Читать книгу Die Schule der Wunderdinge (1). Hokus Pokus Kerzenständer - Kira Gembri - Страница 9
Оглавление2. Kapitel
Tilly wusste, dass man sich manche Dinge ganz furchtbar vorstellt, und dann wird man positiv überrascht. So hatte sie zum Beispiel geglaubt, im Schrebergarten ihres Opas einen superlangweiligen Sommer erleben zu müssen, während ihre Eltern auf Haussuche gewesen waren. Aber dann hatte sie Opas alten Werkzeugkoffer benutzen dürfen und eine Blumengießmaschine erfunden, die fast perfekt funktionierte. Bis auf ein paar unerwartete Überschwemmungen war das also ein sehr angenehmer Sommer gewesen. Ganz ähnlich war es auch mit der Blasslinger Grundschule – nur umgekehrt.
Tilly fand es dort noch viel, viel schlimmer, als sie gedacht hatte.
»Herzlich willkommen!«, wurde sie am ersten Schultag von einer kurzhaarigen Frau begrüßt, die überhaupt nichts Herzliches an sich hatte. Sie war groß und dünn, hatte dünne, gerade Augenbrauen, eine schmale Brille und schmale Lippen. Die formte sie jetzt zum Hauch eines Lächelns, während sie auf das Namensschild an ihrer Kostümjacke tippte. »Ich bin Marianne Schmeling, die Rektorin. Schön, dass ich dich an der Blasslinger Grundschule begrüßen darf. Du wirst dich bestimmt rasch bei uns eingewöhnen!«
Ihr Blick wanderte über Tillys einziges, schon etwas zu kurz gewordenes Kleid und von dort weiter hinab zu Tillys Kniestrümpfen. Einer von ihnen war ordentlich weiß, doch sein Zwilling hatte leider beim Frühstück einen Fleck abbekommen. Deshalb trug Tilly nun am anderen Bein einen Strumpf mit aufgestickten Flamingos. Sehr sauberen Flamingos, wohlgemerkt, aber Frau Schmeling schien kein Fan pinker Vögel auf Kleidungsstücken zu sein.
»Wir glauben auch, dass unsere Tochter hier bestens aufgehoben ist«, sagte Frau Bohnenstängel, legte Tilly einen Arm um die Schultern und drückte sie leicht. Das sollte wahrscheinlich heißen: Komm, gib der Schule eine Chance. Herr Bohnenstängel zwinkerte Tilly hinter seinen Brillengläsern aufmunternd zu, dann meinte er, an Frau Schmeling gewandt: »Es ist ja alles sehr einladend hier!«
Das war keine Übertreibung, stellte Tilly fest, während sie sich im Büro der Rektorin umschaute. Nein, es war eine fette Lüge. Hier drin gab es nur ein Regal voller grauer Aktenordner, einen leeren Schreibtisch und einen Stuhl mit hoher Rückenlehne. Auf dem Fensterbrett stand außerdem eine Blumenvase mit einer Plastikrose darin. Wahrscheinlich wäre jede echte Pflanze beim Anblick des kahlen Schulhofs vor Langeweile verschrumpelt.
Aber Frau Schmeling sagte allen Ernstes: »Ja, wir legen viel Wert auf Gemütlichkeit. Begleiten Sie uns doch zu Mathildas neuem Klassenzimmer, dann sehen Sie es selbst.«
Mit energischen Schritten führte sie Tilly und ihre Eltern aus dem Büro und einen blitzsauberen Flur entlang. An den Wänden hingen keine Bilder aus dem Zeichenunterricht, wie Tilly das von ihrer alten Schule kannte. Stattdessen prangten überall Fotos lächelnder Kinder, die mit Sprechblasen versehen waren:
Echte Verbotsschilder hätten wenigstens etwas Spannendes an sich gehabt, fand Tilly – ein bisschen wie in einem Gefängnis oder in einem gruseligen Waisenhaus. Aber beim Lesen dieser Sprechblasen schliefen ihr glatt die Füße ein. Außerdem musste sie fürchterlich gähnen.
»Na, na«, sagte Frau Schmeling und deutete auf ein anderes Schild mit der Sprechblase:
In diesem Moment wurde Tilly klar, dass sie dringend eine künstliche Hand erfinden musste, die ständig vor ihrem Mund schwebte. An der Blasslinger Grundschule würde sie nämlich nie aus dem Gähnen herauskommen! Trotzdem lächelte sie mühsam, als ihre Eltern sich von ihr verabschiedeten, und betrat das Klassenzimmer.
Obwohl der Unterricht noch nicht begonnen hatte, saßen die Kinder bereits alle auf ihren Plätzen. Tilly spürte tief in ihrem Inneren einen Stich, als sie an ihre alte Schule dachte. Dort hatte sie vor der ersten Stunde immer mit ihren Freundinnen auf dem Flur herumgealbert, aber die Jungen und Mädchen hier schienen eindeutig strengere Regeln gewohnt zu sein. Beim Anblick der Rektorin sagten sie wie aus einem Mund: »Gu-ten Mor-gen, Frau Schme-ling!«
»Guten Morgen, Kinder. Ich bringe euch eine neue Klassenkameradin. Mathilda, such dir einen freien Platz!«, sagte Frau Schmeling, dann rauschte sie hinaus.
Verlegen trat Tilly von einem Fuß auf den anderen und spürte, wie der ordentliche weiße Strumpf zu rutschen begann. Ihre neuen Mitschüler beobachteten sie, ohne ein Wort zu sagen. Dabei lächelten sie wie die Kinder auf den Plakaten. Die einzigen Ausnahmen waren ein Mädchen mit steif geflochtenen schwarzen Zöpfen und ein Junge in einem Kapuzenpullover, der eine Narbe an der linken Augenbraue hatte. Beide starrten nur abweisend auf ihre Pulte, also würde Tilly sich bestimmt nicht neben einen von ihnen setzen. Aber wohin sonst? Ratlos blickte sie sich im Klassenzimmer um, das ähnlich karg eingerichtet war wie Frau Schmelings Büro. Als sie schließlich ein Aquarium auf einem der Pulte entdeckte, atmete sie auf. Die Fische dümpelten zwar nur träge durchs Wasser, doch vielleicht konnte man ein Spielzeug für sie erfinden? Das wäre zumindest ein netter Zeitvertreib.
Erleichtert ging Tilly zu dem freien Platz neben dem Aquarium und setzte sich. Sie überlegte gerade, ob Blumentöpfe oder Kokosnuss-Schalen bessere Höhlen für Fische abgeben würden, da erklang in ihrer Nähe ein Räuspern.
»He, das ist eigentlich mein Platz!«
Tilly schreckte hoch. Ein Mädchen hatte sich neben ihr aufgebaut und schaute sie abwartend an. Sie war von Kopf bis Fuß in helle Farben gekleidet: weiße Jeans, eine zartrosa Bluse und ein himmelblauer Pullover, der locker um ihre Schultern hing. Ihr honigblondes Haar glänzte wie in einer Werbung für Shampoo.
»Ich wusste nicht, dass hier schon besetzt war«, sagte Tilly verdutzt.
»Nun ja, nach den Ferien darf sich jeder einen neuen Platz aussuchen. Aber ich denke, hier könnte es mir gefallen.« Das Mädchen beugte sich lächelnd vor, als wollte sie die Fische beobachten – dann zupfte sie sorgfältig ihre Frisur zurecht. Wie es aussah, benutzte sie das Aquarium als Spiegel.
»Also«, sagte Tilly, immer noch etwas überrumpelt. »Eigentlich war ich jetzt zuerst hier …«
Von einem Moment auf den anderen war das Lächeln des Mädchens verschwunden. Ihre Augen wurden schmal, und sie warf ihren schicken weißen Rucksack auf die Tischplatte. »Sei so nett, ja?!«, sagte sie kühl. »Ich bin übrigens Clarissa von Rosenberg. Mein Vater ist der Bürgermeister von Blasslingen.«
Tilly stand widerwillig auf. Es war sicher keine gute Idee, schon am ersten Tag mit einer Mitschülerin zu streiten. »Ich bin Tilly, und meine Eltern arbeiten in einer Bank«, sagte sie, obwohl sie es reichlich seltsam fand, sich auf diese Weise vorzustellen.
»Tatsächlich?« Clarissa musterte den Flamingo-Strumpf. »Ich dachte, du kommst aus einer Zirkusfamilie.«
Noch bevor Tilly etwas erwidern konnte, klingelte es zum Unterricht. Nein, eigentlich klingelte es nicht, sondern aus dem Lautsprecher über der Tür drang ein schwaches Tut-tut-tut. Nur Sekunden später kam ein Mann mit Halbglatze herein, der mittelgroß, mitteldick und vermutlich der Klassenlehrer war. Schnell huschte Tilly zum nächstbesten Platz – ausgerechnet neben dem Mädchen mit den schwarzen Zöpfen und dem mürrischen Gesichtsausdruck. Als Tilly sich setzte, räumte das Mädchen schweigend ein Federmäppchen und ein Lineal beiseite, auf denen PIA und MARIA stand.
»Pia-Maria? Schöner Name«, flüsterte Tilly.
Keine Antwort. Das Gesicht des Mädchens wurde noch ein bisschen mürrischer.
Und dann, als wäre nicht alles schon schlimm genug, sagte der Klassenlehrer mit der eintönigsten Stimme, die Tilly je in ihrem Leben gehört hatte: »Willkommen … zurück. Nach den langen Ferien … wird es höchste Zeit … für ein bisschen … Grammatik, nicht wahr?«