Читать книгу Die Schule der Wunderdinge (1). Hokus Pokus Kerzenständer - Kira Gembri - Страница 8
ОглавлениеTilly erschauderte vom braunen Wuschelkopf bis hin zu ihren Zehen (die übrigens in einer grünen und einer rotweiß geringelten Socke steckten). Einmal hatte sie ihre Eltern während der Arbeit besucht, und das war entsetzlich langweilig gewesen. Jetzt, nach dem Umzug, würden die beiden natürlich in einer anderen Bank am Schalter sitzen, aber dort ging es bestimmt nicht spannender zu.
»Tillymaus!«, flötete ihre Mutter und streckte den Kopf zur Tür herein. »Was machst du gerade?«
Hastig schloss Tilly ihr Notizbuch. Sie wollte ihre Eltern nicht kränken, auch wenn sie stinksauer auf die beiden war. Schließlich hatten sie einfach ein Haus in der ödesten Stadt der Welt gekauft, ohne Tilly nach ihrer Meinung zu fragen.
»Ich will einen Apparat erfinden, der automatisch die Vorhänge zuzieht, wenn ich mich an den Schreibtisch setze«, sagte Tilly. »Damit ich das da nicht sehen muss!«
Anklagend deutete sie auf das Fenster über ihrem Schreibtisch. Durch die blank geputzte Scheibe hatte man perfekte Sicht auf die neue Nachbarschaft, und dieser Anblick ließ Tillys Laune auf den Tiefpunkt sinken. Entlang der schnurgeraden Straße standen hellgraue Häuser, die alle zum Verwechseln ähnlich waren. Noch nicht einmal die Vorgärten unterschieden sich voneinander. Nirgendwo gab es Blumen, eine Schaukel oder gar ein Trampolin. Stattdessen sah Tilly nur ordentlich gemähten Rasen und Schotterwege, die so wirkten, als hätte man sie mit einem Lineal gezogen.
Tillys Mutter legte bekümmert die Stirn in Falten. »Ich weiß, dass es hier ganz anders ist als in der Großstadt«, sagte sie, »und dass du deine Freunde vermisst. Aber Papa und ich haben schon immer davon geträumt, an so einem friedlichen kleinen Ort wie Blasslingen zu leben. Kannst du nicht wenigstens versuchen, dich darauf einzulassen?«
»Von mir aus«, antwortete Tilly widerwillig. »Dann werde ich eben keinen Propeller an mein Fahrrad bauen, um damit zu flüchten. Aber das ist alles, was ich versprechen kann!« Noch während sie das sagte, dachte sie daran, wie dringend sie so ein fliegendes Fahrrad eigentlich nötig hatte. Keiner ihrer Freunde würde regelmäßig mit dem Zug in diese langweilige Kleinstadt fahren, um sie zu besuchen. Und das konnte Tilly ihnen noch nicht einmal übel nehmen!
Ihre Mutter schien nun allerdings wieder beruhigt zu sein. »Hauptsache, du gibst unserem neuen Zuhause eine Chance«, sagte sie lächelnd. Dann platzierte sie schwungvoll einen Karton mit der Aufschrift Mathildas Kritzeleien auf Tillys Schreibtisch und wischte sich eine lose Haarsträhne aus der Stirn. Abgesehen von dieser winzigen Strähne, saß ihre Frisur perfekt. Sie schwitzte auch nicht, wie es wohl die meisten an ihrer Stelle getan hätten. Immerhin war es August, und die Familie Bohnenstängel hatte gerade einen Umzug hinter sich gebracht. Doch was bei vielen Menschen chaotisch ablief, klappte bei Tillys Eltern wie am Schnürchen. Deshalb würden sie an ihrem ersten Abend im neuen Zuhause nicht etwa zwischen Umzugskisten auf dem Fußboden hocken und Pizza direkt aus dem Karton futtern. Tilly bezweifelte, dass ihre Eltern überhaupt schon mal auf dem Boden gesessen hatten. Stattdessen würden sie im perfekt eingerichteten beigefarbenen Wohnzimmer irgendetwas sehr Gesundes essen – zum Beispiel gedünsteten Rosenkohl.
»Räum das bitte gleich weg, ja?«, sagte Tillys Mutter. »Am besten ganz nach hinten in den Schrank. Du wirst doch allmählich zu alt dafür, mein Schatz.« Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer, und gleich darauf ertönte das Brummen des Staubsaugers.
Seufzend öffnete Tilly den Karton, der mit Notizbüchern gefüllt war. Und diese Notizbücher waren gefüllt mit Ideen. »Allmählich zu alt«, murmelte Tilly. »Von wegen!« Ihre Eltern wollten einfach nicht glauben, dass Tilly ihren Berufswunsch ernst meinte. Erfinderin, das klang für Herrn und Frau Bohnenstängel kaum besser als Einhorn-Züchterin.
Tilly zog eines der Notizbücher heraus und blätterte durch die ersten Seiten. Darauf hatte sie lauter Dinge gezeichnet, die dringend erfunden werden sollten:
Leider wusste Tilly noch nicht, wie man das alles schaffen konnte – aber die Sache mit den Vorhängen würde sich bestimmt lösen lassen. Entschlossen blätterte sie bis zu einer leeren Seite und kritzelte nach kurzem Überlegen drauflos. Als sie den Plan fertig gezeichnet hatte, machte sie sich gleich daran, ihn in die Tat umzusetzen.
Zuerst rückte sie ihren Stuhl dicht an den Schreibtisch. Dann kletterte sie auf die Fensterbank, hob die Vorhänge hoch und band sie links und rechts vom Fenster mit Schleifen zusammen. Jeweils ein Ende der Bänder ließ sie dabei lang herunterhängen. Diese Enden zog sie unter dem Schreibtisch durch und knotete sie an den Stuhl. Fertig war der Vorhangapparat! Wenn man jetzt den Stuhl zurückzog, strafften sich die beiden Bänder, die Schleifen gingen auf, und die Vorhänge schwangen über dem Fenster zusammen.
Zufrieden betrachtete Tilly ihre Konstruktion. Von nun an würde sie vor der trostlosen Aussicht auf ihre neue Nachbarschaft geschützt sein, wenn sie am Schreibtisch saß und zeichnete. Oder … wenn sie ihre Schulaufgaben machte.
Bei diesem Gedanken war Tillys Zufriedenheit sofort wie weggeblasen. Auf der Fahrt hierher hatte sie schon einen Blick auf die Blasslinger Grundschule werfen können. Das war ein Betonklotz mit ungeschmückten Fenstern und einem kahlen, asphaltierten Hof. Dagegen machte ihre neue Wohnstraße beinahe einen freundlichen Eindruck. Wem gefiel bitte schön eine Schule, die dermaßen öde aussah?!
Antwort: Tillys Eltern.
»Wie wunderbar schlicht!«, hatte ihre Mutter gerufen, und ihr Vater hatte hinzugefügt: »Du wirst sehen, hier lebst du dich ganz schnell ein.«
Das konnte Tilly sich kaum vorstellen. Mit einem flauen Gefühl im Bauch dachte sie daran, dass die Ferien schon fast zu Ende waren. Ab nächster Woche würde sie täglich in diesem schrecklichen Betonklotz sitzen müssen! Stöhnend griff sie wieder nach ihrer Liste und schrieb noch eine letzte Zeile unter den Titel WIE MAMA UND PAPA SICH VON MIR UNTERSCHEIDEN:
8. Sie glauben, dass ich mich in Blasslingen wohlfühlen werde.
Dagegen waren beigefarbene Socken und trockene Haferkekse ein Klacks. Tilly hatte keinen Zweifel – dieser Punkt war der seltsamste von allen.