Читать книгу Die Schiffe der Waidami - Klara Chilla - Страница 9

Navigator

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Die Tsunami fuhr langsam in den Hafen von Changuinola ein. Die Segel wurden eingeholt, und der Anker rauschte klatschend in das trübe Wasser des Hafenbeckens.

Lanea beobachtete unsicher die Männer in der Takelage, die mit geübten Griffen ihre Arbeit durchführten, und ließ dann den Blick suchend über die ankernden Schiffe gleiten.

„Die Monsoon Treasure liegt dort vorne.“

Captain Makani war unbemerkt neben sie getreten und zeigte auf ein Schiff, das am südlichen Pier lag und sofort dadurch auffiel, dass es einen wesentlich schlankeren Rumpf besaß als die anderen Schiffe. Ihrem Bug entsprang eine Galionsfigur in der Form einer schaumgekrönten Welle, als wäre das Schiff ein untrennbarer Bestandteil des Meeres.

Ein klammes Gefühl breitete sich in Lanea aus. Was würde sie an Bord dieses Piratenschiffes erwarten?

Sie wurde zur Schiffshalterin erzogen, seit sie denken konnte. Auch wenn sie sich immer dagegen gewehrt hatte, hatte sie doch immer gewusst, dass sie eines Tages als Navigator auf einem Schiff der Waidami-Piraten mitsegeln musste, um die Positionen der versenkten Schiffe durchzugeben. Sie hatte immer wieder versucht, den Gedanken zu vermeiden. Lanea hatte große Furcht vor den Piraten und war von ihren Eltern immer wieder darauf hingewiesen worden, wie falsch das Leben der Waidami inzwischen war. Es war falsch, Schiffe mit unschuldigen Menschen zu überfallen. Sie konnten nichts für das Leid, das ihr Volk in der Vergangenheit erlitten hatte. Es gab keine Rechtfertigung dafür, selbst zu morden und zu plündern. Doch ihre Familie konnte nicht offen gegen den Obersten Seher Bairani aufbegehren. Er war ein gefährlicher Mann, der Hindernisse schnell beseitigte. Ihr Vater hatte ihr versichert, dass sich eines Tages alles ändern würde. Er war sehr geheimnisvoll gewesen und hatte ihr gesagt, dass es wichtig war, an Bord des Piratenschiffes zu gehen. Wie immer hatte er ein großes Geheimnis daraus gemacht, was er aufgrund seiner Visionen vielleicht bereits wusste.

Lanea vertraute ihrem Vater und hatte nur deshalb die Reise angetreten. Nun war sie hier und würde in wenigen Augenblicken auf ihren künftigen Captain und sein Schiff treffen.

„Deine Reise ist hier zu Ende, Lanea! Meine Männer werden dich mit dem Beiboot zur Pier rudern. – Viel Glück!“ Der Mann reichte ihr zum Abschied die Hand, und Lanea schüttelte sie dankbar.

Am liebsten wäre sie an Bord dieses Schiffes geblieben. Die Tsunami war nur ein friedliches Handelsschiff der Waidami, das sich normalerweise auf keinen Kampf einließ.

Doch der Abschied lässt sich wohl nicht länger hinauszögern, dachte Lanea niedergeschlagen, als sie in das ungeduldige Gesicht des Captains blickte.

„Lebt wohl, Captain.“ Seufzend enterte sie in das bereitstehende Beiboot ab. Ihr Seesack lag bereits im Bug. Während sich das Beiboot immer mehr von der Tsunami entfernte, heftete sie ihren Blick wieder auf die Monsoon Treasure.

Wer war dieser Captain Jess Morgan? Wie mochte er sein? Lanea hatte bisher nur einen Piratenkapitän kennengelernt. Es war ein brutaler und widerlicher Kerl gewesen, der alles darangesetzt hatte, sie auf sein Schiff zu bekommen, sobald er sie gesehen hatte. Die Seher hatten das glücklicherweise verhindert. Trotzdem musste Lanea immer noch bei dem Gedanken an diesen Mann schlucken. Nüchtern vermutete sie, dass dieser Captain nicht anders sein konnte. Sie erwartete einen hässlichen und grausamen Mann. Ein dicker Kloß verengte ihren Hals. Lanea fuhr sich mit ihren schwitzenden Händen über die Hosenbeine und griff vorsorglich nach ihrem Seesack, als das Beiboot an der Pier anlegte.

„Lebt wohl.“

Die Männer wünschten ihr ebenfalls Lebewohl, und Lanea betrat zaghaft den festen Boden. Neugierig schaute sie von ihrem Standpunkt in alle Richtungen um und betrachtete das bunte Treiben, das hier herrschte. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen, und niemand sah die innere Zerrissenheit, die sie beherrschte. Männer und Frauen jeden Standes und jeden Gewerbes eilten den Hafen entlang, der von kleinen, schmutzigen Häusern gesäumt war. Die Gassen, die hinter die Häuser führten, wirkten ebenfalls verdreckt und luden nicht dazu ein, sie zu erkunden. Lanea saugte jede Einzelheit in sich auf und wusste doch, dass sie sich jetzt und ohne weiteren Aufschub dem Captain der Monsoon Treasure würde stellen müssen.

Es war ihr immer noch nicht ganz klar, wieso er ausgerechnet eine Frau als Navigator an Bord holen sollte. Üblicherweise wurden die Schiffshalter den Kapitänen einfach zugeteilt. Aber dieser Fall lag ja offensichtlich anders. Captain Jess Morgan galt als Abtrünniger, was bedeutete, dass er versuchte, sich aus den Fängen der Waidami zu lösen und auf eigene Faust durch die Gewässer zu segeln. Der alte Schiffshalter war vor kurzem gestorben, und Lanea sollte unauffällig seinen Platz einnehmen. Sie sollte sich nur als Navigator zu erkennen geben und später heimlich die Positionen übermitteln. Es würde gefährlich sein, aber vielleicht gelang es ihr ja auf diese Weise, ihren Beitrag dazu zu leisten, wenigstens einen Piraten aus dem Verkehr zu ziehen. Lanea tat einen tiefen Atemzug und straffte unmerklich ihre Schultern. Sie schulterte ihren Seesack und blickte ein letztes Mal auf die Tsunami, bevor sie entschlossen ihre Schritte in die Richtung der Monsoon Treasure lenkte.

Ihr Blick wurde magisch von dem stolzen Schiff angezogen. Ihre Füße folgten diesem Ruf, Schritt für Schritt. Jedes Detail prägte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis, als ihr Blick an einer großgewachsenen Gestalt hängenblieb. Der Mann lehnte lässig an der Reling und beobachtete irgendetwas, das neben dem Schiff auf der Pier geschah.

Während Lanea sich langsam näherte, konnte sie eine kleine Menschenmenge erkennen, die sich vor dem Schiff versammelt hatte. Beiläufig vernahm sie das muntere Fideln einer Geige, das aus einer Taverne zu ihnen auf die Gasse klang, als sie sich durch die Männer schob. Rücken der unterschiedlichsten Größen machten ihr widerwillig Platz. Neugierig erkannte sie einen Tisch, der vor der Monsoon Treasure aufgestellt worden war. Dahinter saß ein gutaussehender, dunkelhaariger Mann, der sich interessiert mit einem Seemann unterhielt. Lanea blieb in der zweiten Reihe stehen, um die Geschehnisse unauffälliger beobachten zu können. Sie ahnte bereits, dass die Männer hier alle auf dem Schiff anheuern wollten. Um einen besseren Überblick zu erhalten, reckte sie den Kopf. Stirnrunzelnd gestand sie sich ein, einen weiteren Blick auf den Mann an der Reling werfen zu wollen. Er stützte sich immer noch lässig mit den Unterarmen darauf ab. Seine weizenblonden Haare schimmerten in der Sonne und waren das Einzige an ihm, das keine Düsternis ausstrahlte. Lanea konnte zwar die feingeschnittenen und klaren Gesichtszüge erkennen, hatte aber trotzdem das Gefühl, dass diese von etwas Bedrohlichem überdeckt wurden; wie ein feingewebtes Tuch, das unauffällig alles verdeckte, was darunter lag. Die schwarze Kleidung unterstrich diesen verstörenden Eindruck.

Während sie sich ihrer Neugier unbehaglich bewusst wurde, richtete sich der Pirat abrupt auf. Ein wachsamer Blick aus eisblauen Augen traf direkt auf ihre und bohrte sich in ihren Verstand und ihr Herz. Lanea hielt entsetzt den Atem an, trat einen Schritt zurück und duckte sich hinter die Männer. Ihr Blut spielte in ihrem Kopf zu einem rauschenden Orchester auf und überdeckte für einen Augenblick alles andere. Verzweifelt konzentrierte sie sich vollständig darauf, ihre Fassung zurückzugewinnen.

*

Jess Morgan beobachtete neugierig die Gruppe der Männer, die an Bord der Monsoon Treasure anheuern wollten. Einfache Seeleute, die ihr Glück auf einem der meistgesuchten Piratenschiffe machen wollten. Er lächelte bitter über seinen zweifelhaften Ruf und nahm den Seemann genauer in Augenschein, der gerade von Cale Stewart befragt wurde. Der Mann war ein heruntergekommener alter Säufer, der seine besten Jahre auf See bereits seit langem hinter sich hatte. Jess schnaubte und bewunderte die Geduld von Cale, der einen Mann nach dem anderen gründlich befragte. Der Rest der Männer stand abwartend einige Schritte dahinter. Jess entschied sich dazu, die Strömungen, die von den Männern ausging, zu begutachten. Konzentriert ließ er sein Bewusstsein abgleiten und stieß auf die unterschiedlichsten Strömungen. Einige Männer strahlten starke Kälte aus oder Hinterlist, andere wiederum Berechnung oder Brutalität. Es waren die gleichmäßigen und verstörenden Bewegungen von Mördern und Halsabschneidern; im Grunde das, was auf einem Piratenschiff gesucht wurde. Doch Jess wollte kein Crewmitglied mit solch einer Ausstrahlung. Er suchte jemanden, dem er vertrauen konnte, voll und ganz, so wie dem Rest seiner Crew auch. Niemand in seiner Mannschaft besaß derartige negative Eigenschaften. Natürlich waren sie allesamt Piraten, und das Verbrechen war ihnen nicht unbekannt, dennoch waren sie anders. Seine Männer liebten den Kampf, doch empfanden sie nicht diese seltsame und sadistische Freude, die er jetzt schon bei den meisten Interessenten auf der Pier wahrnahm. Während er langsam die Reihe der Wartenden abtastete, richtete er sich abrupt auf. Eine vollkommen andere Strömung störte die Gleichmäßigkeit der anderen. Aufregung schlug ihm entgegen und Zweifel, Angst. Jess hob misstrauisch eine Augenbraue und fixierte das Zentrum dieser Ausstrahlung. Sein Blick traf kurz auf ein katzenartiges Augenpaar, das gleich darauf verschreckt in der Menge abtauchte. Neugierde ergriff ihn. Jess Morgan verließ ruhig über die Laufplanke die Treasure, während er seine Sinne auf die inzwischen panische Strömung gerichtet hielt. Belustigt sah er, wie Cale verwundert zu ihm aufblickte, als er an dem Tisch vorbeischritt. Langsam und provozierend strich er an der Gruppe der Seeleute entlang. Seine Bewegungen und sein Gesicht zeigten die Sprungbereitschaft und tödliche Konzentration eines Raubtieres, das ein Gebüsch umschlich, in dem sicheren Bewusstsein, dass sein Opfer sich darin verborgen hielt. Unvermittelt blieb er stehen. Die Männer glitten bleich geworden auseinander und gaben den Blick auf eine sich duckende Gestalt frei.

Überrascht erkannte Jess Morgan die langen roten Haare und die feinen Gesichtszüge einer jungen Frau, die verlegen so tat, als würde sie etwas vom Boden aufsammeln. Ihre aufgeregte Strömung schoss ihm sich förmlich überschlagend entgegen. Interessiert betrachtete er sie.

Was suchte sie hier bloß zwischen den ganzen Männern und warum war sie so aufgeregt? Seine Wirkung auf Frauen war ihm nicht unbekannt, doch das hier war anders. Sein Instinkt riet ihm, Abstand zu halten, doch irgendetwas zwang ihn vorwärts.

„Kann ich Euch behilflich sein?“, fragte er ruhig.

Die junge Frau hatte sich inzwischen aufgerappelt und gab sich Mühe, ihn gerade und fest anzusehen. Ihre Strömung hatte sich etwas beruhigt und doch war nicht zu übersehen, dass sie ihre Aufregung nur mühsam unter Kontrolle hielt. Sie hatte smaragdgrüne Augen, die von dem bronzefarbenen Schimmer ihrer Haut unterstrichen wurden. Ihre Stimme zitterte kaum merklich, als sie sprach: „Ich bin Lanea aus dem Volk der Ka’anu. Ich möchte als Navigator auf der Monsoon Treasure anheuern, Sir!“


Ein erstauntes Raunen ging durch die Männer in Laneas Rücken, als sie ihre Abstammung vernahmen, und auch der große, schwarzgekleidete Mann, den sie für Jess Morgan hielt, schien ehrlich überrascht. Die Ka’anu waren für ihre übersinnlichen, navigatorischen Fähigkeiten berühmt. Mitglieder dieses Volkes konnten Kurse und Positionen ohne jedes Hilfsmittel bestimmen. Es hieß, sie wären die Nachfahren göttlicher Sternfahrer, die sich nicht mehr von der Erde trennen konnten und doch die Verbindung zu den Himmelskörpern ihrer Herkunft nicht aufgaben.

Laneas Mutter war eine Ka’anu, sodass sie tatsächlich über diese besonderen Fähigkeiten verfügte, die ihr jetzt einen großen Dienst erweisen würden. Ihr Herz schlug bis zum Hals und sie versuchte, den irritierenden Blicken des Mannes gleichmütig zu begegnen. Seine eisblauen Augen wurden eine Spur dunkler, als er sie von oben bis unten taxierte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Dunkelhaarige sich vom Tisch erhob und sich neben ihn stellte. Sie entsprachen beide nicht dem Bild, das Lanea bisher von Piraten hatte. Beide Männer waren von beeindruckend gutaussehender Erscheinung. Der dunkelhaarige Mann wirkte mit seinen rehbraunen Augen regelrecht harmlos auf Lanea, während der ihn um einen halben Kopf überragende Captain einen verwegenen Eindruck machte. Sein Auftreten war selbstsicher und eindrucksvoll und zog sie auf unerklärliche Weise in seinen Bann. Keiner von beiden wirkte brutal oder gar grausam. Wieder traf Lanea ein undefinierbarer Blick aus eisblauen Augen, bevor der Große sich an den Dunkelhaarigen wandte.

„Sie ist angeheuert, Cale. Zeig ihr ihre Unterkunft und stell sie der Crew vor.“ Seine Stimme war angenehm dunkel, als er ihr eine sehnige Hand entgegenstreckte. „Willkommen an Bord der Monsoon Treasure, Lanea!“

*

Jess konnte sich nicht wirklich erklären, warum er es tat. Er handelte wie unter einem inneren Zwang und reichte der jungen Frau die Hand. In dem Augenblick, in dem seine Finger die ihren berührten, geschah etwas mit ihm. Es war, als würde ein Weg zu einem Ort in seinem Inneren freigeschlagen werden, von dem er bisher nicht gewusst hatte, dass er existierte. Ein Spalt öffnete sich darin und etwas Unbestimmbares löste sich wie aus langer Gefangenschaft und kroch heraus. Es war altbekannt und doch unvertraut und stürzte Jess von einem Augenblick auf den anderen in tiefste Verwirrung.

„Cale, übernimm das Kommando. Ich muss noch etwas erledigen und weiß nicht, wann ich zurück bin.“ Jess schaute seinen Ersten Maat von der Seite an und ignorierte dessen verwirrtes Stirnrunzeln, als er ihm kurz zunickte und dann seine Schritte zwischen die verdutzten Seeleute lenkte. Natürlich konnte Cale nicht verstehen, warum er Lanea so kurzerhand angeheuert hatte, aber er war ihm keine Erklärung schuldig. Im Gegenteil, Jess hatte selbst keine Erklärung dafür und brauchte einen klaren Kopf. Die Gedanken überschlugen sich darin und bruchstückhafte Bilder, die wie Puzzleteile durch seine Erinnerungen schossen, nahmen ihn vollkommen in Anspruch.

Der Pirat gab sich den äußeren Anschein von Gelassenheit, als er davonging, aber in seinem Innersten brodelte es. Ihm war, als würde er eine Art Gesang in seinem Kopf hören, der sich um die Bilder darin rankte; als würde er diese an unsichtbaren Fäden langsam immer näher zusammenziehen und an ihre fest vorbestimmten Plätze rücken. Die Eindrücke wurden immer stärker, und seine Schritte bewegten sich schneller von der Treasure fort. Fort von dem Gewühl der Menschen, von dem kritischen Blick seines Freundes und fort von dieser rätselhaften Frau. Jess Morgan schloss verwirrt die Augen, in der Hoffnung, eine klare Sicht der Dinge zu bekommen, doch das Durcheinander in seinem Kopf griff auch auf seine Sehfähigkeit über. Plötzlich war er nur noch in der Lage, seine Umgebung als schattenhafte Umrisse wahrzunehmen. Mehr als einmal rempelte er ungewollt einen Mann an, der zufällig seinen Weg kreuzte. Alles, was er wollte, war ein Ort, an dem er Ruhe finden konnte. Jess musste sich dringend irgendwohin zurückziehen, um sich vollkommen ungestört diesem Wahnsinn stellen zu können.

„Folgt mir!“ Eine unbekannte dunkle Stimme tauchte neben ihm auf, und der dazugehörende Schatten ergriff ihn fordernd an seinem rechten Oberarm. Jess wollte aufbegehren und den Schatten wegstoßen, doch der Griff war überraschend fest. Die Stimme sprach in einem merkwürdigen Singsang weiter, der ihn einlullte. Jess schüttelte schwerfällig seinen Kopf und versuchte so, die bleierne Schwere daraus fortzutreiben. Die Klänge der unbekannten Stimme fügten sich nahtlos in den Gesang in seinem Kopf und füllten jeden Raum, der dort noch nicht von den verstörenden Bildern besetzt war, mit beschwörender Kraft aus. Er war nicht mehr in der Lage, sich gegen diesen Zauber zu wehren und folgte der Stimme, folgte dem dunklen Schemen, der ihn fortführte.

Plötzlich löste sich der Griff von seinem Arm, und die Stimme des Schemens zog sich langsam aus seinem Kopf zurück. Zurück blieb der Wirbel von Erinnerungen an fremde Bilder, an Menschen, die ihm einst etwas bedeutet zu haben schienen; Erinnerungen an Verlust und Schmerz. Jess‘ Atem ging stoßweise, während er auf kalten Boden sackte. Um ihn herum herrschte völlige Schwärze, und er presste beide Hände gegen den Kopf. Die Erinnerungen schienen herausquellen zu wollen, aber irgendetwas brachte sie in die richtige Reihenfolge. Nach einer Weile kehrte Ruhe ein. Jess‘ Atem verlangsamte sich, und sein Blick klärte sich wieder auf. Zuerst undeutlich, doch dann immer schärfer, erkannte er die Konturen eines einfach eingerichteten Zimmers. Die Wände wirkten grau und verfallen. Risse zogen sich durch das Mauerwerk. An einer Seite stand ein altes Bett, auf dem eine muffige Decke lag. Daneben befand sich ein kleiner Tisch mit einem einzelnen wackeligen Stuhl. Auf dem Tisch standen ein Krug und ein Becher, daneben ein Teller mit Brot. Jess runzelte die Stirn und stand langsam wieder auf. Ein plötzlicher Schmerz, der durch seinen Kopf raste, ließ ihn aufstöhnen. Dankbar ließ er sich auf das Bett fallen und griff nach dem Krug. Wie er erwartet hatte, war der Krug gefüllt. Jess goss das klare, frische Wasser in den bereitstehenden Becher. Woher hatte sein Gastgeber gewusst, dass er hierherkommen würde? Jess‘ Gedanken richteten sich auf zwei grüne Katzenaugen und tiefes Misstrauen überkam ihn. Er wusste nicht, wieso er hier war. Er hatte keine Ahnung, warum er diese Frau angeheuert hatte, und was sie mit diesem Chaos in seinem Kopf zu tun hatte. Vorsichtig roch er an dem Wasser, doch er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen und trank den Becher auf einen Zug aus. Er stellte den Becher auf den Tisch, der dabei gefährlich wackelte, und stand wieder auf. Mit wenigen Schritten durchmaß Jess das Zimmer und war überrascht, als er die Tür unverschlossen vorfand. Er ging einen kleinen unbeleuchteten Gang entlang, der zu einer groben Holztür führte. Auch diese ließ sich öffnen und führte auf eine schmutzige Gasse. Offensichtlich hatte ihn jemand hierhergeführt, zu einem Ort in der betriebsamen kleinen Hafenstadt, an dem er die Ruhe finden konnte, die er gerade brauchte. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Gasse schweifen, auf dem sich zwielichtige Gestalten herumtrieben. Die Dämmerung warf bereits ihre langen Schatten wie ein Netz aus. Er musste nun schon einige Stunden fort sein. Cale würde sich Sorgen machen. Doch der Unbekannte hatte ihn nicht ohne Grund hierhergeführt. Jess‘ Instinkt sagte ihm, dass dieser ziemlich genau über ihn Bescheid wissen musste. Er hatte ihm einen Schlafplatz angeboten, wohl wissend, dass ein Captain der Waidami normalerweise niemals an Land schlief. Nur der Schlaf an Bord des verbundenen Schiffes ermöglichte erholsamen Schlaf. Nur der Schlaf in der schützenden Umarmung der Monsoon Treasure hielt seine Träume fern und die unliebsamen Erinnerungen. Schlaf an Land bedeutete aufzehrende Nächte voll grausamer Erinnerungen, geschaffen von dem Träumenden selbst. Jede Seele, die er in das Reich der Toten gesandt hatte, kehrte Nacht für Nacht zurück, um ihren Mörder anzuklagen, und nur das eine Schiff hatte die Kraft, diese Seelen nicht vortreten zu lassen. Jess zog mit einem leichten Schauer die schwere Holztür zu und drängte das Leben in der Gasse aus seiner Wirklichkeit. Entschlossen drehte er sich um und ging den Gang zurück. Er interessierte sich nicht für den Rest des verfallenen Hauses. Nur das eine Zimmer war für ihn von Interesse, und er betrat es entschieden. Den Schmutz ignorierend, setzte er sich auf das Bett. Dann streckte er langsam seine Gestalt aus, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und wartete auf den Schlaf.

*

Undurchdringliche Dunkelheit erfüllte den kleinen Raum, in dem Jess Morgan schlief. Sein Körper lag lang ausgestreckt und in tiefem Schlaf gefangen auf der harten Matratze. Die Muskeln waren angespannt und wirkten sprungbereit. In seinem Gesicht arbeitete es, und die Augen huschten unter den geschlossenen Lidern wild hin und her. Jess spürte nicht, wie sich eine Gestalt näherte und sich neben das Bett stellte. Der Unbekannte trug schwarze Kleidung und fügte sich perfekt in die Schatten der Nacht. Völlig regungslos blieb er stehen und beobachtete Jess in dem matten Licht einer abgedunkelten Laterne. Seine smaragdgrünen Augen funkelten auf ihn herab, und der Mann murmelte etwas Unverständliches. Dann griff er mit langen, dünnen Fingern nach Jess Morgans Kopf und erschloss sich einen Zugang zu dessen Gedanken. Für einen kurzen Moment zuckte er zurück, als er auf die ersten Träume stieß. Fahlweiße Gesichter starrten ihm aus großen, toten Augen entgegen, die von einem Chor klagender Laute begleitet wurden. Der Unbekannte konzentrierte sich und murmelte in einer raschen Folge Worte in einer alten, geheimnisvollen Sprache. Die Gesichter zogen sich zurück, und die Muskeln von Jess Morgan entspannten sich. Seine Gesichtszüge wurden ruhiger, und auch unter den Augenlidern hörten die Bewegungen auf. Seine Träume hatten nun freien Zugang zu den Erinnerungen, die heute freigelassen worden waren.

Zuerst wechselten sich die Bilder in rascher Folge ab, bis sie in einen langsamen und gleichmäßigen Fluss übergingen. Bilder von einem kleinen Jungen inmitten einer Familie: Sein Vater, dem er erst vor kurzem begegnet war, um viele Jahre jünger in einer innigen Umarmung mit seiner Mutter, die ihn liebevoll betrachtete. Jess durchströmten die schmerzhaften Empfindungen, die er gespürt hatte, als man ihn entführt und zu den Waidami gebrachte hatte. Er erlebte erneut die Jahre bei den Waidami voller Demütigung und Schmerz, traf auf einen Mann mit smaragdgrünen Augen, der ihm Zuneigung entgegengebracht hatte und ihn heimlich an einem Strand unterrichtete, durchlebte den Schmerz bei der Zeremonie der Tätowierung. Die Bilder beschrieben einen Kreis und begannen von vorne, bis die Erinnerungen und Gefühle aus seinem Leben als normaler Mensch auf die Erinnerungen des Piraten trafen und sich zu einem Ganzen zusammenschlossen. Sein Leben war komplett und wies keinerlei Lücken mehr auf.

Die Träume zogen sich zurück und hinterließen nur noch das Bild von zwei katzenhaften, grünen Augen, die auf ihn hinab starrten. Jess riss seine Augen auf und fühlte eisige Kälte, als er in eben diese Augen über sich starrte. Mit einem Satz sprang er auf und wollte sich auf die Gestalt stürzen, als ihn ein Ruf zurückhielt: “Jess, nein, das ist Lanea!“

Cale Stewart schob sich zwischen ihn und die rothaarige Frau, die ihn irritiert ansah und ihre Hände abwehrend nach vorne richtete. Verwirrt sah Jess zwischen Lanea und seinem Freund hin und her.

„Wie habt ihr mich gefunden?“ Seine Stimme klang rau, und er bemühte sich, nicht auf die grünen Augen von Lanea zu starren.

„Heute Morgen kam ein bezahlter Bote zur Treasure, der uns zu diesem Haus führte. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet.“ Cale sah sich neugierig um. „Was machst du hier?“

Jess Morgan runzelte die Stirn und betrachte Cale zurückhaltend. Dieser begegnete dem Blick und nickte dann.

„Wir kehren zur Treasure zurück und laufen heute noch aus.“ Jess verließ seinen Leuten voran das Haus, während sich seine Gedanken um ein Paar grüner Augen drehten.


*

Lanea stand auf dem Vordeck der Monsoon Treasure. Dies war ihr dritter Tag an Bord und nach der ersten rätselhaften Begegnung mit Captain Jess Morgan hatte sie kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Nachdem sie ihn in diesem schäbigen Haus gefunden hatten, waren sie sofort ausgelaufen. Sie segelten scheinbar ziellos durch die Gewässer, und sie hatte erst heute Morgen zum ersten Mal einen Kurs bestimmen dürfen. Nun gut, sie hatte damit gerechnet, dass es dauern würde, sich das Vertrauen der Piraten zu erwerben.

Lanea ließ ihren Blick über den Bugspriet hinweg in das Meer gleiten. Das Schiff wälzte sich durch dicke, bleigraue Wellen. Der Wind hatte seit dem Morgen stetig zugenommen und wechselte oft unvermittelt die Richtung. So gut es ging, hielt die Crew die Monsoon Treasure hoch am Wind. Die Segel waren bis zum Zerreißen gespannt und sackten dann plötzlich in sich zusammen, als der Wind drehte. Doch die Mannschaft war ein eingespieltes Team. Es bedurfte nur weniger Augenblicke, die Taue schlugen knatternd gegen die Masten, und das Tuch flatterte kurz im Wind, bevor es sich wieder blähte und den Wind einfing.

Von Cale Stewart hatte Lanea erfahren, dass die gesamte Mannschaft seit gut fünfzehn Jahren zusammen segelte. Sie verstanden sich ohne Worte. Während der Segelmanöver schallten kaum Befehle über Deck. Jeder einzelne Mann schien genau zu wissen, was er zu tun hatte, und jeder Handgriff saß und passte perfekt in das Gefüge.

Die Monsoon Treasure tanzte wild auf den Wellen und schlingerte hin und her, wenn der Wind sie wieder neckte. Lanea hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest. Ihr Gesicht hielt sie in den Wind und spürte ein wunderbares Gefühl voller Tatendrang. Dann richtete sie ihr Augenmerk auf das Achterdeck, auf dem Jess Morgan und Cale Stewart dicht beieinanderstanden und sich unterhielten.

Er war einfach faszinierend, mit welcher Sicherheit der Captain auf den Planken stand. Während jeder der Mannschaft bei den unvermittelten Schlingerbewegungen des Schiffes schwankte oder sich einen Halt suchen musste, stand er wie ein Fels in der Brandung. Jess Morgan verlagerte immer im richtigen Augenblick kurz sein Gewicht, um dem Schlingern des Schiffes entgegen zu wirken. Es war ganz und gar sein Parkett, sein Tanz. Er schien jede plötzliche Bewegung vorauszusehen und nahm sie mit einer gleitenden Bewegung in Empfang und in seinen Körper auf.

Lanea ertappte sich dabei, wie sie sich wieder in der heimlichen Beobachtung des Mannes verlor. Er berührte oft, wie zufällig, das Schiff, wie man es meist mit Menschen tat, denen man auf besonderer Weise zugetan war. Sie versuchte, einen Blick auf seine faszinierenden Augen zu werfen und erschrak, als es ihr unvermittelt gelang. Ihr Mund wurde plötzlich trocken. Beschämt schlug sie die Augen nieder, als seine Augen den ihren begegneten. Jess sagte etwas zu seinem Ersten Maat und lenkte seine Schritte zielstrebig in ihre Richtung.

Lanea schluckte. Ihre Brust presste sich auf unangenehme Weise zusammen. Er kam tatsächlich auf sie zu. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft hinter ihrer Stirn. Sicher wusste er genau, warum sie hier war: Dass sie Verrat plante, kaum dass sie ihren Fuß auf die Planken gesetzt hatte; dass sie eigentlich jedem Piraten Verachtung entgegenbrachte und sie der Meinung war, dass sie alle durchaus mehr als den Tod verdient hatten.

Lanea runzelte die Stirn. Dieses ursprüngliche Urteil von ihr war aber bereits nach den wenigen Tagen hier nicht mehr ganz so einfach. Hinter den namenlosen Piraten standen nun plötzlich Gesichter voller Leben und Geschichte. Sie war bei der Vorstellung durch Cale sehr freundlich aufgenommen worden, und die Männer waren ihr tatsächlich auf Anhieb sympathisch gewesen. Sie waren zwar allesamt raue Kerle, aber nicht die gefühllosen Mörder und Verbrecher, die sie erwartet hatte.

Unbehaglich wurde Lanea bewusst, dass Jess Morgan bereits auf dem Niedergang war. Ihr Herz schlug schneller, stolperte und fiel, rappelte sich mühsam auf und schlug eilig weiter. Verzweifelt konzentrierte Lanea ihren Blick wieder auf das Meer, um sich zu beruhigen.

Der Bug der Treasure tanzte gerade eine hohe Welle hinauf, stürzte sich auf deren Kamm kopfüber in das folgende Tal, um dort spritzend in das aufgewühlte Wasser einzutauchen, bevor sie sich an die nächste Welle begab.

Lanea spürte dankbar die erfrischende Kühle der Gischt in ihrem Gesicht, als sie sich bereits wieder verspannte.

„Hast du dich eingelebt, Lanea?“ Seine Stimme erklang direkt hinter ihr.

Warum hatte sie nicht bemerkt, dass er bereits so dicht an sie herangetreten war? Langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu.

„So weit, Captain.“ Sein forschender Blick ruhte auf ihr, und sein Mund verzog sich zu einem selbstgefälligen Lächeln, als er ihre Unsicherheit bemerkte. Jess Morgan trat neben Lanea und umfasste mit seinen sehnigen Händen die Reling direkt neben den ihren. Schweigend betrachtete Lanea die ungestümen Wellen und dachte fieberhaft darüber nach, was sie sagen könnte, als sie erneut seine dunkle Stimme vernahm.

„Was treibt eine junge Frau wie dich auf ein Piratenschiff?“ Jess hatte fragend eine Augenbraue gehoben und musterte sie beiläufig von der Seite. Doch Lanea war klar, dass die Antwort auf diese Frage nicht wirklich unbedeutend war. Sie hatte mit einer Frage dieser Art gerechnet und hoffte, dass ihre Antwort plausibel klang.

„Ich bin ein Mischling. Meine Mutter stammt aus dem Volk der Ka’anu, und mein Vater ist ein spanischer Seefahrer, der nie zu meiner Mutter zurückgekehrt ist. Das Volk meiner Mutter hatte nur Verachtung für sie übrig und duldete sie und mich, ihren kleinen Bastard, nur …“ Lanea bemühte sich, ihrer Stimme einen bitteren Klang zu verleihen und war selbst überrascht, wie leicht ihr die Lüge über die Lippen ging. Ihr Vater hatte ihr eingeprägt, bei jeder Lüge so dicht wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. Genau das tat sie jetzt. Innere Ruhe überkam sie und machte sie selbstsicher. „Meine Mutter hatte keine andere Wahl, als in ihrem Dorf zu bleiben. Sie wusste nicht, wo sie sonst hingehen sollte, aber ich konnte die ständigen Demütigungen und die Verachtung nicht länger ertragen. Ich hatte nie wirklich einen Platz in dieser Gemeinschaft und habe dann beschlossen, die besonderen Fähigkeiten, die ich von meinen Vorfahren geerbt habe, für mich zu nutzen. Ihr suchtet zum richtigen Zeitpunkt einen Navigator, und ich habe einfach mein Glück versucht.“ Lanea richtete ihren Blick fest auf sein Gesicht. Jess Morgans Augen schienen bis in ihre Seele zu dringen. Lanea räusperte sich unbehaglich. Während der Pirat sie mit seinen Augen festhielt, die so tiefgründig waren wie das Meer um sie herum, bemerkte sie eine plötzliche Veränderung. Lanea schaute in den Himmel, folgte dem Zug der Wolken und besah sich die Segel, bevor sie wieder Jess Morgan ansah.

„Wir haben den Kurs geändert!“

Er legte seinen Kopf leicht auf die Seite und grinste sie offen an, wobei er strahlend weiße Zähne entblößte.

„Ein kleiner Test für den neuen Navigator, verzeih!“ Er legte elegant eine Hand auf sein Herz und verbeugte sich provozierend langsam, während er sie nicht aus den Augen ließ.

Lanea kämpfte erneut gegen ihre eigene Unsicherheit.

„Ich werde heute noch Abschriften meines Kartenmaterials in deine Kabine bringen lassen. Du wirst sie brauchen.“ Er zögerte kurz und seine Augen verengten sich unmerklich. „Wenn du das Material gesichtet hast, werde ich mit dir über unsere nächsten Pläne reden.“ Jess drehte sich mit dem Rücken zur Reling und stützte sich lässig darauf. „Jedem einzelnen dieser Männer dort würde ich blind mein Leben anvertrauen. Für jeden Einzelnen würde ich meines geben, wenn es nötig wäre.“ Er machte eine kurze Pause, um seinen Worten noch mehr Geltung zu verleihen, und Lanea fragte sich, worauf er so plötzlich hinauswollte. Seine Augen schienen immer klarer zu werden, trotzdem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass er ihr gerade einen winzigen Einblick in seine Abgründe zeigte. Seine Augen hielten ihre wieder fest. Eisblaue Augen, die die Kälte darin spürbar machten. Sein Blick war offen und fest, und sie wurde in seinen Bann gezogen, war gefangen von der Intensität und dem Abgrund dahinter, der sie in seine Tiefen lockte.

„Ich will dir vertrauen wie jedem anderen an Bord auch, Lanea. Meine Frage ist ganz einfach: Kann ich das? Kann ich dir vertrauen so wie dem Rest meiner Crew? – Das Leben meiner Männer kann davon abhängen, ob ich mich in dir täusche oder nicht.“

Lanea schluckte. Ihre gerade gewonnene Selbstsicherheit drohte zu zerbröckeln. Mühsam darauf bedacht, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, antwortete sie: „Ihr könnt mir vertrauen, Captain!“

Jess schaute sie aus seinen unergründlichen Augen an.

“Du hast sicher davon gehört, dass ein Kapitän der Waidami ein einzigartiges Bündnis mit seinem Schiff eingeht?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern sprach direkt weiter. „Aufgrund dieser Verbindung habe ich ein besonderes Gespür für das Meer und Wasser an sich entwickelt, das mir Einblicke in eine Welt ermöglicht, die für andere verborgen bleibt. Ich höre das Flüstern der Begeisterung, wenn ein Delfinkörper sanft durch das Wasser streicht. Ich spüre, wie das Wasser den Vertiefungen des Meeresgrundes folgt und Felsen ausweicht. Ich fühle, wie der Tod in der Gestalt eines Hais aus den dunklen Tiefen heraufdrängt, um sich ein Opfer zu suchen. All dies und noch viel mehr höre und fühle ich in jedem einzelnen Augenblick des Tages und der Nacht. - Es gibt keine Möglichkeit des Entrinnens für mich.“

Jess Morgan lächelte sie schief an, und ihr Herz schlug heftig in ihrem Brustkorb.

„Ich spüre die gewaltigen Kräfte des Meeres, die Strömungen, die unser Schiff mit einem leichten Schlag zerschmettern könnten.“

Er griff unvermittelt nach Laneas Hand, hielt sie fest in seiner und presste dann beide auf das Schanzkleid. Lanea wurde von solcher Wucht gepackt, dass sie zuerst zurückschrak, aber Jess hielt sie mit eiserner Hand fest. Die Empfindungen schwappten über sie hinweg, als hätte er sie gepackt und in das Wasser geworfen. Doch sie stand immer noch neben ihm. Die Eiskristalle in seinen Augen funkelten sie unbewegt an. Lanea schnappte nach Luft, als eine Welle voller Eindrücke über sie brach und mit unbeugsamer Gewalt in ihr Bewusstsein drang. Sie wurde in einen Strudel fortgerissen, immer tiefer hinein in das Leben und Sterben des umgebenden Gewässers. Sie spürte das Leben und den Tod, der auf dem Meeresgrund lauerte, und sah Schönheit von bisher ihr unbekannten Farben. Angst war ihre erste Reaktion, die augenblicklich schwand und sich in schlichtes Staunen über die Einzigartigkeit dieser Fähigkeit wandelte. Hätte sie es nur vermocht, hätte Lanea die Arme begeistert ausgebreitet und sich in dieser Empfindung voller Freude gedreht wie ein Kind, das im Regen tanzt.

Plötzlich ebbte die Brandung der Empfindungen ab. Jess hatte seine Hand fortgenommen und ihre Finger sanft von dem Schanzkleid gelöst, in das sie sich unbemerkt immer fester gekrallt hatte. Sie riss den Mund auf, um ihre Lungen mit Luft vollzusaugen, als wäre sie tatsächlich zu lange unter Wasser getaucht. Lanea taumelte, wurde jedoch augenblicklich von Jess festgehalten.

„Ich kenne den Weg, den das Wasser nimmt.“ Ein überhebliches Lächeln umspielte seine Lippen, als er sie losließ und geschmeidig zur Seite trat. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck beobachtete er, wie eine hoch aufspritzende Welle sich über dem Schanzkleid brach und Lanea unvermittelt nass spritzte.

„Ich spüre alles, was mit Wasser in meiner Umgebung zusammenhängt. Selbst der Mensch besteht zu einem großen Teil aus Wasser.“ Mit einer weit ausholenden Geste deutete er auf die Männer an Deck.

Jess beugte sich verschwörerisch vor, und Spott saß in seinen Mundwinkeln. Er grinste sie an, doch seine Augen blickten kalt. „Ich spüre, dass es bei dir anders ist – du bist nicht das, was du vorgibst zu sein …“ Captain Jess Morgan machte eine Pause und brachte seinen Mund direkt neben ihr Ohr.

„Ich hoffe, du enttäuschst mein Vertrauen nicht!“

Abrupt richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, wandte sich um und ließ Lanea beklommen zurück.

Die Schiffe der Waidami

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