Читать книгу Die Schiffe der Waidami - Klara Chilla - Страница 6

Abschiede

Оглавление

Tamaka beeilte sich, den anderen Sehern aus der Höhle zu folgen. Er musste sofort Lanea aufsuchen und ihr mitteilen, dass sie auf die Monsoon Treasure gehen würde.

Der Seher lächelte still vor sich hin, doch gleichzeitig lauerte ein Gefühl der Beklommenheit in seinem Herzen. Es war so weit, es gab kein Zurück mehr. Die Dinge würden jetzt ihren Lauf nehmen, ob er es wollte oder nicht. Er konnte nur versuchen, dass alles so geschehen würde, wie er es in seinen Visionen gesehen hatte. Bairani ahnte offensichtlich nicht, welche Rolle Lanea dabei spielen würde … Allerdings machte ihm die Intensität der Visionen, die Torek empfing, Sorgen. Der Junge hatte noch mehr Visionen gehabt, doch Bairani hatte sie bewusst zurückgehalten, als würde er ahnen, dass sie für ihn noch von Wert sein konnten.

Tamaka war froh, als der Dschungel sich lichtete und die ersten Hütten zwischen den Pflanzen zu sehen waren. In der Bucht hinter dem Dorf lagen zwei Segelschiffe. Das eine war klein und wenig auffällig, da es sich auch nur um einen Handelsfahrer handelte. Ein Stück dahinter ragten die Masten der riesigen Darkness in den Himmel. Der majestätische Dreimaster von Captain Stephen Stout ließ keinen Zweifel daran, für welchen Zweck er gebaut worden war. Tod und Zerstörung lauerten zwischen jeder einzelnen Planke und hingen wie eine unausgesprochene Drohung über der trügerisch ruhigen See. Sie war bisher das größte und mächtigste Schiff der Waidami, und ihr Captain schreckte vor keiner grausamen Tat zurück.

Tamaka schauderte leicht. Die Zeit lag im Wandel, und es würde in nächster Zeit viel geschehen. Als er die Mitte des kleinen Dorfes erreichte, sah er bereits, wie fast sämtliche Bewohner dort im Kreis versammelt waren.

Im Zentrum der Gruppe konnte er Merka ausmachen. Sie war die älteste Frau, die er jemals gesehen hatte, und war schon alt gewesen, als sein eigener Vater auf die Welt gekommen war. Sie erzählte gerne die Legenden der Göttin Thethepel. Stets gelang es ihr aufs Neue, ihre Zuhörer in einen Bann zu schlagen, der es unmöglich machte, diese Geschichten nicht hören zu wollen.

Merka schien gerade mit ihren Erzählungen fertig geworden zu sein, und Tamaka entdeckte direkt neben ihrer im Laufe der Jahre verkrümmten Gestalt Lanea, die zusammen mit ihrer Freundin Tahuna mit der einzigartigen Faszination von jungen Menschen ihren Worten lauschte.

„… aber die Göttin spricht nicht mehr mit uns“, sagte die alte Frau gerade mit ihrer knarrenden Stimme. Tamaka vernahm die unterschwellige Aufforderung darin und sah sie interessiert an.

„Warum spricht sie nicht mehr?“ Seine Tochter brannte vor Neugierde, und Tahuna nickte neben ihr beifällig mit dem Kopf, sodass ihre langen schwarzen Haare aufschwangen und der Bewegung voller Lebenslust folgten.

„Sie ist verschwunden …!“ Echtes Bedauern lag in den Worten, und Merka ließ ihren Blick an den grün überwucherten Hängen des Vulkans hochwandern.

Die Umsitzenden sahen sie eine Weile schweigend an, gefangen von der plötzlich entstandenen düsteren Atmosphäre. Abwartendes Schweigen herrschte, das von Lanea unterbrochen wurde.

„Wieso ist sie verschwunden – und wohin?“

Tamaka erstarrte, als er den Ausdruck in den Augen der alten Merka sah, mit denen sie ausgiebig seine Tochter musterte. Ein Wissen lag darin, das ihn zutiefst erschreckte.

„Sie und Pa’uman sind bestraft worden.“ Ihre Worte tropften in die Stille. Nur das gleichmäßige Geräusch der Wellen, die gegen den Strand rollten, unterbrachen diese, als weigerten sie sich, sich von den Worten aufhalten zu lassen. „Der Vater Thethepels war sehr erzürnt über ihre Leichtlebigkeit. Über ihre Liebe zu Pa‘uman vergaß sie die Verantwortung, die sie übernommen hatte, als sie die Waidami erschaffen hatte. Sie kümmerte sich nicht mehr darum, was für ein Leid die Piraten, die ihr Volk aussandte, über die Menschen brachten. Thethepel sah nur noch Pa’uman, und Pa’uman richtete ebenfalls sein ganzes Dasein auf die Göttin. Da beschloss ihr Vater Mako’un, sie zu bestrafen, und raubte ihnen ihre unsterblichen Seelen …“ Merka machte eine Pause, und ihre Worte hingen in all ihrer Unvollständigkeit wie eine Wolke über den Köpfen der Zuhörer. „Niemand weiß genau, wo sie jetzt sind, und ob sie je wiederkehren werden.“

Die Stille war ungebrochen. Tamaka konnte seinen Blick nicht von der alten Merka wenden, die ihrerseits Lanea anstarrte. Doch plötzlich richteten sich ihre Augen gezielt auf Tamaka und durchbohrten ihn mit den feinen Nadelspitzen der Weisheit.

Der Seher versuchte, gelassen dem Blick standzuhalten, doch innerlich brodelte er. Erleichtert verlief sich seine Erregung, als sie ihren Blick wieder von ihm löste und dann lächelnd über die Runde gleiten ließ. Mit dem Lächeln wurde der Bann aufgehoben. Das Leben kehrte in die Zuhörer zurück, und schnell entwickelten sich lebhafte Unterhaltungen unter den Dorfbewohnern. Tamaka beschränkte sich darauf, sein Augenmerk wieder auf seine Tochter zu richten.

Lanea kicherte unbeschwert, während Tahuna ihr etwas ins Ohr flüsterte und mit geschickten Fingern das rote Haar von seinem Zopf erlöste. Die Flut der Haare flatterte kurz auf, als Tahuna sie mit beiden Händen hochhielt und dann über die Schultern der Freundin fallen ließ, als wäre es flüssiges Feuer.

Der Anblick versetzte Tamaka einen Stich. Lanea sah aus wie das vollkommene Abbild ihrer Mutter Nahila, die nicht weit von ihr zwischen den anderen Frauen saß und sich angeregt unterhielt. Als sie seinen Blick auf sich spürte, hob sie ihr Gesicht, und Tamaka sah, wie sich ihre dunkelbraunen Augen – der einzige Unterschied zu Lanea - für einen Wimpernschlag weiteten. Von einem Augenblick auf den anderen war sie ernst geworden. Mit einer geschmeidigen Bewegung stand sie auf, glättete beiläufig ihren langen Rock und ging dann auf ihn zu. Ihre ebenfalls flammend roten Haare hatte sie locker an ihrem Hinterkopf zusammengesteckt. Tamaka stellte mit einem leichten Schaudern fest, dass sie ihm immer noch mit ihrer Erscheinung den Atem zu rauben vermochte. In ihrem Gesicht aber lag die Furcht vor dem Unausweichlichen, als sie mit fragendem Blick vor ihrem Mann stehen blieb.

Tamaka schloss für einen Moment die Augen. Das innige Gefühl für diese beiden Frauen drohte ihn zu überwältigen.

„Es ist so weit!“ Er öffnete die Augen und sah sie fest und unumwunden an.

Nahilas Blick flatterte wie ein verschreckter Vogel zu Lanea und kehrte dann zu ihm zurück. Sie zitterte, und Tamaka schloss seine Arme um sie, froh noch den Trost ihrer Nähe spüren zu können.

„Ich hatte gehofft, dass dieser Tag nie kommen würde …“ Nahila seufzte voller Schmerz und legte ihren Kopf an seine Brust.

„Ich weiß, aber es ist ihre Bestimmung – und sie muss ihr folgen.“ Tamaka sprach gepresst.

Nahila löste sich aus seinen Armen und sah traurig zu ihrer Tochter hinüber.

„Die ruhigen Jahre sind also vorüber. Wann wird sie uns verlassen?“

„Noch heute Abend wird sie an Bord der Tsunami gehen und morgen Waidami verlassen. Es ist besser, wenn sie das Dorf so schnell wie möglich verlässt.“ Er zögerte kurz, bevor er weitersprach, und sah sich unauffällig um, ob ihnen jemand zuhören konnte. „Und du auch! Bereits heute wird er damit beginnen, vermeintliche Verräter zu beseitigen. Ich werde dich von hier fortbringen und dann Lanea hinterher segeln, damit ich sie und Jess auf den richtigen Weg bringen kann.“

Nahila lächelte, obwohl sie mit den Tränen kämpfte.

„Dann werde auch ich mit den Vorbereitungen beginnen.“ Sie gab ihm einen Kuss voller Liebe und Verzweiflung, dann schlug sie den Weg zu ihrer Hütte ein.

Tamaka sah ihr nach. Das Gefühl, die Trennung von ihr nicht verkraften zu können, raubte ihm für einen schmerzvollen Augenblick den Verstand. Er atmete mehrmals tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Lanea.

Sie folgte gerade dem Blick ihrer Freundin Tahuna zu Kamun, einem jungen Krieger, dessen Aufgabe es war, die Seher zu beschützen. Er stand aufrecht und stolz zwischen den anderen jungen Männern und betrachtete voll verliebter Gutmütigkeit Tahuna. Tamaka vermutete, dass Tahuna ihrer Freundin wohl gerade eröffnet hatte, dass Kamun bei ihrem Vater vorgesprochen hatte, um sie zur Frau zu nehmen. Ronam hatte ihm davon erzählt.

Gerade fielen sich die beiden jungen Frauen wieder lachend in die Arme. Er lächelte bitter, würde doch dieser Tag für viele einen Abschied bereithalten, von dem sie noch nichts ahnten.

Tamaka straffte seine Schultern und ging dann um die Leute herum, bis er sich seiner Tochter von der Seite her näherte. Als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, bemerkte sie ihn und sah ihn voller Wärme an. Eine Hand huschte schuldbewusst zu ihren offenen Haaren, da sie wusste, wie sehr er es missbilligte, wenn sie ihre Haarpracht so ungebunden und wild präsentierte wie jetzt.

„Vater!“ Lanea schlug entschuldigend die Augen nieder, bevor sie ihn mit einem gekonnten Augenaufschlag verschmitzt anlächelte. Seit sie ein kleines Mädchen war, konnte sie mit diesem Blick fast alles bei ihm erreichen, doch heute nicht. Heute konnte er ihr nicht mehr zugestehen, als dass er über die Haare kein Wort verlieren würde.

„Lanea, es gibt ein Schiff, das einen neuen Schiffshalter benötigt. Der Oberste Seher hat dich heute dazu bestimmt, dass du an Bord der Monsoon Treasure gehen wirst und dort unter Captain Jess Morgan als Schiffshalterin dienst.“ Seine Worte klangen schroffer, als er es beabsichtigt hatte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie auf Tahunas glatter Stirn eine steile Falte entstand. Lanea hingegen sah ihn fassungslos an, als hätte sie kein Wort von dem verstanden, was er gerade zu ihr gesagt hatte.


*

Nahila hatte sich schon so lange vor diesem Augenblick gefürchtet, dass sie nicht mehr mit Bestimmtheit sagen konnte, wann sie jemals ohne Furcht gewesen war. Die Furcht war wie ein blutrünstiger Moskito, der sie zeit ihres Lebens umschwirrte, um sich dann gnadenlos auf sie zu stürzen, in dem Moment als sie endlich zur Ruhe kam. Der Kloß in ihrer Kehle schwoll immer mehr an und verhinderte, dass sie ruhig atmete. Gleichzeitig quälten sich die lang zurückgehaltenen Tränen aus ihren Augen. Sie fluchte verhalten und ließ ihren Tränen freien Lauf, während sie weiter auf den Rand des Dorfes zustrebte. Bevor sie den Weg in den Dschungel einschlug, um zu ihrer abseits gelegenen Hütte zu gelangen, sah sie eine große Gestalt vom Strand heraufkommen. Nahila verhielt ihre Schritte und hatte das entsetzliche Gefühl, dass ein Alptraum wahr geworden war.

Ein Schauer nach dem anderen lief über ihren Rücken. Captain Stephen Stout ging mit schweren Schritten in das Dorf. Nahila blinzelte mit den Augen und wischte sich dann mit dem Handrücken darüber, als würde das Bild des brutalen Piraten dadurch verschwinden wie ein Gespinst. Doch das Bild blieb, und Nahila drängte sich gegen die staubige Wand einer Hütte. Wenn er sie jetzt wahrnahm … Er wurde nicht umsonst das Messer Bairanis genannt!

Tamaka hatte also Recht gehabt. Den Piraten war es nur erlaubt, das Dorf zu betreten, wenn Bairani ihnen es befohlen hatte. Wenn Stout sich also in das Dorf begab, konnte das nichts Gutes bedeuten, und sie mussten so schnell wie möglich Waidami verlassen. Nahila stöhnte auf. Es ging jetzt alles so schnell. Als sie sich vorsichtig von der Hütte abstieß und weiterging, hatte sie kaum mehr die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Heute würde sich ihr ganzes bisheriges Leben in Nichts auflösen. Nur der Gedanke, dass es wichtig für Lanea war, ließ sie weiter gehen. Heute würde sie sich von ihrer Tochter verabschieden und bald auch schon von Tamaka – und sie würde nicht wissen, ob sie die beiden jemals wiedersehen würde.

Sie zitterte unkontrolliert und richtete ihren Blick in den klaren Himmel, der sich scheinbar ungetrübt über ihr ausbreitete. Nahila hoffte inständig, dass ihre Ahnen die Wege ihrer Familie richtig lenkten.

*

Tahuna ging ein Stück von Lanea und ihrem Vater zurück, um sie in Ruhe miteinander sprechen zu lassen und ließ ihren Blick über die anwesenden Dorfbewohner gleiten. Sie vermisste ihren Vater Ronam. Inzwischen hatten sich alle anderen Seher der Runde angeschlossen, und nur er fehlte. Besorgt runzelte sie die Stirn. Er war in den letzten Tagen sehr verschlossen gewesen und hatte einen kranken Eindruck auf sie gemacht. Wahrscheinlich hatte er sich in seine Hütte zurückgezogen, um Ruhe zu suchen. Immer öfter war er sehr erschöpft, wenn er von Begegnungen mit dem Obersten Seher zurückkehrte, doch er sprach nie darüber, was ihn so sehr anstrengte. Tahuna wandte sich mit dem plötzlichen Gefühl, sofort nach ihm sehen zu müssen, an Lanea, die ihre Haare schnell wieder zu einem Zopf geflochten hatte, um ihren Vater nicht zu verärgern. Einen Moment verharrte sie in dem Anblick ihrer Freundin; überdachte die Neuigkeit von Tamaka, dass Lanea an Bord eines Piratenschiffes gehen würde. Dies war ihr letzter Moment. Es war so aufregend, Lanea würde Captain Jess Morgan treffen … Tahuna war ihm ein einziges Mal zusammen mit Shamila, der Tochter von Bairani, begegnet. Sie hatten sich damals im Gebüsch versteckt, um heimlich die Piratenkapitäne zu beobachten, die zu einem Treffen den Vulkan hochsteigen sollten. Es war strengstens verboten, sich in die Nähe der Piraten zu begeben, da sie von den Dorfbewohnern als tollwütige Hunde bezeichnet wurden. Jess Morgan war der Erste gewesen, der den Weg hochkam. Tahuna konnte sich noch genau daran erinnern, wie er den steilen Berg hochgeschlendert war, ohne auch nur das kleinste Zeichen von Anstrengung zu zeigen. Shamila und sie hatten den Atem angehalten, als er immer nähergekommen war. Dann war er genau vor ihrem Gebüsch stehengeblieben und hatte gezielt in ihre Richtung geblickt. Seine Blicke aus den eisblauen Augen waren mühelos durch die Blätter gedrungen, als wären sie nicht da gewesen, und er hatte gelächelt.

„Macht, dass ihr fortkommt“, hatte er gesagt. Dann hatte er den Weg zurückgeblickt und sie beide mit schnellem Griff aus dem Gebüsch gezogen. Er hatte sie von oben bis unten angesehen und war plötzlich ernst geworden. „Die anderen lassen zwei Mädchen wie euch nicht einfach wieder gehen. Seht also zu, dass ihr ihnen aus dem Weg geht.“ Sie hatten beide dagestanden, ihn angestarrt, unfähig zu sprechen und waren langsam wieder rückwärts im Gebüsch verschwunden. Ihre Blicke hatten sie kaum von ihm wenden können, denn er blieb dort stehen, bis sie den Berg ins Dorf hinunterliefen. Tahuna seufzte, er war damals so gefährlich und doch so … anziehend erschienen. Hoffentlich würde ihre Freundin ihr eines Tages von ihm erzählen.

Sie berührte Lanea sacht am Arm.

„Lanea, ich werde nach meinem Vater sehen. Ich glaube, es geht ihm nicht gut. Er erschien mir die letzten Tage schon nicht wohlauf.“

„Soll ich dich begleiten?“ Lanea sah ihre Freundin besorgt an.

„Nein, genieße deine letzten Augenblicke hier, bevor du leibhaftigen Piraten gegenüberstehst.“ Tahuna kicherte und schloss ihre Freundin fest und voller Zuneigung in die Arme. „Ich wünsche dir alles Gute, und dass du so ein Glück findest, wie ich es auch gefunden habe.“

„Ja, das wünsche ich mir auch – und dir wünsche ich ein ganzes Dorf voller Kinder mit Kamun.“ Diesmal war es Lanea, die kicherte, und ihre Freundin ebenfalls von ganzem Herzen drückte.

Tahuna grinste, und beide Frauen ließen ihre Arme sinken, als wüssten sie nicht, wie sie sonst ein Ende finden sollten. Dann drehte sich Tahuna um und eilte davon.

*

Tamaka sah der jungen Frau nach, die mit eiligen Schritten nach Hause ging. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, und er presste fest die Lippen aufeinander. Dann wandte er sich wieder seiner Tochter zu, die einen glücklichen, wenn auch wehmütigen Ausdruck im Gesicht hatte. Sie blickte der Freundin hinterher und richtete dann ihre grünen Augen auf ihn.

„Sie ist so glücklich. Ich wünschte, ich könnte hierbleiben und …“

Tamaka schüttelte entschieden den Kopf.

„Nein, dein Schiff wird morgen früh bereits Waidami verlassen!“, antwortete er eine Spur zu scharf, wie er selbst missbilligend bemerkte. Lanea sah ihn auch verwundert über den ungewohnten Ton an, sagte aber nichts.

„Wenn du nicht rechtzeitig an deinem Ziel ankommst, könnte es sein, dass du Jess Morgan verpasst.“ Tamaka sprach nun sanfter und griff nach ihrer Hand. „Es ist wichtig – sehr wichtig, dass du auf die Monsoon Treasure gehst. Aber das bereden wir zu Hause, nicht hier.“ Er sah sich um, und sein Blick blieb noch einmal auf der alten Merka hängen. Ihre Augen, in denen so viel beunruhigendes Wissen lag, trafen die seinen. Unwillkürlich beschleunigte sich sein Herzschlag für einen Moment, als hätte sie ihn bei etwas Unrechtem ertappt.

„Verabschiede dich von den Leuten, Lanea. Danach gehen wir nach Hause, und ich erkläre dir deinen Auftrag, während du deine Sachen packst. Du wirst noch heute Abend an Bord der Tsunami gehen. Captain Makani wird dich bereits erwarten.“

„Wieso die Eile, Vater?“ Lanea hatte das Gesicht unwillig verzogen.

Tamaka kannte sie gut genug und wusste, dass sie voller Unsicherheit war. Sie wollte nie wirklich eine Schiffshalterin werden. Aber bei den Waidami wurden jedem von Geburt an eine Aufgabe zugeteilt. Die Seher befanden gemeinsam darüber, wofür ein Kind wohl zukünftig in der Gemeinschaft am geeignetsten erschien. Bei Lanea hatte es nie einen Zweifel gegeben, und so war sie in diese Rolle gedrängt worden, die sie jedoch immer am liebsten abgelehnt hätte. Die Schiffshalter begleiteten die Piratenschiffe, hauptsächlich um den Kontakt zu den Waidami zu halten. Sie gaben laufend die Positionen durch, an denen sich das Schiff gerade befand, oder wo Beuteschiffe versenkt wurden, die dann so später zu den Schiffsbauern geschleppt werden konnten.

Da er und seine Frau stets nur voller Verachtung über die Piraten sprachen, hatte sie bereits als kleines Mädchen begonnen, die Piraten zu fürchten. Und nun schickte er sie selbst auf ein solches Piratenschiff! Er konnte sie so gut verstehen, und Tamaka hasste sich selbst dafür. Er hasste sich für seinen Auftrag, mit dem er Lanea Dingen aussetzte, von denen er selbst nur eine vage Vorstellung hatte.

„Es muss sein, vertrau mir einfach.“

Lanea nickte und lächelte ihn dann zaghaft an.

„Ich vertraue dir, Vater.“ Sie drückte seine Hand, bevor sie sich umdrehte und begann, sich von jedem Einzelnen zu verabschieden.

Tamakas Herz wurde schwer, während er dabei zusah. Die meisten nahmen Lanea in die Arme und drückten sie herzlich. Mancher junge Mann sah sie enttäuscht an. Als Lanea sich schließlich der alten Frau zuwandte, stockte Tamaka für einen Moment der Atem. Die Alte wickelte sich eine Strähne, die aus der Gefangenschaft des Zopfes geflüchtet war, um ihre knochigen Finger.

„Folge nur deinem Weg, Kind – dann wirst du dich selbst finden.“ Ihre Stimme klang heiser, dann löste sie die Strähne von ihren Fingern und streichelte Lanea sanft über die Wange, die ihr spontan einen Kuss gab. Mit einem Lächeln, das nur jemand kennt, der so viel Zuneigung erfährt, drehte sich Lanea zu Tamaka um.

„Lass uns gehen, Vater.“

Lanea ging vor ihrem Vater her und bemerkte nicht die unsicheren Blicke, die er auf die Hütte von Tahuna und ihrem Vater Ronam warf, als sie daran vorbeikamen.

*

Tahuna ging schweren Herzens. Sie würde Lanea vermissen, aber sie freute sich auch auf die vor ihr liegende Zeit mit Kamun.

Als sie vor der Hütte ihres Vaters anlangte, bemerkte sie verwundert, dass die einfache Holztür offenstand. Tahuna beschleunigte ihre Schritte, aus irgendeinem Grund hatte ihr Vater die Tür nicht schließen können. Sorge fraß sich wie ein ungebetener Gast in ihr Herz, und sie schritt mit bangem Gefühl in das Innere.

„Vater? Ist alles in Ordnung?“ Ihre Worte tropften überlaut in die Stille. Besorgt ließ Tahuna ihren Blick durch den Hauptraum schweifen. Keine Spur von ihrem Vater! Sie wollte gerade den Vorhang zu dem Schlafraum ihres Vaters beiseiteschieben, als ihre Augen sich plötzlich weiteten und sie die Hand entdeckte, die unter dem schweren Stoff hervorragte. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu und ließ ihre Zunge zu einem unförmigen Klumpen anschwellen. Sie wollte schreien, irgendetwas sagen, doch kein einziger Laut kam über ihre Lippen.

Im selben Augenblick wurde der Vorhang langsam zur Seite geschoben. Ihr Blick ruhte fassungslos auf ihrem Vater, der leblos auf dem Boden lag. Erst dann wanderten ihre Augen in entsetzlicher Langsamkeit auf die riesige und klobige Gestalt, die sich in den Rahmen schob. Stephen Stout! Tahuna keuchte auf. Seine kalten Augen betrachteten sie desinteressiert, und mit einem unangenehmen Lächeln seines breiten Mundes präsentierte er ihr ein blutbeflecktes Schwert.

Immer noch stumm vor Entsetzen, drehte sich Tahuna auf der Stelle um und rannte kopflos aus der Hütte und in den direkt dahinter liegenden Dschungel. Sie lief blind und voller Panik. Ihr Herz raste und klopfte mit schmerzhaften Schlägen in ihrer Brust und in ihrem Kopf. Sie war nicht mehr in der Lage, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen und schlug wie blind mit ihren vorgestreckten Armen die Zweige und Blätter aus ihrem Weg. Der Pirat musste dicht hinter ihr sein. Sie spürte es mit erschreckender Gewissheit, auch wenn sie keinen Laut um sich herum wahrnehmen konnte, außer ihren eigenen keuchenden Atem und das Blut, das durch ihre Adern rauschte. Ihre schwarzen Haare flatterten wie eine vom Sturm zerrissene Fahne hinter ihr her und verdeckten für einen Wimpernschlag den Weg, als sie zurückblickte. Jeder Atemzug wälzte sich brennend durch ihre Lungen, und die Luft wurde knapp. Sie konnte nicht weiter, konnte nicht ewig so panisch davonrennen. Es schien doch niemand hinter ihr zu sein, und Tahuna stoppte ihren Lauf. Schweratmend stützte sie ihre Hände an einen bemoosten Baumstamm ab, der sich feucht und weich in ihre Handflächen schmiegte. Sie hielt den Kopf gesenkt und versuchte verzweifelt, die übermächtige Angst aus ihrem Verstand zu bannen. Es konnte unmöglich wahr sein, was gerade geschehen war. Ein einziger Augenblick hatte ihr ganzes Glück zerstört. Eben hatte sie noch mit Lanea zusammengesessen und darüber gelacht, dass sie bald den begehrtesten jungen Krieger des Dorfes heiraten würde und dann, einen Augenblick später, fand sie ihren Vater ermordet. Ermordet von einem Handlanger Bairanis. Die kalte Erkenntnis, dass dies auch der Grund für das Unwohlsein ihres Vaters gewesen sein musste, griff nach ihrem Herzen und bohrte sich wie ein Messer hinein. Ihr Vater hatte es gewusst …

Tahuna wischte sich die Tränen aus den vor Kummer fast schwarzen Augen und blickte hoch.

Sie musste zu Kamun; sie musste ihm von dem Verrat und dem Mord an ihrem Vater berichten. Vielleicht waren ja noch andere Seher in Gefahr.

Erleichtert darüber, endlich wieder einigermaßen klar denken zu können und eine Entscheidung getroffen zu haben, löste sie sich von dem Baum und drehte sich um.

Das Letzte was sie sah, war das kalte Funkeln von Metall im Sonnenlicht, bevor es sich mit tödlicher Präzision in ihr Herz bohrte und alle Überlegungen für immer auslöschte.

*

Lanea fühlte sich trotz der vor ihr liegenden Ungewissheit glücklich, während sie ihre Schritte durch das Dorf auf den Strand lenkte. Sie freute sich über alle Maßen für Tahuna; ihre Freundin hatte gestrahlt und sie einfach in ihr Glücksgefühl mit hineingerissen. Es war nur sehr bedauerlich, dass sie bei den Feierlichkeiten nicht mehr dabei sein würde. Ihr Vater hatte sich unmissverständlich ausgedrückt. Die Tsunami würde bereits beim nächsten Sonnenaufgang in See stechen, und sie musste noch heute ihr Quartier an Bord beziehen.

Die Verabschiedung von ihren Eltern war erschreckend schnell gegangen, doch sie war auch dankbar dafür. Lanea hasste rührselige Momente und ging ihnen gerne aus dem Weg. Trotzdem hatte sie verwundert bemerkt, wie ihre Eltern ungeduldig auf ihren schnellen Aufbruch bestanden hatten. Das aufdringliche Gefühl, abgeschoben zu werden, hatte sich ihrer bemächtigt und nicht mehr losgelassen. Die Anweisungen ihres Vaters waren kurz und knapp gewesen und hatten mehr Fragen aufgeworfen als sie zu beantworten.

Vor der Hütte, in der Tahuna und ihr Vater wohnten, hielt Lanea kurz an. Sollte sie hineingehen und Tahuna noch einmal Lebewohl sagen? Aber alles schien ruhig und vermittelte den Eindruck, als wäre niemand da. Eigentlich hatten sie sich ja bereits verabschiedet und eine weitere Begegnung würde ihnen beiden nur unnötig das Herz schwer machen. Sie seufzte, griff ihren Sack, in den sie ihre wenigen Habseligkeiten gestopft hatte, fester und ging weiter.

Die Tsunami lag ruhig in der kleinen Bucht vor Anker und schien nur auf sie zu warten. Zwei Seeleute standen neben einem Beiboot, das ein Stück auf den Strand gezogen worden war, und warteten tatsächlich auf sie.

Als die Männer Lanea entdeckten, griffen sie nach dem Boot und zogen es zurück in das Wasser, das mit sanften Wellen den zaghaften, aber konstanten Versuch wagte, das Boot am Ufer festzuhalten.

„Auf geht’s Lanea“, murmelte sie vor sich hin und versuchte, ihren sinkenden Mut zu ignorieren, als sie auf die Männer zuging.

*

Am nächsten Morgen betrat Stephen Stout mit lässigem Schritt die Höhle des Obersten Sehers, der ihm bereits mit hochgezogenen Augenbrauen entgegensah und den Mund in einer merkwürdig ungeduldigen Geste verzog.

Stout verneigte sich ehrfürchtig, als er in angemessener Distanz vor dem alten Mann stehenblieb.

„Seid gegrüßt, Oberster Seher!“

Bairani neigte wohlwollend den Kopf und deutete mit seinen langen Fingern auf ein paar Stühle, die an einer Seite der Höhle in einer mit kunstvoll gefertigten Decken verzierten Nische standen. Weißes Sonnenlicht, das durch eine von Menschenhand geschaffene Öffnung fiel, warf seinen großzügigen Schein auf die bunten Muster, die verschiedene Szenen aus den Legenden um die Göttin Thethepel darstellten, und erfüllten sie mit unwirklichem Leben. Eine Decke, die größer als die anderen war, wurde von nur einem einzigen überdimensionalem Bild geziert, auf dem die Göttin selbst mit hoch erhobenen Armen auf dem Meer stand, ihre roten Haare züngelten dabei wie Flammen um ihren Kopf, und vor ihr erhob sich ein feuerspeiender Vulkan aus den sie umgebenden Fluten. Die Erschaffung Waidamis! Stout hätte sich gerne die anderen Szenen angesehen, gehorchte jedoch dem Wink Bairanis und setzte sich. Der Oberste Seher setzte sich würdevoll in den Stuhl gegenüber. Mit einer betont sorgsamen Geste legte er seine dürren Hände, die vom Alter gezeichnet waren, auf die Lehnen und lächelte Stout mit einem aufmunternden Lächeln an, das den Piraten gezielt darauf hinwies, wie dünn sein Lebensfaden war, wenn er jemals etwas Falsches antworten würde.

„Sprich, mein Sohn! Konntest du meinen Auftrag erfüllen?“

Stephen nickte langsam.

„Ja, Oberster Seher. Ich habe Ronam und seine Tochter ohne Probleme beseitigt. – Vielleicht interessiert es Euch, dass Tamaka und Nahila diese Nacht Waidami verlassen haben. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob nicht einer von ihnen mich vielleicht im Dorf gesehen hat.“ Stout knurrte die letzten Worte voller Groll, hasste er doch den Gedanken, dass ihm möglicherweise ein Fehler unterlaufen sein konnte.

Bairanis mitleidlose Augen musterten den Piraten eine endlos lange erscheinende Zeit, ohne eine Spur von einer menschlichen Regung zu zeigen. Kalter Schweiß lief Stouts Rücken hinab und hinterließ dabei ein Gefühl des Unbehagens. Wieder einmal fragte er sich, was der Mann alles sah, und ob er auch dazu in der Lage war - oder einer seiner Seher - zu erkennen, was er dachte. Stout zwang sich, ungerührt zu erscheinen. Glücklicherweise konnte er von Sehern keine Strömungen empfangen. Er wollte nicht wirklich spüren, was in diesem Mann vorging. Wenn er, Stout, auch nicht gerade zart besaitet war und sicher genug schändliche Tat begangen hatte, jagte ihm der Oberste Seher doch eine unbekannte Angst ein. Er war gnadenlos, kompromisslos und würde seine eigene Tochter foltern, wenn ihm das zum Vorteil gereichen würde. Seine Strömungen mussten sämtliches Vorstellungsvermögen sprengen, wie eine bis unter den Mast mit Schießpulver beladene Galeone.

Die sonst eher tot scheinenden Augen Bairanis waren von unheilvollem Leben erfüllt und glänzten tückisch in seinem faltigen Gesicht, als sich sein schmaler Mund zu einem boshaften Lächeln verzog.

„Nun, Stephen, ich denke, ich muss dir etwas erklären, und dann habe ich da noch einen Auftrag für dich, der dich inspirieren dürfte.“

Er legte eine Pause ein, in der er Stout erneut taxierte, dann berichtete er von der letzten Sichtungszeremonie. Er berichtete, dass endlich der Piratenkapitän identifiziert worden war, der entweder zum Verräter oder zum tödlichen Instrument gegen die Spanier werden würde, und ignorierte dabei die sichtliche Erregung, die Stout ergriff, als er den Namen Jess Morgans vernahm. Er erzählte, warum er Lanea an Bord der Monsoon Treasure gesandt hatte, und dass Ronam hatte verschwinden müssen, weil er inzwischen zu kritisch geworden war. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, erhob sich Bairani langsam aus dem Stuhl. Er verschränkte die Hände wie zu einem Gebet ineinander und ging nachdenklich durch den Raum. Vor der Fensteröffnung blieb er stehen und blickte versonnen in den Dschungel, der an dieser Seite den Vulkankrater herauf kroch wie eine grüne Schlange, und tat so, als lausche er hingebungsvoll den unschuldigen Geräuschen, die von dort zu ihm herauf drangen. Dann wandte er sich scheinbar selbstvergessen wieder an Stout, der ihn starr beobachtete und seine Finger wie eiserne Krallen um die Lehnen seines Stuhles geklammert hatte.

„Nahila ist unwichtig und um Tamaka kümmerst du dich bei Gelegenheit. Er weiß wesentlich mehr, als er immer zugegeben hat, und er scheint seine eigenen Pläne zu haben. Da nicht klar ist, welche Rolle Lanea in dieser Vision spielt, kann ich ihr nicht vertrauen. Es ist also vorrangig, dass du die Suche nach der Monsoon Treasure aufnimmst.“

„Wieso wissen wir nicht, wohin die Tsunami gesegelt ist? – Dort wird schließlich auch Jess Morgan sein, wenn Tamaka Captain Makani dorthin geschickt hat.“

„Tamaka war schlau genug, Lanea zu raten, Captain Makani ihren Bestimmungsort erst auf offener See zu eröffnen.“ Bairani ging mit wenigen Schritten zu Stout und legte ihm eine eiskalte Hand auf die Schulter, die den hartgesottenen Piraten erschauern ließ.

„Finde Jess Morgan für mich, Stephen!“

Stephen Stout knurrte erwartungsvoll.

Jess Morgan also! Das war eine interessante Neuigkeit, die Bairani ihm eröffnet hatte. Im Stillen rieb er sich zufrieden die Hände. Seit er zurückdenken konnte, hatte er diesem Kerl mit Misstrauen gegenübergestanden; bereits als er noch als kleiner Junge bei Bairani seine Vorbereitungszeit verlebt hatte, war Jess ihm als widerspenstig und rebellisch aufgefallen. Er hatte sich immer geweigert, sich unterzuordnen. Bairani hatte ihm verboten, in seiner wenigen freien Zeit, die ihm zur Verfügung stand, an den Strand zu gehen, und doch hatte er es immer wieder getan und dabei diesen seltsamen Glanz in den Augen gehabt. Selbst als ihn Bairani zur Strafe durch ihn, Stephen, hatte verprügeln lassen, hatte er noch geheimnisvoll gelächelt. Das Lächeln war erst verschwunden, als er den damals zehnjährigen Jungen ausgepeitscht hatte; aber der Glanz in seinen Augen war unverändert geblieben.

Stephen hatte ihn für diesen ungeahnten Widerstand gehasst. Jess hatte ihn trotzig angesehen, während er kaum noch in der Lage gewesen war, auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Er war vor ihm auf die Knie gesunken und hatte ihn aus brennenden Augen angesehen. „Eines Tages werden wir uns ebenbürtig gegenüberstehen“, hatte der Junge leise gesagt. Er hatte mit den Tränen gekämpft, aber das Zittern in seiner Stimme hatte dennoch nicht über die deutliche Drohung darin hinwegtäuschen können. Und Stephen Stout sah diese Drohung immer wieder aufs Neue in den eisblauen und mitleidlosen Augen, wenn er Jess Morgan begegnete. Ein sicheres Versprechen, das es irgendwann einzulösen galt, obwohl Morgan sich eigentlich nach der Tätowierung nicht mehr daran erinnern durfte, da diese alles aus dem Gedächtnis löschte, was jemals zuvor geschehen war.

Jahre später waren sie sich bei einem Überfall auf eine kleine Küstenstadt begegnet, an der sie beide beteiligt gewesen waren. Stout dachte hasserfüllt daran, wie er auf dem Marktplatz einen Mann hatte foltern lassen, um von ihm zu erfahren, wohin die Einwohner ihre Wertsachen geschafft hatten. Der Mann hatte am Ende noch nicht einmal mehr die Kraft gehabt, seine Qualen in die Welt zu schreien, als Jess Morgan erschienen war. Er war in seiner arroganten Art über den Platz marschiert, hatte sein Messer gezogen und dem Spaß, den er und seine Männer bis dahin gehabt hatten, mit einem glatten Schnitt ein viel zu plötzliches Ende bereitet und den Mann von seinen Qualen erlöst.

Wenn er von Bairani freie Hand bekäme, würde er Jess Morgan jagen, und dieser würde am eigenen Leibe erfahren, wie sehr er es genoss, einen Mann langsam sterben zu sehen; für ihn würde er sich etwas ganz Besonderes ausdenken und ihm beweisen, dass er äußerst kunstfertig in der Lage war, einen Mann tagelang leiden zu lassen.

Er erwachte aus seinen Gedanken wie aus einem Traum, dabei traf sein Blick auf den hämischen Gesichtsausdruck des Obersten Sehers.

„Mir scheint, dass du den nötigen Jagdtrieb für diesen Auftrag besitzt.“

„Soll ich ihn töten?“

„Nein, auf keinen Fall! – Zuerst wirst du ihn nur beobachten. Ich will wissen, ob er sich nun von uns abgewandt hat oder nicht. Solltest du den Beweis für einen Verrat finden …“, Bairanis Augen funkelten ihn gefährlich an, „… dann bring ihn hierher. Was du unterwegs mit ihm anstellst, ist mir völlig gleichgültig, - solange du ihn in einem Zustand von einigermaßen kräftiger, körperlicher Verfassung ablieferst. Das, was ich mit ihm dann vorhabe, wird seine ganze Kraft kosten. Glaube mir, Stephen, er wird mehr Qualen erdulden, als irgendjemand vor ihm – und sie werden nicht nur körperlicher Art sein.“ Bairani lächelte auf eine sadistische Weise, die Stout das Gefühl vermittelte, dass er noch in den langerwarteten Genuss seiner Rache kommen würde. Er wusste, wie grausam Bairani war, und er leckte sich voller Vorfreude über die wulstigen Lippen.

„Das Mädchen! Was passiert mit dem Mädchen?“

„Bring sie unversehrt hierher. Die Götter halten auch für sie ihr Schicksal bereit.“ Der Oberste Seher wechselte einen geheimnisvollen Blick mit Sagan, der sich die ganze Zeit schweigend in den Schatten der Höhle aufgehalten hatte; ein stolzes Lächeln quittierte diesen vertrauensvollen Blickwechsel.

„Verabschiede dich jetzt, mein Sohn. Das Auge der Göttin wird dich wohlwollend auf deinem Weg beobachten.“ Bairanis Lächeln hatte etwas Strahlendes, doch die Augen blickten wieder völlig leblos auf Stout, der sich vor ihm verbeugte und dann die Höhle verließ.


Als Stouts Schritte verklungen waren, wandte sich Bairani an Sagan, der nun zögernd wie ein verängstigter Hund aus der Nische trat.

„Veranlasse, dass im Dorf das Gerücht gestreut wird, Tamaka habe Ronam und seine Tochter getötet und wäre deshalb noch in der Nacht geflüchtet.“

Sagan beeilte sich, zu nicken, und rannte davon, um den Auftrag seines Herrn auszuführen.

Die Schiffe der Waidami

Подняться наверх