Читать книгу Teufelsbrut - Kirsten Klein - Страница 5

Prolog

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Leute eilten herbei, lärmten und drückten den Mann gegen das Mädchen. Sie spürte seinen Bauch in ihrem Rücken, rutschte fast von der Fußbank, auf die man sie gestellt hatte, damit sie besser sehen konnte.

Der Wind befreite dünne Strähnen ihres Haares, das über den Ohren zu Schnecken gedreht war, und spielte mit ihnen. Feucht strich der Atem des Mannes über ihren Scheitel – kitzelte, juckte und brannte.

Die Masse verdichtete sich. Fast erstarb der Wind. Schwer lastete die Luft über den Menschen, gesättigt von zersetztem Schweiß. Ein Halbwüchsiger schlüpfte unter der Achsel des Mannes hindurch, der nun seine Hände zum Gebet erhob, und drängte sich vor das Mädchen. Sie war versucht, ihr Gesicht in seinem struppiggelben Schopf zu vergraben – wie in einem Kornfeld, draußen vor den Toren. Zum Gebet bereit, schob die Männerhand den Burschen beiseite, doch einen Augenblick lang war dem Mädchen die Flucht gelungen. Hinter zugekniffenen Lidern sah sie gelbes Korn wogen – spürte sie, wie die Sonne des vergangenen Sommers auf Haupt und Gesicht prallte.

Wie siedendes Öl träufelten die Worte des Betenden durch ihr Haar. Kratzen durfte sie sich nicht. Am eigenen Schürzenzipfel, den sie zur schweißnassen Wurst gedreht hatte, suchten ihre Finger Halt. Die Stimme des Mannes schwoll an, und seine hart über die Lippen gestoßenen Laute trafen das Kind wie Hiebe. Warum betete er jetzt schon so eindringlich? Es war doch noch gar nicht soweit. „Und vergib uns unsere Schuld“, hörte sie, dieselben Worte, die sie selbst täglich aussprach. Nur klangen sie aus seinem Mund so anders, als ginge es nicht um die Vergebung eigener Schuld. Dem Mädchen dagegen war, als hätte es schon immer Schuld getragen, als wäre es mit einem unsichtbaren Schuldbuckel geboren worden und könnte sich nur durch stetiges Beten allmählich aufrichten.

So fest, dass es schmerzte, drückten und drehten die kleinen Finger an der Schürze, als wollten sie ihr Schweißtränen entringen. Das Gefühl eines Stockschlags auf die Knöchel ließ sie zum Gebet ineinander fahren. Offenbar hatte wieder der Teufel ihre Hände geführt und ihre Gedanken abgelenkt. Aufgeschreckt starrte sie auf den noch immer zur Wurst gedrehten Zipfel, versuchte ihn rasch glatt zu streichen und faltete wieder ihre Hände, ehe sie weiteres Unheil anrichten konnten. Artig kam das Vaterunser auch über ihre Lippen, wenngleich manche Silbe sich an spröder Haut zu ritzen schien. Ausgetrocknet war der Hals, brannte wie die Augen.

Gegen jeden schlimmen Gedanken sofort anbeten! Diese Ermahnung hatte sich wieder einmal im hintersten Winkel ihres Gedächtnisses verkrochen. Besonders der Mann in ihrem Rücken, als Pfarrer einer der mächtigsten Teufelsgegner, mahnte ständig. Er musste also ihr engster Verbündeter sein. Warum nur fiel es ihr so schwer, ihn zu mögen, gerade jetzt, in dieser entscheidenden Stunde? Das Böse in ihr musste es sein, was ihn ablehnte. Ihre Haut sträubte sich, und die feinen Körperhärchen stellten sich auf wie Stacheln, als gelte es, einen Feind abzuwehren. Die Menge schob und drückte, umschloss enger das Geschehen auf dem Marktplatz – wie ein lebender Ring. Giebel vornehmer Häuser reckten sich nach vorn, als dürften sie ebenfalls nichts versäumen, und vertuschten mit ihren langen Abendschatten wie mit ausfließender Tinte die Gesichter der Zuschauer. Wer jetzt noch nicht zu den Versammelten gehörte, würde eine Randfigur bleiben müssen – und konnte sich damit sogar verdächtig machen.

Aber das hatte kaum einer gewagt. Fast menschenleer war die übrige Stadt, wie es sich bei solchen Anlässen geziemte für eine Stadt voller ehrsamer Bürger. Wie sonst kaum, waren Vertreter aller Stände jetzt äußerlich wie innerlich vereint, wenn auch glitzerndes Geschmeide wichtige Herrschaften kennzeichnete und manch ausladender Hut ein hohes Haupt noch höher krönte. Andere zogen es vor, ihre Macht durch protestantische Schlichtheit zu demonstrieren – wie der Herr Pfarrer hinter dem Mädchen, an der Innenseite des Menschenringes. Obwohl seine Statur nicht beeindruckte, erschien es ihr, als stünde sie im Schatten einer hoch aufragenden Kirche, erstarrt vor Kälte bis ins Mark. Nicht einmal ihre Lider konnte sie mehr schließen. Weit aufgerissen starrten ihre Augen ins Innere des Kreises, der sich endgültig zur Vorstellung geschlossen hatte, nachdem die Menge den Akteuren nur widerwillig Einlass bot. Man fürchtete um seinen Platz.

Inzwischen ergoss die Abendsonne ein intensiv blutendes Licht und ließ ein wenig davon über die Dächer der Stadt fließen. Das Mädchen, eingekeilt in der Menge, das der untergehenden Sonne so gerne nachsah, bemerkte sie heute nicht. Unhörbar flocht es eine Bitte in sein Gebet ein, aber Gott erfüllte sie nicht. Er griff nicht in das Geschehen ein, wollte offenbar, dass sie hier stand und auf die Frau starrte, die bis vor wenigen Wochen noch ihre Tante gewesen war. Jetzt war sie eine Hexe, und das musste wohl stimmen. Denn Gott schickte keinen Regen vom Himmel. Er ließ zu, dass das Feuer vom Scheiterhaufen Besitz ergriff und hoch aufloderte.

Laut betete das Mädchen gegen seine Angst an, aber ihre Worte versanken bald in der Flut übriger Gebete, die in rhythmischen Wellen an- und abschwoll, näher rückte und bis zur Mitte des Marktplatzes schwappte. Sogar die Stimme des Pfarrers versank darin. Selbst vom Schauspiel eingenommen, entging ihm der erneute Ungehorsam der Kinderhände. So fest sie sich auch gegen beide Ohren pressten, konnten sie doch nicht verhindern, dass der Schrei der Brennenden in den Körper drang, durch die Eingeweide raste und warme Nässe aus dem Unterleib trieb. Der eigene Schrei, der ihr vielleicht ein wenig Erleichterung gebracht hätte, blieb dem Mädchen im Halse stecken. Sie atmete den Geruch verbrannten Fleisches – das Gesicht gerötet von der Hitze, das Weiß der tränenden Augen durchzogen von einem Netz roter Äderchen. Feuerschein und Schatten jagten über Stirn und Wangen, fingen sich im Spiegel der Iris, ließen sie glänzen wie im Fieberwahn.

Auch jetzt tränten ihre Augen, inzwischen längst von einem Faltennetz umgeben. Und auch jetzt hätte sie gern geschrien und konnte nicht, starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Kaminfeuer.

„Großmutter, wie hat sie geschrien, die Hexe?“, fragte das Kind.

Die Alte hörte es nicht. Versunken in der Erinnerung, starrte sie weiter ins Kaminfeuer und sah alles wieder wie damals, konnte sich nicht davon abwenden – wie damals.

„Großmutter“, drängelte die Enkelin. „Wie hat sie geschrien?“

Die Alte rührte sich nicht. Starr wie damals verharrte sie, ihre Finger in die Schürze verkrallt. Erst als das Kind daran zupfte, wandte sie sich langsam zu ihm um.

Die Kleine, sonst gar nicht ängstlich, erschrak. Den Blick noch immer in die Vergangenheit gerichtet, strich ihr die Großmutter übers Haar. „Das sollst du nie hören, nie.“ Und als müsste sie sich selbst davon überzeugen, fuhr sie fort: „Es war nicht die Stimme meiner Tante. Es war die Hex’, die aus ihr geschrien hat, die Hex’.“

„Großmutter, wie schreit denn eine Hex’?“ Weit öffnete das Kind den kleinen Mund.

„Sei still, Mariele“, gebot die Alte und verschloss ihn schnell mit ihrer knochigen Hand. „Damit treibt man keinen Schabernack! Sonst gibt’s was mit der Rute. Wie die klingt, weißt du.“

Der Knecht, der bis dahin still in dunkler Ecke auf der Ofenbank zugehört hatte, lachte närrisch auf. Marie biss sich ärgerlich auf die Unterlippe. Ob dieser Schmerz wohl so ähnlich brannte wie der Biss der Flammen? Sie betrachtete die Großmutter und versuchte, sie sich als Kind vorzustellen. Strohblond wie sie, das Mariele, wäre sie gewesen, hatte sie gesagt. Doch trotz größter Anstrengung sah Marie in Gedanken nur eine kindlich verkleinerte Großmutter vor sich, mit aschengrauem Haar und matten Augen. Klein war sie inzwischen tatsächlich wieder geworden, und den Schuldbuckel konnte sie offensichtlich immer noch nicht abtragen.

„Großmutter, bin ich auch schuldig?“ Maries Trotz war purer Angst gewichen.

„Alle, alle sind schuldig“, murmelte die Greisin vor sich hin und legte ein neues Scheit Holz auf. „Seit jenem Abend im Herbst quält Gott mich mit dem Schrei des Bösen, damit ich sie nicht vergesse, meine Schuld.

Marie wagte nicht zu fragen, ob die Großmutter den Versuchungen des Bösen stets widerstanden hätte. Sie wusste ja selbst, wie schwer es war, immer gehorsam zu sein. Auch ihre Finger verrichteten lieber anderes, als sich zum Gebet zu vereinen.

Neugierig forschte Marie im unbewegten Gesicht der Alten, das wie ein grauer Stein mit zahllosen Furchen wirkte. Aber die bemerkte nichts davon, verharrte wieder in der Vergangenheit. Irgendwie war ihr Leben stehen geblieben an jenem Abend im Herbst – die zuletzt fiebrigen Augen im Aschenregen erloschen, der endlich auf Haar, Haut und Kleidung prasselte.

Teufelsbrut

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