Читать книгу Die Legenden der Spiralwelten - Die obere Spirale - Kim S. Talejoy - Страница 16

Bei den Guildhar

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Willkommen in unserem bescheidenen kleinen Dorf. Ich bin Ragmal, der Dorfälteste! Ihr seid wohl jenes Geschwisterpaar, das uns angekündigt wurde.«

»Ihr wusstet, dass wir kommen?«, unterbrach Micha und starrte den Fremden fassungslos an.

Das kleine Dorf lag zwischen großen Äckern, dahinter grenzte ein finsterer Wald an und davor lag ein Meer aus grünem Gras. Schotterwege führten aus dem Dorf, hie und da plätscherte ein kleiner Bach. Hohe Berge durchbrachen den eintönigen Horizont, am Fuße des Gebirges erhoben sich mächtige Bäume, deren Wipfel im Sonnenlicht glänzten.

Die Dorfbewohner scharten sich um Ragmal und beäugten neugierig die Fremden. Der Dorfälteste lachte und stieß seinen grauen, in sich gewundenen Stock fest auf den Boden.

»Natürlich wussten wir, dass ihr kommt; sonst hätten wir euch wohl kaum empfangen können!« Belustigt wippte sein zerzauster grauer Bart. Er trug eine bodenlange Kutte, die genauso grau war wie sein Stock. Ein dicker Gürtel wand sich um seine Mitte.

»Hast du nicht immer davon geträumt, Lebewesen zu entdecken, die kein Mensch jemals zuvor gesehen hat?«, flüsterte Daria, »Ragmal sieht zwar normal aus, aber die anderen …! Ich habe Angst!«

Vor ihnen standen Lebewesen mit menschlichen Körpern, Gesichtern und Gliedmaßen. Aber auf ihren Köpfen tummelten sich nicht Haare, sondern Schafe, Ziegen, Semmeln, Brotlaibe, Früchte, Geflügel, Hufeisen und Feuerzungen.

»Du musst Daria sein«, fuhr Ragmal fort und streckte dem Mädchen die Hand entgegen. »Auf euch müssen wir sehr befremdlich wirken. Menschen wie uns habt ihr noch nie gesehen. Ein bisschen bin ich mit den Lebensgewohnheiten der mittleren Spirale vertraut. Wir haben lange auf euch gewartet! Wir sind ein friedliches Volk, außer ...«, Ragmals Blick schnellte zu Hrüdiger und Arno, »... außer, wir sehen eine Bedrohung in euch!«

Die Menschen bildeten eine schmale Gasse und ließen Ragmal und seine Gäste durch.

»Kommt in meine bescheidene Hütte!«

Der Alte führte die Ankömmlinge zu einem Holzhäuschen mitten im Dorfzentrum. Die Einrichtung war einfach, nur ein altes Bett, ein kleiner Tisch und zwei klapprige Stühle standen in dem einzigen Raum. Es roch nach frischen Zweigen und altem Schimmel.

Ragmal riss das Fenster auf und lächelte entschuldigend: »Waya, unsere Schamanin, war vor Kurzem hier und hat mich besucht. Sie hat ein paar, ähm, nun, ihr würdet es Räucherstäbchen bezeichnen, angezündet. Wayas Werkzeug hat manchmal einen eigenartigen Geruch.«

Gastfreundlich schob er Arno und Hrüdiger die Stühle zurecht, die Geschwister und er ließen sich auf dem knarrenden Bett nieder.

»Wie ihr schon gesehen habt, sind wir etwas anders als ihr. Wir sind das Volk der Guildhar, der Zunftköpfigen. Unser Kopfschmuck entspricht dem Beruf, also dem Zeichen jener Zunft, der wir angehören.

Am Marktplatz ist ein Mann mit Obst und Gemüse am Kopf gestanden, das ist unser Gemüsehändler, und ihr habt bestimmt die Frau mit dem Brot und den Semmeln gesehen, das ist die Frau unseres Bäckers.«

»Einer der Männer hatte Flammen auf seinem Kopf!«, sprudelte Micha hervor.

»Das ist unser Hufschmied!«, lachte Ragmal. »Ein sehr fleißiger Mann, der wunderschöne Hufeisen neben seinen Feuerzungen trägt. Manchmal wird sein Feuer zu heiß, dann tanzen die Flammen ungehemmt auf seinem Kopf und lassen sich kaum bändigen.«

»Verbrennt das Feuer nicht seinen Kopf?«

»Die Flammen sind kalt. Nur das Feuer in seinem Schmiedeofen ist heiß! Bei uns ist das Leben ganz einfach. Jeder, der zu einer Zunft gehört, hat den entsprechenden Kopfschmuck. Schon von Weitem könnt ihr feststellen, ob euch ein Bäcker, ein Hufschmied oder ein Geflügelhändler begegnet. Ist doch ganz einfach, oder?«

Gespannt lauschten die vier Ragmals Worten. Der Alte schob einen Krug mit frischem Wasser über den Tisch, wischte ein paar Gläser mit einem löchrigen Geschirrtuch aus und setzte sich wieder auf das Bett.

»Und welchen Beruf hast du? Du hast ganz normale Haare und keinen besonderen Kopfschmuck!«

»Ja, richtig, ich bilde hier eine Ausnahme. Der Dorfälteste trägt ganz normale Haare. Früher hatte ich auch eine andere ›Haarpracht‹, oder soll ich besser ›Hauptpracht‹ sagen. Vor langer Zeit haben mich die Guildhar zum Dorfältesten ernannt. Über Nacht hat sich mein Kopfschmuck meinem neuen Stand angepasst - das ist bei uns so üblich. Ihr werdet das auch bei Kindern sehen. Unsere Kinder haben Haare wie ihr. Sobald sie erwachsen sind und einen Beruf ausüben oder in eine Zunft einheiraten, verändert sich ihr Kopfschmuck über Nacht.«

»Das ist ja cool«, staunte Micha und überlegte. »Das heißt also, wenn meine Schwester einen Bäcker heiratet, hat sie plötzlich Gebäck am Kopf. Lässt sie sich dann scheiden und heiratet den Hufschmied, wird sie ein Feuerkopf. Daria, was hältst du davon?«, kicherte der Junge und schubste seine Schwester.

»Blödmann!«, schimpfte Daria. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich hier bleibe. Wir wissen nicht mal, was wir hier machen sollen, geschweige denn, wo wir uns genau befinden.«

»Genug jetzt«, sagte Ragmal und unterbrach die geschwisterlichen Neckereien, »ruht euch ein wenig aus, eure Reise war anstrengend. Später zeige ich euch das Dorf und bringe euch zu Waya, unserer Schamanin. Ihr Urteil wird uns Gewissheit bringen, ob wir euch vertrauen können und ob ihr die Geschwister seid.«

»Welche Geschwister? Auf wen wartet ihr? Sag uns endlich, was hier los ist!«, forderte Daria und stand auf. Sie trat auf den Alten zu und nahm bittend seine Hand.

Einen kurzen Moment später durchfuhr ein heftiger Schmerz ihre Schulter und sie bekam ein seltsames Gefühl im Magen. »Irgendetwas stimmt hier nicht!«, stammelte sie und sah sich verunsichert um.

»Warum ist es so nebelig in deinem Haus?«, fragte sie plötzlich und kniff die Augen zusammen. »Ich kann nicht einmal mehr meine Hand sehen!«

»Hier ist kein Nebel, vielleicht brauchst du wirklich etwas Schlaf!«, wandte Arno ein und erhob sich. »Die Strapazen haben dir ziemlich zugesetzt!«

Fürsorglich legte er seinen Arm um die Schulter seiner Nichte und stützte sich auf seinen Stock. Er wollte gehen. Ragmal baute sich vor ihm auf und knurrte böse: »Lass das Mädchen in Ruhe! Daria und Micha stehen ab sofort unter meinem Schutz!«

Arnos Augen funkelten zornig, die Luft zwischen ihnen knisterte.

»Komm, Hrüdiger, lass uns ein bisschen frische Luft schnappen!«

Arnos Gehstock klapperte nervös auf den alten Holzlatten. Die beiden verließen Ragmals Hütte.

»Siehst du wirklich Nebel in der Hütte?«, fragte Micha leise.

»Ja, aber langsam verzieht sich der Dunst wieder. Alles ist eigenartig hier, auch Onkel Arno. Was ist bloß los mit ihm? Warum ist er so zornig und warum brauchen wir Ragmals Schutz?«, flüsterte Daria und klammerte sich an Micha. Ihr Gesicht war kreidebleich.

»Keine Ahnung, was zwischen Arno und diesem Ragmal läuft!«

Ragmal schaute Arno und Hrüdiger nach und schüttelte seinen Kopf. Endlose Minuten verharrte er stumm und stierte ins Nichts.

»Frische Luft wird uns auch gut tun«, sagte er plötzlich und trat ins Freie. Daria und Micha folgten ihm.

Arno und Hrüdiger standen ein kleines Stück entfernt auf dem Marktplatz. Sie diskutierten heftig. Arnos Augen blitzten zornig, Hrüdiger gestikulierte wild. Als sie Daria und Micha sahen, lächelten sie zuckersüß und gesellten sich zu ihnen.

»Zuerst zeige ich euch eure Hütte. Sie ist einfach, aber nett«, sprach Ragmal und stapfte voraus.

Die Fensterläden der Häuser waren weit geöffnet, die Sonne lachte vom Himmel, nur ganz entfernt am Horizont stiegen ein paar dunkle Wolken auf.

Ragmal führte seine Gäste zu einer alten Holzhütte, die bescheiden, aber sehr einladend wirkte. Die Einrichtung war karg, doch es war alles da, was sie brauchten. Zwei Zimmer mit ausreichend Schlafgelegenheiten, ein Tisch, Stühle und eine kleine Kochnische mit einem gebrauchten Topf.

Hrüdiger rümpfte die Nase. Er vermisste den Komfort seiner Villa und vor allem Frau Belheim mit ihrem Personal. Hier war niemand, der sich um ihn kümmerte und ihm jeden Wunsch von den Augen ablas.

»Macht es euch bequem und ruht euch aus. Wenn die Sonne am höchsten steht, hole ich euch ab. Ihr werdet Kleidung von uns bekommen - schlussendlich habt ihr ja nichts anderes als das, was ihr am Leibe tragt!«

Micha und Daria verschwanden in dem kleineren Zimmer und warfen sich aufs Bett.

»Was ist hier nur los?«, murmelte Daria und schloss die Augen.

Bilder von schwarzen Drachen und Basilisken flammten vor ihren Augen auf, sie roch den schwefeligen Gestank aus ihren Mäulern. Kalte Schauer jagten über ihren Rücken.

»Das ist unmöglich«, murmelte sie im Schlaf vor sich hin.

»Alles ist möglich«, hauchte Riada in Darias Hosentasche und kuschelte sich ebenfalls in ihr warmes Nest.

Eine schwarze Fratze mit Armen zuckte in Darias Kopf auf. Die Augen und der Mund ähnelten Hrüdigers Gesichtszügen. Die eine Hand der Fratze zielte mit einem dunklen Gehstock auf Darias Nase, die andere Hand schnappte Riada.

»Aufstehen, ihr Schlafmützen!«, weckte Ragmal die Geschwister sanft. »Unser Dorfrundgang beginnt! Eure Onkel warten bereits auf euch!«

Ein Krug dampfender Milch stand auf dem kleinen Tisch und duftete herrlich. Daria und Micha langten kräftig zu.

»Wieso sind wir hier?«, fragte Micha schlürfend. »Und wo ist ›hier‹?«

»Ihr seid auf Buntopia, einem Gestirn weit entfernt von der mittleren Spirale. Buntopia ist die obere Spirale.«

»Mittlere Spirale, obere Spirale; damit kann ich nichts anfangen!«, maulte Micha und verdrehte die Augen.

»Ihr werdet bald alles verstehen, habt Geduld! Bei uns gibt es viele für euch merkwürdige Lebewesen. Wesen, die bei euch nicht mehr oder noch nie existiert haben. Wir haben uns der Aufgabe verschrieben, alles Leben zu schützen, wir sind die Hüter der verschwundenen Rassen! Wundert euch über nichts, ihr werdet Drachen und Einhörner sehen, friedliche Wesen, die mit uns leben!«

»Drachen?«, unterbrach Daria fassungslos und stellte ihren Becher so hart auf den Tisch, dass die Milch überschwappte. »Ich habe von Drachen geträumt; ein hässlicher Wurm hat mich angegrinst!«

Ragmals Blick schnellte zu Daria, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und fuhr fort: »Wir akzeptieren alle Lebewesen, egal wie sie aussehen oder woher sie kommen. Wir bekriegen uns nicht, bei uns herrscht Friede. Odgud, unser Gott, führt uns seit vielen Jahrhunderten und lenkt unsere Geschicke!«

Ragmal senkte seinen Kopf und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Auge.

»Aber es gibt dunkle Mächte, die stärker werden. Odgud kann uns nicht mehr lange beschützen!«

Sie schlenderten durch das Dorf. Daria fühlte sich um einige Jahrhunderte zurückversetzt. Die Häuser der Guildhar waren klein und ebenerdig. Dicht gedrängt standen sie rund um den Marktplatz. Dürre Holzschindel bedeckten die Dächer und aus manchen Schornsteinen stieg Rauch auf.

Hinter den Häusern erstreckten sich Äcker und Weidegebiete mit Scheunen und Ställen.

»Buntopia ist in mehrere Länder unterteilt. Wir betreiben Ackerbau und Viehzucht«, begann Ragmal.

»Jedes Land, und das ist ebenfalls anders als bei euch, hat genau jenes Klima, das es braucht. Das heißt, wir haben das ganze Jahr über ausreichend Nahrung und Wasser. Schaut einmal hier auf die Obstbäume.« Ragmal blieb stehen, pflückte zwei leuchtend rote Äpfel und hielt sie Daria und Micha entgegen.

»Unsere Bäume haben sowohl Früchte, als auch Blüten. Während die Früchte reifen, stehen am selben Baum schon wieder andere Triebe in voller Blüte.«

Ragmal führte sie zurück ins Zentrum und blieb vor einer alten Hütte stehen.

Ein kleines Mädchen mit einem hellgelben bodenlangen Kleid spielte vor der Tür. Sie lachte vergnügt, als ihre Mutter sie hochhob und Anstalten machte, sie ins Haus zu tragen.

Die Frau trug ein langes graues Kleid mit einer Schürze, auf ihrem Kopf tummelten sich Semmeln und ein herrlich duftender Brotlaib – die Bäckersfrau!

»Hier ist die Zeit etwas stehen geblieben«, murmelte Daria und stieß ihren Bruder an, »bin ich froh, dass ich meine Jeans habe!«

Belustigt zog Ragmal seine Augenbrauen in die Höhe und deutete auf die Frau mit dem kleinen Mädchen.

»Sei gegrüßt, Unigund, du hast unsere Gäste sicher bereits am Marktplatz gesehen!«

Die Frau nickte und stellte ihre Tochter ab. Die Kleine musterte Daria von oben bis unten, verschränkte ihre Ärmchen vor der Brust und rümpfte ihre Nase.

»Du siehst aber komisch aus!«, stellte sie trocken fest.

Ragmal blickte Daria tief in die Augen.

»Wenn ihr verstehen wollt, wie wir leben, wie wir denken, wie wir fühlen, müsst ihr in unserer Mitte leben; dazu gehört auch, dass ihr euch so kleidet wie wir. Unigund wird sich darum kümmern. Arno, Hrüdiger, bei euch sind nur die Hosen etwas zu kürzen, das erledige ich!«

Daria verzog angewidert das Gesicht und wollte widersprechen.

»Ragmal hat Recht«, flüsterte Riada in Darias Gedanken, »nur wenn du lebst und fühlst wie eine Guildhar, wirst du die Mission erfüllen können!«

»Das ist Ana, meine Tochter, sie wollte dich nicht beleidigen«, entschuldigte sich Unigund bei Daria, »kommt herein!«

Daria und Micha verschwanden in Unigunds Haus.

Unigund zog Daria und Micha in eine kleine Kammer. »Ich habe schon Gewand für euch bereit gelegt. Falls ihr Hilfe braucht, ruft einfach.«

Neugierig stand Ana im Türrahmen. »Lass nur Mama, ich werde den beiden helfen«, sagte sie altklug, »ich weiß, wie man sich anzieht.«

Daria und Micha schlüpften aus ihren Hosen und ihren Shirts und stellten ihre Schuhe ordentlich neben das kleine Bett. Ana reichte den beiden ein Kleidungsstück nach dem anderen. Der Stoff war hart und kratzig. Daria schlüpfte in ein weißes Unterhemd, das sich ungewohnt aber trotzdem angenehm anfühlte. Das Kratzen des Leinens spürte sie nicht, ganz im Gegenteil, der Stoff schmiegte sich an ihren Körper und war weich und behaglich. Ana deutete auf ein graues Kleid. »Das ist deines!«

Daria zog das Kleid über, zupfte die Schulterpartie zurecht, schob die Ärmel in die Höhe und streifte die flachen Ledersandalen über ihre Füße.

»Bist du zufrieden, Ana?«

»Ja, jetzt siehst du nicht mehr komisch aus«, antwortete die Kleine und drückte ihrer neuen Freundin einen dicken Schmatz auf die Wange.

Micha trug ein weißes Hemd und eine schwarze knielange Hose. Seine Füße steckten in spitzen, knöchelhohen Stiefeln. Ein breiter Gürtel hielt das wallende Hemd und die weite Hose im Zaum.

Micha warf einen Blick auf seine Schwester. Daria blickte in den kleinen Spiegel und lächelte zufrieden.

Auf dem Bett lag noch eine hellgraue Haube. Daria betrachtete sie argwöhnisch. »Muss ich dieses Ding aufsetzen?«, fragte sie Unigund und verzog ein klein wenig ihr Gesicht.

»Es wäre nett von dir. Alle jungen Mädchen und Frauen der Guildhar, die noch keiner Zunft angehören, tragen eine Haube. Das ist bei uns so üblich!«

Ein sanfter Luftzug umspielte Darias Gesicht. Leise raschelte ihr Kleid, die Tasche wölbte sich nach außen.

»Fast hättest du mich vergessen«, meckerte Riada vorwurfsvoll in Darias Gedanken und kuschelte sich in ihr neues Heim.

»Niemals hätte ich dich vergessen!«, grinste Daria. »Warum ist Unigunds Kopfschmuck grau?«

»Frag sie doch selbst«, antwortete Riada aufmüpfig, »ich bin mir nicht sicher, ob du mich nicht doch vergessen hättest!« Daria lächelte und schüttelte den Kopf.

»Unigund, warum ist dein Kopfschmuck grau? Graues Brot und Semmeln gibt es nicht«, fragte Daria neugierig und zupfte die Bänder ihrer Haube zurecht.

»Der Kopfschmuck der Männer entspricht der natürlichen Farbe, der der Frauen ist immer einheitlich grau - so wie unsere Kleider und Schürzen. Aber wundere dich nicht, du wirst auch Männer mit hängendem Kopfschmuck sehen - das war früher nicht so.«

»Aber, ...«

»Mehr kann ich dir nicht sagen. Ragmal wartet auf euch. Ich werde euer Gewand waschen und zu Ragmal bringen.«

Daria warf noch einen letzten Blick in den Spiegel. Ein spitzer Schrei fuhr aus ihrer Kehle.

»Was ist ...?«, stammelte sie und deutete auf den Spiegel. Die Worte blieben ihr im Hals stecken.

»Das bist du, Mädchen«, beruhigte Unigund und legte ihren Arm um Darias Schulter.

»Aber das schwarze Gesicht!«, hauchte sie und starrte weiter in den Spiegel.

»Hier ist kein schwarzes Gesicht, Daria, nur eine hübsche junge Frau in der Tracht der Guildhar. Es war wohl alles ein bisschen viel für dich! Frische Luft tut dir gut!«

Unigund schnappte Darias Hand und zog sie aus dem Haus.

»Alle Achtung«, rief Ragmal erfreut, »ihr seht wie echte Guildhar aus. Nochmals, herzlich willkommen auf Buntopia im Land der Guildhar!«

»Ist alles in Ordnung mit dir, Daria?«, fragte Arno und blickte seine Nichte besorgt an. »Du siehst so blass aus.«

»Die Aufregung setzt dem armen Mädchen zu«, antwortete Unigund, »Daria hat ein schwarzes Gesicht im Spiegel gesehen. Ein bisschen Ruhe und es wird ihr bald besser gehen!«

Ragmal zog argwöhnisch seine Augenbraue in die Höhe, erwiderte aber nichts.

Micha fingerte an seinem Gürtel und seinem Hemd. Er entdeckte eine schwarze Scheide, die lose an seinem Gürtel herab hing.

»Ein Schwert wäre nicht schlecht!«

»Ein Schwert brauchst du bei uns nicht. Wir leben in Frieden und Eintracht. Wir kämpfen nicht. Niemand stirbt durch die Hand eines Guildhar. Nutze deinen Kopf! Dein Geist ist stark genug, um deine Bedürfnisse zu erfüllen!«, erwiderte Ragmal. »Die leere Scheide ist ein ganz altes Relikt. Ein Überrest aus jener Zeit, in der es noch keine Plasmahülle rund um Buntopia gab, in der das Leben noch hart und kampfreich war.«

»Was für eine Plasmahülle? Wie entsteht denn so etwas?«

»Vor langer Zeit gab es viele blutige Kriege. Eindringlinge wollten Buntopia erobern und die Völker unterjochen. Die Herrscher der oberen Spirale haben die klügsten Köpfe um sich versammelt, um einen geeigneten Schutz zu errichten. So entstand die Plasmahülle! Noch nie hat es jemand geschafft, sie zu durchbrechen!«

»Wir sind direkt hinein geflogen, nichts hat uns daran gehindert!«

»Weil wir es euch gestattet haben! Die leere Schwertscheide erinnert uns daran, dass wir nicht immer so gelebt haben. Aber nun auf zu Waya - sie erwartet...«, Ragmal stockte kurz und warf Arno und Hrüdiger einen geringschätzigen Blick zu, »... sie erwartet Micha und Daria!«

Ragmal und die Geschwister schlenderten durch das Dorf und erreichten den Waldrand. Eine dunkle Wolke verdeckte die Sonne. Es begann zu regnen.

»Warum sind Onkel Arno und Hrüdiger nicht mitgekommen?«, fragte Daria und hob ihr langes Kleid etwas an, um nicht nass zu werden.

»Du kennst doch Hrüdiger«, antwortete Micha prompt und schubste einen kleinen Stein vor sich her, »am liebsten hockt er in seinem Wohnsalon und liest die Zeitung, oder er arbeitet. Ein Spaziergang durch den Wald und noch dazu im Regen - undenkbar für Onkel Hrüdiger!«

Ragmal atmete erleichtert auf. Er war froh, dass ihm der Junge mit seiner Antwort aus dieser unangenehmen Situation geholfen hatte. Irgendetwas haftete an Arno und Hrüdiger, das Ragmal stutzig machte. Seine inneren Alarmglocken schrillten, sobald er die beiden sah! Aber was war das bloß?

»Wayas Hütte liegt versteckt im Wald, abseits des Dorfes. Der Weg zu ihrer Hütte ist nicht weit. Die Guildhar lassen die Alte in Ruhe, niemand betritt diesen Wald. Und für euch gilt dasselbe: heute besucht ihr Waya, aber ansonsten ist dieser Wald für euch tabu.«

»Warum? Das ist doch nur ein Wald!«

»Es ist Wayas Wald. Hier herrschen ihre Gesetze; die alten Kräfte leben in den Bäumen, nur Waya beherrscht sie!«

Ragmal führte sie ins Unterholz. Grauer Nebel kroch über die Zweige und Wurzeln, nicht eine einzige Ameise schlüpfte durch das Unterholz, kein Vogel zwitscherte. Darias Kleid verhedderte sich in einem Wurzelgeflecht; sie stolperte und fing sich an einem dürren Ast, der unter ihrem Gewicht zerbrach. Messerscharf zerschnitt das Knacken des Zweiges die eintönige Stille.

»So ein Mist!«, schimpfte sie und zog das Kleid unter der Wurzel hervor. »Wieso tragt ihr so unbequeme Kleider?«

»Du wirst dich bald an deine neue Tracht gewöhnt haben!«, lächelte Ragmal und ging weiter.

Ein mächtiger Tannenbaum versperrte ihnen den Weg.

»Sei gegrüßt!«, sprach Ragmal und neigte seinen Kopf. »Heute ist es uns gestattet, euren Wald zu betreten. Deine Herrin erwartet uns!«

»Spricht er gerade mit dem Baum?«, flüsterte Micha.

Die Äste des Baumes raschelten, das Wurzelgeflecht rückte zur Seite. Der Baum gab den Weg frei.

Ragmal deutete den Geschwistern nach rechts.

»Dort hinten, versteckt im Dickicht steht Yavens Hütte. Er ist neben Waya der einzige Guildhar, der im Wald wohnt. Yaven werdet ihr noch später kennenlernen. Fürchtet euch nicht, wenn ihr ihn seht. Sein Kopfschmuck besteht aus Waldtieren und einem Hund, die einem Fremden Angst einjagen könnten! Wir gehen aber in diese Richtung!« Ragmal deutete nach links, wo außer Bäumen, knorrigen Zweigen und dichtem Unterholz nichts zu sehen war.

Der Alte stieg über einen Baumstumpf und abgebrochene Äste, Micha folgte ihm.

»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen«, jammerte Daria plötzlich und presste ihre Hände an die Ohren. »Ich höre Stimmen, sie stöhnen und meine Schulter tut wahnsinnig weh!«

Ein dünner, durchscheinender Faden kroch aus ihrer Haube und schlängelte sich Richtung Schulter. Eine dunkle Pfeilspitze mit einem Widerhaken schälte sich aus dem Faden und bohrte sich in Darias Schulter.

Das Mädchen schrie auf und presste ihre Hand auf die Schulter. Der Haken bohrte sich tiefer ins Fleisch. Daria taumelte, schwarzer Schaum trat aus ihrem Mund, grauer Nebel kroch ihren Körper empor, schwarzes Blut quoll aus ihrer Schulter. Röchelnd brach sie zusammen.

»Helft mir!«, schrie Ragmal und schlug mit seinem Stab dreimal gegen den Stamm der Tanne.

Die Bäume rückten zusammen, ihre Äste wurde eins. Der dunkle Nebel prallte gegen ein undurchdringliches Blätterwerk.

Ragmal schnappte das Mädchen und rannte los. Keuchend stieß er die Tür von Wayas Hütte auf.

Waya hockte am Boden. Im Bruchteil einer Sekunde erfasste sie Darias schreckliche Situation.

»Leg das Mädchen auf mein Bett!«, rief sie und sprang auf.

Behutsam träufelte sie eine Tinktur auf Darias Schulter. Der schwarze Fleck und der Schaum um Darias Mund verschwanden augenblicklich.

Daria öffnete langsam ihre Augen und erhob sich. Vor ihr stand eine bucklige alte Frau, die ihr nur knapp bis zur Schulter reichte. In Streifen geschnittene verfilzte Tierfelle hingen an ihrem ganzen Körper und verschleierten ihr Gesicht. Federn mit kleinen Knochen ruhten auf ihrem Kopf.

»Das war knapp! Ihr habt es gerade noch geschafft! Es war in der Haube!«

»In der Haube?«, fragte Ragmal ungläubig. »Die Haube ist von meiner lieben Freundin Unigund!«

»Unigund trifft keine Schuld. Siehst du hier diesen dünnen Faden mit dem Widerhaken?«

»Was war knapp? Was ist mit meiner Schwester?«, unterbrach Micha die beiden barsch und stemmte zornig die Arme in die Hüften. »Kann mir einmal jemand verraten, was hier eigentlich abgeht? Immerhin ist meine Schwester in Gefahr!«

»Sind das die Geschwister?«, schnitt Waya dem Jungen das Wort ab.

Ragmal nickte. Die Schamanin deutete ihnen, auf dem Boden Platz zu nehmen.

Daria packte Michas Hand und krallte sich an ihm fest. Sie hatte Angst! Wortlos zog Micha seine Schwester auf den Boden. Lähmende Stille herrschte in Wayas Hütte, niemand sprach ein Wort.

Wie ein Raubvogel seine Beute umkreiste die Schamanin die Geschwister.

»Nun, ich soll feststellen, ob ihr tatsächlich jene Geschwister seid, die Odgud uns vorhergesagt hat«, murmelte sie schließlich leise und packte Darias linke Schulter.

Daria wollte schreien, aber der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Stattdessen durchflutete ein wohliger Schauer ihren Körper, ein Gefühl tiefer Weisheit pulsierte in ihren Adern. Wayas Gedanken wanderten in Darias Augen, langsam strich die Alte dem Mädchen übers Gesicht. Ihre Finger fuhren über Darias Stirn in Richtung Kopf. Sie legte ihre Hand auf den Scheitel. Daria schloss die Augen. Bilder aus dem Buch blitzten vor ihren Augen auf, sie sah Menschen mit bunten Gesichtern, die in dunklen Gefängnissen ihr Leben fristeten. Eine der Buntköpfigen sah aus wie ihre Mutter.

»Mum«, flüsterte Daria, »Mum, bist du es wirklich?«

»Hast du ein Buch?«, fragte Waya.

Daria schüttelte den Kopf.

»Lüg mich nicht an!«, donnerte die Alte. »Lüg mich niemals an! Ich frage dich nochmals. Hast du ein Buch?«

»Ich bin bei meiner neuen Herrin«, meldete sich Riada freudig aus Darias Tasche und schwebte heraus. Das Buch entfaltete sich zu seiner vollen Größe und schmiegte sich genüsslich in Wayas Hand. Liebevoll strich die Alte über das warme Leder. Spiralförmige Zeichen flammten auf, sie glitzerten und glänzten und verliehen dem düsteren Raum ein angenehm warmes Licht.

»Ich bin froh, wieder bei euch zu sein. Der Berg der Legenden war nett und freundlich zu mir, aber ich habe euch vermisst!«, sprudelte Riada übermütig hervor.

»Bei uns hat sich vieles verändert; nichts ist mehr so, wie es einmal war!«

»Oft war ich in deinen Gedanken, Waya, und habe alles gesehen. Nun bin ich zurück. Jetzt werden wir es schaffen!«

»Ja!«, murmelte die Schamanin und hielt Daria das Buch wieder hin. »Riada wollte zu dir! Bewahre das Buch gut auf!«

Waya wandte sich zu Micha. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seinen Kopf. Tausende Messer stocherten in seinem Gehirn. Er presste seine Hände an die Schläfen.

Waya ergriff Michas Unterarm. Sie nickte zufrieden. Ihre Hand wanderte über Michas Gesicht Richtung Schläfen. Plötzlich zuckte sie zurück.

»Ich bin mir nicht sicher. Der Junge hat etwas, das ich nicht zuordnen kann!«

Das hatte Ragmal befürchtet!

»Arnsig!«, murmelte die Alte und ließ von Micha ab.

»Arnsig ist hier?«, flüsterte Ragmal.

»Das Mädchen bleibt hier, der Junge muss gehen!«, krächzte die Alte und erhob sich. Zornig sprang Micha auf und stemmte seine Hände in die Hüften. »Ohne meine Schwester gehe ich nirgendwo hin!«, schimpfte er und setzte sich wieder neben Daria.

Wortlos zog Ragmal Micha in die Höhe und schob ihn aus der Hütte.

»Aber mein Bruder ...! Ohne Micha will ich auch nicht hierbleiben«, protestierte Daria.

»Sei still, Mädchen, bald wirst du alles verstehen.«

Die Alte erhob sich und zündete ein paar dürre Äste an. Beißender Schwefelgeruch durchzog das Haus. Daria erhob sich und baute sich vor Waya auf.

»Du kannst mich hier nicht festhalten, ich will zu meinem Bruder!« Zornig stieß sie die Schamanin zur Seite. Ein unsichtbare Mauer hielt sie zurück. Sie war gefangen!

Die Legenden der Spiralwelten - Die obere Spirale

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