und stemmte ihre Hände in die Hüften.

»Gib gut auf meine neue Freundin Acht«, forderte sie Micha energisch auf und drückte ihm ebenfalls einen Kuss auf die Wange.

Yaven löste sich aus dem Kreis und trat vor. Seine Augen schweiften über die kleine Gruppe.

»Freunde der mittleren Spirale, ich werde euer Führer sein. Meine Tiere und ich haben eine besondere Verbindung zu den anderen Völkern Buntopias. Es ist mir eine Ehre, mit euch diese Reise unternehmen zu dürfen.«

Der Marder grinste Daria an und sprach: »Habt keine Angst vor uns, Yaven ist unser Herr. Wir wissen, welche Leistung ihr für uns vollbringen werdet! Wir stehen auf eurer Seite und unterstützen euch, so gut wir können!«

Die Menge erstarrte, es wurde still. Selbst das Atmen der vielen Menschen auf dem Marktplatz war nicht mehr zu hören.

»Du kannst sprechen?«, durchbrach Daria die Stille.

»Na was denn sonst? Alle Lebewesen können sprechen, nur ihr hört uns nicht! Glaubst du, wir sitzen hier zum Vergnügen auf Yavens Kopf? Es ist unsere Aufgabe, ja sogar unsere Pflicht, mit euch in Kontakt zu treten. Yaven versteht uns auch ohne Worte. Noch bist du nicht so weit, aber irgendwann wirst auch du das können. Du bist noch ziemlich grün hinter den Ohren!« Die Menge lachte. Noch nie zuvor hatten die Guildhar Yavens Tiere sprechen hören, aber der Marder war frech und keck, und das gefiel den Menschen.

Ein Raunen ging durch die versammelte Menge, die Dorfbewohner traten zur Seite. Waya schritt durch die schmale Gasse, ohne ihren Blick nach rechts oder links zu wenden. Wie immer hingen Tierfelle über ihr Gesicht, sie trug ein kleines Bündel auf ihrem Rücken und stützte sich auf ihren Stock.

»Du gehst auch mit?«, fragte Micha erbost und zog seine Augen zu engen Schlitzen zusammen. Damit hatte er nicht gerechnet!

Waya war alt und schwach. Niemand hätte gedacht, dass sie sich diesen Strapazen aussetzen würde. Micha fürchtete die Alte; immer passierte etwas Seltsames, wenn sie in der Nähe war.

»Waya, die Reise ist zu anstrengend für dich!«, protestierten Arno und Hrüdiger ebenfalls. »Du bist zu schwach, wir wissen nicht einmal, wann wir zurückkommen!«

»Ihr abscheulichen Kreaturen!«, polterte Waya zornig. »Niemand wird mich, Waya, die Schamanin der Guildhar, abhalten, euch auf eurer Reise zu begleiten! Ich habe meine Gründe dafür. Dann, wenn ich es für günstig erachte, werde ich euch verlassen und in meine Hütte zurückkehren. Ich mag euch Menschen sowieso nicht!« Verächtlich spuckte sie auf den Boden.

»Ich freue mich, dass du mitkommst«, rief Daria und fiel Waya um den Hals. Sie hatte gehofft, dass Waya sie begleiten würde. Ihre Schulter pulsierte heftig, ihr Herz schlug wild.

»Schon gut, Schätzchen, ich muss doch auf dich aufpassen und dich beschützen!«, antwortete Waya und strich Daria liebevoll über die Stirn. Aufgeregtes Murmeln ging durch die Menge. Noch nie hatte jemand die Schamanin umarmt und noch nie hatte jemand eine nette Geste der Alten gesehen!

»Wir wünschen euch alles Gute, möge Odgud mit euch sein; seine schützende Hand wird euch führen!«, verabschiedete Ragmal die Gruppe. Waya dankte mit einem kurzen Kopfnicken.

»Stärke einstweilen deine Kräfte, Ragmal, wir werden sie wahrscheinlich noch brauchen!«, raunte sie im Vorbeigehen dem Dorfältesten leise zu.

»Wenn die Reise wirklich so gefährlich wird, brauchen wir dann nicht vielleicht doch ein Schwert?«, rief Micha aufgeregt und hielt die leere Scheide an seinem Gürtel in die Höhe.

Ragmal lächelte und sprach: »Kein Guildhar besitzt ein Schwert! So etwas haben wir nicht! Nur unseren Herrschern ist es gestattet, ein kurzes Schwert zu tragen.« Michas Blicke wanderten im Kreis. Tatsächlich, keiner der Männer trug eine Waffe.

»Aber«, protestierte Micha lautstark, »ihr setzt uns bewusst Gefahren aus! Vielleicht müssen wir kämpfen!«

»Kämpfe mit deinem Kopf! Lerne, mit deinen Gedanken umzugehen!«, raunte Riada in Michas Gedanken.

Die kleine Gruppe setzte sich in Bewegung. Jeder hatte ein kleines Bündel mit dem Notwendigsten geschnürt, Nahrung und Wasser gab es auf dem Weg ausreichend. Daria zog ihre lange Kutte ein bisschen in die Höhe und gesellte sich zu Waya.

»Was hat Riada gemeint mit › ... lerne mit deinen Gedanken umzugehen ...‹ ?«, fragte sie leise. Sie wollte nicht, dass ihr Bruder sie hörte.

»Seit ich eure Kräfte geweckt habe, könnt ihr die Elemente durch die Kraft eurer Gedanken beherrschen. Ihr braucht weder einen Zauberstab, noch irgendwelche Zaubersprüche. Aber ihr seid noch nicht stark genug. Ihr müsst lernen, eure Gedanken zu bündeln, zu stärken und eure Kräfte richtig einzusetzen.«

»Warum hast du nicht schon früher mit uns geübt?«

»So lange ihre eure Kräfte nicht beherrscht, könnt ihr großes Unglück anrichten. Du kannst ganze Wälder in Brand stecken, gemeinsam könnt ihr einen friedlichen kleinen Bach in einen reißenden Strom verwandeln. Das wäre bei den Guildhar zu gefährlich geworden. Wir haben auf unserer Reise genügend Zeit.«

»Wohin geht Yaven mit uns? Riada hat mir Drachen gezeigt, aber Drachen gibt es nicht.«

»Unsere erste Station ist das Land der Tangamen, das Land der Buntdrachen. Bei uns auf Buntopia gibt es sehr wohl Drachen.«

Daria löcherte Waya weiter. Sie wollte unbedingt mehr erfahren, aber die Schamanin schwieg.

»Nichts ist so lehrreich und weise wie die eigene Erfahrung. Wenn ich dir alles erzähle, hättest du genauso gut ein Buch lesen können. Warte, bis wir im Land der Tangamen sind! Es ist eine Reise von drei Spiralumläufen.«

»Was sind Spiralumläufe? Ich kenne nur Tage, Wochen und Monate.«

»Wir unterscheiden zwischen hellen und dunklen Spiralumläufen. Ein heller Spiralumlauf wäre in euren Worten die helle Tageszeit, ein dunkler Spiralumlauf die dunkle.«

Daria schwieg, obwohl es ihr schwerfiel. Drachen, Lebewesen, die nur im Märchen vorkamen - sie konnte sich nicht vorstellen, diesen Wesen zu begegnen. Konnten sie Feuer speien? Waren sie so groß wie Dinosaurier? Tausende Fragen schwirrten in ihrem Kopf. Sie rückte zu Micha auf, zog ihren Bruder zur Seite und flüsterte: »Weißt du, dass wir in das Land der Tangamen gehen? Zu den Buntdrachen!«

»Ich habe es von Yaven gehört. Aber er wollte nichts darüber erzählen.«

»Waya hat mir auch nichts gesagt!«

»Hast du eine Ahnung, wie wir bei den Buntdrachen einen Gefährten finden sollen?«

Daria schaute über die Schulter. Arno und Hrüdiger waren in ein Gespräch vertieft und beachteten sie nicht - dachte sie jedenfalls. Daria zog Riada hervor; diesmal wurde das Buch nicht größer, es passte genau in Darias Handfläche.

»Du darfst mich niemandem zeigen. Wir wissen nicht, wem wir hier vertrauen können und wem nicht«, flüsterte Riada in Darias Kopf. »Arno und Hrüdiger dürfen mich auf keinen Fall sehen!«

»Aber ich will doch nur wissen, was uns bei den Tangamen erwartet!«, protestierte Daria lautlos. »Das heißt, falls du es mir zeigst. Die eine Seite ist verbrannt!«

»Die eine Seite mag verbrannt sein, aber so schnell gebe ich nicht auf!«

Riada schlug sich auf – das Buch war vollständig, alle Seiten schimmerten und glänzten.

»Du hast deine Seite ersetzt?«, fragte Daria leise.

»Welche Seite? Ein Buch hat nun mal Seiten!«, antwortete Micha und starrte seine Schwester fragend an. Daria lächelte geheimnisvoll. Ein Bild flackerte in dem Buch auf. Die Geschwister studierten die Zeichnungen.

»Soll das ein Witz sein?«, rief Daria laut und schlug das Buch zu.

»Warum schreist du deinen Bruder so an, er ist doch nicht taub?«, rief Hrüdiger und stapfte zu seiner Nichte. »Was hast du denn da in der Hand?«

»Ähm, gar nichts, es ist nur ein Buch«, stammelte Daria und stopfte Riada in ihr Kleid. Beleidigt klatschte das Buch auf Darias Schenkel. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht so leichtsinnig sein«, schimpfte Riada leise.

»Wer hat das gesagt? Diese Stimme kenne ich nicht«, mischte sich Arno ein. Sein Buckel pulsierte heftig.

»Ich habe nichts gehört«, erwiderte Hrüdiger, »Daria hat ein Buch von der Erde mitgenommen, das sie mir nicht zeigen will – muss wohl etwas Besonderes sein!«

Welches Buch hatte Daria von der Erde mitgenommen? Warum hatte sie überhaupt ein Buch? Arno musterte Daria prüfend. Konnte es sein, dass Waya das Mädchen in irgendwelche geheimen Verschwörungen hineinzog?

»Zeig schon her, ich will wissen, was du gerade liest?«, neckte Hrüdiger seine Nichte.

»Das ist nur ein Andenken an Mum; dieses kleine Buch hat sie mir vor langer Zeit geschenkt. Ich habe es noch nie jemandem gezeigt und so soll es auch bleiben«, flunkerte Daria. Ihre Wangen wurden rot, sie hasste Lügen!

»Recht so; Geheimnisse muss man bewahren«, antwortete Arno und verlangsamte seinen Schritt.

Mittlerweile war es Abend geworden. Sie waren die ganze Zeit in brütender Hitze marschiert und waren müde und hungrig.

Yaven hielt die Gruppe an.

»Hier in der Nähe ist ein Bach; wir werden hier unser Nachtlager aufschlagen!«

Waya suchte sich ein ruhiges abgelegenes Plätzchen.

Arno platzierte sein Bündel knapp neben Micha und Daria. Er wollte die Geschwister im Auge behalten, denn Waya war unberechenbar.

Außerdem interessierte ihn Darias Buch brennend!

Die Legenden der Spiralwelten - Die obere Spirale

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