Читать книгу Die Schiffe der Waidami - Klara Chilla - Страница 7

Begegnung

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Ein stetiger Wind aus Nordosten trieb die Monsoon Treasure mit vollgeblähten Segeln zügig voran.

Captain Jess Morgan stand neben seinem Ersten Maat auf dem Achterdeck. Cale Stewart hatte soeben die Vorräte überprüft. „Unsere Wasserfässer sind so gut wie leer, und wir haben nur noch ein wenig Dörrfleisch an Bord. Das Obst, auf das du so viel Wert legst, ist auch ausgegangen. Wir werden so nicht mehr bis nach Changuinola gelangen, Jess. Auf der Karte befindet sich aber nicht weit von hier eine Insel, wir sollten dort an Land gehen und zumindest ein wenig jagen und Frischwasser auffüllen.“

„Gut, Cale. Lass Kurs setzen.“ Jess nickte zustimmend. “Sind auf der Karte irgendwelche Ansiedlungen verzeichnet?“

„Hm, ein paar Fischerdörfer könnten sich dort befinden.“

„Dann lass uns einkaufen.“ Jess grinste den Mann unbeschwert an. „Den Männern wird ein wenig Abwechslung gut tun.“

Cale Stewart runzelte die Stirn: “Wir werden dort, wenn es überhaupt eine Fischersiedlung gibt, keine großen Reichtümer vorfinden, Jess.“

„Die Männer brauchen ein wenig Spaß und es ist einfacher, den Fischern die Vorräte abzunehmen.“ Jess lächelte ihn unschuldig an. „Ein paar Männer müssen trotzdem jagen gehen, wir brauchen einen abwechslungsreichen Speiseplan, sonst wird uns Hong nur madigen Schiffszwieback reichen.“

Der Erste Maat seufzte und kratzte sich grinsend am Hinterkopf. „Aye, Sir, diese Drohung lässt mich auch ein Waisenhaus überfallen.“ Die beiden Männer lachten sich übermütig an, und Cale wandte sich ohne ein weiteres Wort ab. Er beeilte sich, Jintel die Anordnungen weiterzugeben. Kurz darauf bellte die etwas heisere Stimme des Profos über Deck, und die Männer sputeten sich, den Befehlen nachzukommen.

Nach gut einer halben Tagesreise erreichten sie die Insel, die von einer üppigen Vegetation überwuchert war. Jess befahl, die Insel zu umsegeln, nachdem er in einer seichten Bucht einen Trupp Männer zum Jagen ausgesetzt hatte.


Das kleine Fischerdorf schmiegte sich an die hinter ihm aufragenden Steilwände. Eine große Hütte lag etwas versetzt zwischen zehn weiteren, etwas kleineren Hütten und schien über diese zu wachen.

Jess Morgan schob sein Spektiv zusammen und ließ die Boote aussetzen. Jintel würde mit drei weiteren Männern als Wache zurückbleiben.

Den Männern des Landungstrupps stand die Vorfreude in die Gesichter geschrieben, als sie zügig in die Boote abenterten. Jess stellte sich in den Bug des ersten Bootes, während Cale Stewart das zweite übernahm. Voller Schwung wurden die Riemen durch das klare Wasser der fischreichen Bucht gezogen und trieben die Boote auf den friedlichen Strand zu.

Einige Fischerboote dümpelten im Wasser. Am Strand waren Netze auf Gerüsten zum Trocknen ausgebreitet, und ein paar Fischer flickten ihre Netze. Kinder spielten zwischen den Hütten und sahen den Ankömmlingen voller Neugierde entgegen.

Die Fischer ließen ihre Arbeit sinken und wandten sich den Booten misstrauisch zu. In diese Gegend verirrte sich selten ein ehrbares Handelsschiff und an dem bunt zusammengewürfelten Haufen, der sich jetzt näherte, ließ nichts auf friedliche Händler schließen.

Zuerst war es nur wie ein Hauch, der sich warnend über die Hütten und die Menschen legte, dann aber eindringlich anschwoll und die Bedrohung greifbar machte. Angst breitete sich aus, getragen von der kalten Erkenntnis, dass sie so gut wie wehrlos waren. Eilig wurden die Kinder in die Hütten gezogen, deren bis dahin offene Türen sofort fest geschlossen wurden.

Währenddessen hatten die Boote das Ufer erreicht. Jess und seine Männer sprangen in das knöcheltiefe Wasser. Die groben Stiefel wühlten den feinsandigen Untergrund auf, und das bis dahin so klare Wasser trübte sich ein. Sie wateten, die Boote hinter sich herziehend, an Land.

Mit einer geschmeidigen Bewegung zog Jess sein Schwert aus der Scheide und sah, wie seine Leute ebenfalls ihre Waffen zückten.

Ein älterer Mann ging entschlossen auf ihn zu und wollte sich ihm in den Weg stellen. Seine grauen Augen richteten sich auf die hochgewachsene Gestalt von Jess Morgan, der seinem Blick kalt begegnete und seinen Weg unverändert fortsetzte. In einer demonstrativ friedlichen Geste streckte der Mann dem näherkommenden Piraten seine Handinnenflächen entgegen, in der Hoffnung, er würde wenigstens einen Moment innehalten, um ihn anzuhören. Doch noch bevor der Alte seinen Mund öffnen konnte, um die hastig zurechtgelegten Worte an den Eindringling zu richten, schnitt ihm eine kaum wahrnehmbare Bewegung mit dem Schwert das Wort ab. Ohne einen Laut brach er zusammen. Feinkörniger Sand bestäubte sein Gesicht, als Jess Morgan gelassen an ihm vorüberschritt.

Er lenkte seine weitausholenden Schritte zielstrebig auf die große Hütte. Hier musste der Anführer des Dorfes leben und diesem würde er jetzt einen Besuch abstatten.

Die anderen Fischer hatten den skrupellosen Mord mit blankem Entsetzen beobachtet und stellten sich in Abwehrhaltung gemeinsam den Piraten entgegen. Ihre Hände griffen nach allen erreichbaren Waffen; Stöcke wurden drohend geschwungen, Bootshaken emporgereckt. Doch die Angst stand ihnen in die fassungslosen Gesichter geschrieben.

Unbewegt betrachtete Jess die Männer und lächelte dann:

„Im Interesse eurer Familien bitte ich darum, auf Gegenwehr zu verzichten. Es wird niemandem ein Leid geschehen. Wir bessern hier nur unseren Proviant auf und werden wieder in See stechen. - Sollte uns jemand davon abhalten wollen, werden wir eure Kinder zu Waisen machen und das ganze Dorf niederbrennen.“ Seine klare Stimme war deutlich bis in den hintersten Winkel der Bucht zu vernehmen und ließ nicht in den geringsten Zweifel daran, dass er es ernst meinte.

Die Piraten bildeten eine lange Reihe hinter ihm und schauten erwartungsvoll auf die bleichen Gesichter der Fischer. Die Entschlossenheit, die anfangs noch in ihren Gesichtern gestanden hatte, war einer tiefen Resignation gewichen. Ihr Mut war gesunken, als sie den alten Mann hatten fallen sehen, und sie ließen ihre notdürftigen Waffen sinken.

Cale Stewart tauchte direkt hinter Jess auf: „Durchsucht das Dorf nach Vorräten und allem, was wir gebrauchen können.“

Sofort teilten sich die Männer auf und machten sich an ihr Werk, das Dorf zu plündern.

Jess ging nun weiter, ein wenig darüber verwundert, dass sich noch kein Anführer an ihn gewandt hatte. Offensichtlich schien sich dieser in seiner Hütte zu verkriechen und die Konfrontation mit ihm zu scheuen. Er lächelte verächtlich, als er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Instinktiv riss er seinen Schwertarm hoch und blockte damit den Hieb eines Schwertes ab, das plötzlich auf ihn niederstieß. Er drehte sich geschmeidig um, packte mit der freien Hand seinen Angreifer und riss ihn aus seinem Hinterhalt heraus. Ein älterer Mann taumelte hervor. Jess wollte gerade mit seinem Schwert zustoßen, als ihn ein gellender Schrei in der Bewegung innehalten ließ.

„Nein!“ Eine schlanke Frau stand in der offenen Tür der Hütte und starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. Der Anblick der Frau, der Klang ihrer Stimme kam ihm auf seltsame Weise vertraut vor. Verwirrt runzelte Jess die Stirn. In diesem Augenblick durchfuhr ein scharfer Schmerz seine Mitte. Zischend stieß er den Atem aus und starrte ungläubig auf den Mann, der ihn aus schreckgeweiteten Augen ansah. Seine Hand, in der eben noch ein Schwert gewesen war, war nun leer und zitterte. Jess blickte an sich herunter und sah nur den Schwertgriff aus seinem Bauch ragen. Langsam brach er in die Knie und schaute den Mann mit dem Versuch eines spöttischen Lächelns in die Augen.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Dieser Mann, dieser Fischer, sah aus, wie sein um Jahre gealtertes Ebenbild. Seine eigenen eisblauen Augen starrten ihn aus seinem eigenen, scharfgeschnittenen, von Falten gezeichneten Gesicht entgegen. Ein Bild drängte sich in sein Bewusstsein. Ein Bild von diesem Mann, um viele Jahre jünger, wie er stolz auf seinem Boot stand. Er winkte einem kleinen Jungen zu, der am Strand an der Hand seiner Mutter stand und wild hinter ihm her schrie, dass er mitwolle. Das Bild wich schwarzen Schleiern. Jess erbrach einen Schwall hellroten Blutes.

„Das ist nicht möglich“, flüsterte sein Gegenüber und stand wie gelähmt.

„Jess?“ Die Frau war auf ihn zugetreten und blickte ihm forschend in die Augen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie auf das Schwert schaute. Sie presste ihre Fäuste an die Wangen und ein schrilles Schluchzen entwich ihrem Mund.

Wie aus dem Nichts erschien Cale Stewart an der Seite von Jess und wollte sich auf den Mann stürzen. Jess hob mit letzter Kraft seinen Arm, der schwer und fremd an seiner Seite herunterhing. Schwarze Blitze zuckten vor seinen Augen. Er musste seine ganze Anstrengung darauf richten, dass seine Worte vernehmlich über seine Lippen flossen:

“Halt, nein. ... Bring mich ... fort von hier, der ... Über - fall wird ab - gebrochen.“ Schwerfällig, aber entschlossen legte er beide Hände um den Knauf und zerrte das Schwert mit einem verzweifelten Ruck aus seinem Körper heraus. Ein unmenschlicher Schrei prallte gegen die Felswände, die hinter der Hütte wie ein Schutzwall aufragten, und wurde von dort fortgeschleudert, zurück auf das Meer, von wo die Piraten gekommen waren.

Blitze zuckten stärker vor Jess‘ Augen, und für einen Moment verschwamm alles um ihn herum. Blut lief in einem feinen Rinnsal aus seinem Mundwinkel und tropfte von dort auf sein Hemd. Ein Hustenanfall erschütterte seinen Körper, als ein Schwall hellroten Blutes sich in den feinen, weißen Sand ergoss und ihn durchtränkte.


Cale ergriff seinen Captain unter den Armen und richtete ihn auf. Fassungslos sprang sein Blick zwischen dem Fischer, Jess und der Frau hin und her. Fragen stürzten auf ihn ein, doch es war nicht der rechte Augenblick dafür.

Die Frau, die trotz ihres Alters immer noch ein schönes und warmherziges Gesicht hatte, war zu ihrem Mann geeilt und hatte ihren Arm um ihn gelegt. Beide standen sprachlos Seite an Seite, während der Frau die Tränen in Strömen über das Gesicht liefen. Nicht der Angriff der Piraten machte diese beiden Menschen sprachlos, sondern die gleiche Fassungslosigkeit, die auch von Cale Stewart Besitz ergriffen hatte.

Jess lachte verzweifelt auf, als er schwer auf seinen Ersten Maat gestützt, dem Paar den Rücken zukehrte.

„Das ... nennt man ... dann wohl ... I - ronie des Schick - sals.“ Seine Beine gaben plötzlich vollends unter ihm nach und er stürzte haltlos in den aufstiebenden Sand. Cale beugte sich über ihn und zog sein Hemd über den Kopf. Er knüllte es zusammen und presste es, ohne große Hoffnung, auf die stark blutende Wunde.

Von der Monsoon Treasure erklang plötzlich die Schiffsglocke, deren Schlagen schrill wie ein panischer Vogel über das Wasser zu ihnen flog.

*

Jintel, der mit drei Männern an Bord der Monsoon Treasure zurückgeblieben war, verfolgte besorgt das Geschehen an Land. Er konnte es nicht fassen, dass der Captain gerade von einem einfachen Fischer mit seinem Schwert niedergestreckt worden war.

Wie hatte ein gewöhnlicher Mann, ohne große Kampferfahrung, ausgerechnet Jess Morgan so überraschen können?

Im gleichen Augenblick vernahm er auch schon das sprudelnde Geräusch, das aus dem Schiffsinnern zu ihm heraufdrang. Eine dunkle Vorahnung bemächtigte sich seiner. Laut fluchte er: “Raul! Komm, wir sehen unter Deck nach dem Rechten. Ich fürchte, wir haben ein Leck.“ Beide Männer rannten mit Riesensätzen den Niedergang hinunter und rissen die Hauptluke auf. Sie sprangen in das untere Deck. Dort wurde das Sprudeln immer lauter und durchdringender. Sie hatten jetzt keine Zeit zu verlieren.

„Läute die Schiffsglocke, und dann mach mit Sam und Kadmi die Lenzpumpen klar.“

Raul nickte und beeilte sich, wieder auf das Hauptdeck zu gelangen. Jintel lief weiter in die Bilge, getrieben von der unheilvollen Befürchtung, die sich sofort seiner bemächtigt hatte und zur Eile anspornte. Als er den stickigen Raum wenige Augenblicke später betrat, fand er dort ein großes Leck, durch das das klare Wasser der Bucht in gurgelnden Sturzbächen unaufhaltsam in das Schiff drang!

*

Der Kopf von Cale Stewart flog zwischen der Monsoon Treasure und der zusammengesunkenen Gestalt seines Captains hin und her. Jess hatte inzwischen das Bewusstsein verloren und lag erschreckend leblos auf dem blutdurchtränkten Sand. Seine Gedanken jagten in fieberhafter Eile hinter seiner Stirn, bevor er entschlossen seine Stimme hob:

„Rückzug! – Sofort zurück zur Treasure.“

Der Befehl schallte unmissverständlich über den Strand. Die Piraten ließen überrascht, aber ohne zu zögern ihre Waffen sinken und zogen sich langsam zum Wasser zurück.

Dan und Rachid stürzten atemlos an Cales Seite und hoben voller Betroffenheit die schlaffe Gestalt ihres Captains auf.

“Das sieht böse aus, Cale!“ Rachid pfiff leise durch die Zähne.

Die unausgesprochene Frage hing zwischen ihnen. Die Antwort darauf schob sich wie eine dunkle Sturmwolke davor.

„Wir müssen ihn schnell aufs Schiff bringen.“

Die drei Männer rannten, soweit es ihnen unter diesen Umständen möglich war, mit ihrer Last auf die Boote zu. Die ersten Crew-Mitglieder zogen diese bereits in tieferes Wasser.

Behutsam wurde Jess zwischen die Ruderduchten gebettet, bevor Cale, Dan und Rachid in das Boot stiegen. Ohne Zeit zu verlieren, ruderten sie so schnell sie konnten auf den Dreimaster zu. Bildete Cale sich das nur ein oder hatte die Monsoon Treasure eine gefährliche Schieflage? Er runzelte argwöhnisch die Stirn und schaute dann auf Jess, der inzwischen eine ungesunde graue Gesichtsfarbe angenommen hatte. Seine Augen waren fest geschlossen und kleine Schweißperlen bedeckten seine Stirn, die Cale besorgt mit seiner flachen Hand fortwischte.

Die Überfahrt dauerte viel länger, als er erdulden konnte, und er war erleichtert als die Bordwand endlich beruhigend und greifbar vor ihnen aufragte. Die Männer drängten auf das Schiff und brachten Jess in seine Kajüte. Diffuses Licht kroch durch die Fenster des Heckkastells in das Innere. Staubteilchen badeten sich in den Lichtstrahlen, bevor sie zu Boden sanken.

Noch bevor sie den Captain in seine Koje legen konnten, drängte sich Hong mit all seiner Autorität, die er als Feldscher ausstrahlte, dazwischen. Mit knappen Befehlen wies er die Männer an, Jess in die Koje zu betten.

„So, und jetzt macht, dass ihr hier verschwindet. Ich brauche Ruhe!“, scheuchte er sie ohne weiteres Federlesens aus der Kajüte.

Behutsam entfernte der Chinese das blutdurchtränkte Hemd, das Cale auf die Wunde gepresst hatte, und inspizierte diese mit ruhigem Blick. Der Blutstrom ließ kaum eine genauere Betrachtung zu, und Hong und Cale Stewart konnten sehen, wie das Leben, Tropfen für Tropfen, mit grausamer Beständigkeit aus ihrem Captain herausrann.

*

„Wir müssen uns sofort um die Treasure kümmern. Wenn sie sinkt, ist er nicht mehr zu retten“, stellte Cale besorgt fest.

Er drehte sich auf dem Absatz herum und rannte in die Bilge, um das Leck persönlich zu prüfen. Der Anblick traf ihn wie ein Schlag. Wenn sie nicht sofort das Schiff an Land brachten, um dort das Leck auszubessern, war es nur eine Frage der Zeit, wann sie auf dem Meeresgrund landen würden. Die Männer an den Lenzpumpen arbeiteten mit übermenschlicher Anstrengung und würden dies auf die Dauer nicht lange durchhalten. Der Erste Maat sprang die Stufen hoch, um wieder auf das Hauptdeck zu gelangen.

„Jintel, wir nehmen die Treasure in Schlepp und müssen sie sofort am Strand kielholen. Beeil dich, die Zeit läuft uns davon!“ Cale sah den Zweifel in den Augen des Profos schimmern. Das Leben von Jess Morgan stand auf Messers Schneide, ihm war auf natürliche Art nicht mehr zu helfen. Hong war ein Künstler, wenn es darum ging, Wunden wieder zusammenzuflicken, aber er war kein Zauberer. Er konnte nur das Unabwendbare hinauszögern, dem Tod ein paar Atemzüge mehr abringen, mehr nicht. Jetzt lag alles in ihren Händen und hing von der unglückseligen Verbindung zwischen dem Captain und der Monsoon Treasure ab. Wenn sie die Treasure an Land schafften, wenn sie es möglich machten, sie rechtzeitig zu reparieren, konnten sie auch Jess retten, der mit einer Verwundung kämpfte, die jeden normalen Mann bereits in das Reich der Toten geschickt hätte.

„Dann werden sich die faulen Kerle hier mächtig ins Zeug legen müssen!“

Die harschen Worte des Profos wischten jeden Zweifel in Cale beiseite. Es war ihre einzige Chance, und diese würden sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Jintel begab sich sofort in eines der Beiboote und trieb die Rudermannschaften vor Ort an, wie er es noch nie zuvor getan hatte.

*

Drei Tage später stand Cale am Strand und betrachtete unzufrieden den Fortschritt der Reparaturarbeiten. Es hatte bereits einen guten halben Tag gedauert, bis sie die Monsoon Treasure endlich an den Strand gezogen hatten. Seitdem waren die Arbeiten am Rumpf kaum vorangeschritten, da sie nicht genügend Holz zur Verfügung hatten. Einige Männer der Besatzung hatten sich am frühen Morgen aufgemacht, um nach McPhersons Anweisungen geeignete Bäume zu suchen und zu fällen. Doch bis jetzt hatte er kein Lebenszeichen mehr von ihnen erhalten. Cale fluchte leise vor sich hin. Er ließ seinen Blick über das verwaiste Dorf gleiten.

Die Bewohner des Fischerdorfes hatten die Vorgänge voll Misstrauen beobachtet, hatten aber nicht versucht, sie zu stören oder gar daran zu hindern. Das gesamte Dorf wirkte nun wie ausgestorben, als hätten sich seine Bewohner in das Hinterland zurückgezogen. Überraschend öffnete sich die Tür zu der großen Hütte, in deren Öffnung die Frau erschien, die Jess mit seinem Namen angesprochen hatte. Cale war sich fast sicher, dass ein unglückseliger Zufall sie auf die Eltern von Jess Morgan hatte treffen lassen. Der Mann, der sich hinter ihr aus der Hütte schob, besaß eine solch verblüffende Ähnlichkeit, dass er der Vater sein musste. Cale schüttelte den Kopf über die Situation und fragte sich, was in diesen Menschen vorgehen musste. Mehr als ein Jahrzehnt war ihr Sohn spurlos verschwunden und kam zurück, um als Pirat das eigene Dorf zu plündern.

Misstrauisch erkannte Cale, dass beide ihre Schritte in seine Richtung gelenkt hatten und sich vorsichtig näherten. Das Gesicht der Frau wirkte bleich und angespannt, während der Mann sie entschlossen an die Hand nahm und Cale gelassen entgegensah. Cale konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren. Der Blick aus eisblauen Augen, der jeden anderen sicherlich einschüchtern konnte, war der gleiche, den Jess Morgan so oft nutzte.

Der Fischer blieb in einiger Distanz stehen.

„Verzeiht, aber wir möchten uns nach dem Befinden Eures Captains erkundigen.“ Seine Stimme klang fest, während seine Frau mit zusammengepressten Lippen neben ihm stand. Ihre Hände umklammerten in einem verzweifelten Griff die Hand ihres Mannes, als wäre sie das Einzige, was sie aufrecht hielt. Der Blick ihrer weit aufgerissenen Augen war bittend auf Cale gerichtet.

Cale seufzte innerlich und überlegte, was er ihnen antworten sollte. Wenn er ihnen berichtete, dass er heute Morgen mit ihrem Sohn gesprochen hatte, der bei Bewusstsein war und sich bereits wieder in der Koje aufrichten konnte, würde er ihnen wahrscheinlich den nächsten Schlag versetzen. Nur jemand, der mit dem Teufel im Bunde stand, konnte eine solche Verletzung überleben, geschweige denn, sich so schnell davon erholen. Er ging davon aus, dass Jess spätestens in einer Woche, wenn die Treasure bis dahin fertiggestellt war, wieder völlig genesen sein würde. Dies war für jeden normalen Mann undenkbar. - Allerdings, was konnte noch schlimmer sein, als seinen eigenen Sohn niederzustechen? Cale räusperte sich und tat einen Schritt auf die beiden zu.

„Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, er wird es überleben.“

Der Mann nickte unmerklich, während die Frau ihn erwartungsvoll ansah.

„Es wird wohl problematisch werden, das richtige Holz für Euer Schiff herbeizuschaffen. Wir werden Euch helfen.“ Sein Blick wanderte über den Rumpf der Treasure. „Einige Dorfbewohner sind bereit, Holz zu besorgen, wenn Ihr versprecht, uns anschließend sofort zu verlassen.“ Sein Blick wurde hart, als Cale ihm danken wollte, und der Fischer hob abwehrend eine Hand.

„Dankt uns nicht, lasst uns nur in Frieden hier leben!“ Er wollte sich abwenden, doch die zarten Hände seiner Frau hielten ihn bestimmend zurück. Ein unwilliges Knurren entrang sich seiner Kehle, und er runzelte ablehnend die Stirn.

„Jess, bitte.“ Die Frau sah ihn energisch an. Cale konnte seine Überraschung nicht verbergen, als er hörte, dass der Mann den gleichen Namen trug. Dies war jedoch recht üblich in der Gegend und nichts Außergewöhnliches, trotzdem verdeutlichte es erneut die Absurdität der Situation.

Widerwillig sah ihn der Fischer an. Es war unverkennbar, wie er mit sich kämpfte, bevor er sprach: „Ist es möglich, ihn zu sehen?“

Cale hatte mit solch einem Ansinnen gerechnet, trotzdem war er ehrlich verblüfft. Das Gesicht der Frau war wieder flehentlich auf ihn gerichtet. Unruhig knetete sie ihre Finger, die sie zögernd von der Hand ihres Mannes gelöst hatte. Ihre Lippen formten stumm, aber voller Leidenschaft eine Bitte, die er auch ungehört vernahm. Ihr Mann stand unbeugsam neben ihr. Seine Frage war zwar unwillig erfolgt, doch hatte sie die gleiche Sehnsucht zum Inhalt. Cale schluckte schwer.

„Ich denke, das ist in seinem momentanen Zustand keine gute Idee.“ Cale schüttelte bedauernd den Kopf und biss sich auf die Lippen. Was sollte er ihnen denn anderes sagen? Ihr Wunsch war verständlich, aber seine Erfüllung nicht möglich. Aufatmend verfolgte er, wie die beiden sich verlegen von ihm verabschiedeten und dann langsam, Hand in Hand, über den Strand zu ihrer Hütte zurückkehrten. Cale nahm sich vor, Jess bei seinem nächsten Besuch von der Begegnung zu berichten. Sollte Jess selbst entscheiden, schließlich war es seine Vergangenheit, die ihn einholte.

*

Während sich die Sonne erst langsam aus ihrem nassen Bett hinter dem Horizont erhob, betrat Cale voller Neugier die Kapitänskajüte. Zu seiner Überraschung saß Jess schon auf der Kante seiner Koje, während Hong konzentriert seine Wunde untersuchte.

Jess lächelte ihm entgegen und wartete geduldig, bis Hong einen frischen Verband um seinen Bauch geschlungen hatte. Er wirkte völlig entspannt, und nichts erinnerte mehr an die schwere Verwundung vor ein paar Tagen. Es war nicht das erste Mal, dass Cale Zeuge der wundersamen Heilung von Jess Morgan wurde, aber immer wieder versetzte ihn diese Art der Zauberei in Erstaunen. Manchmal hatte es sogar etwas Beängstigendes an sich, und Cale fragte sich, welchen Preis sein Freund für diese Gabe bereits gezahlt hatte und noch zahlen würde. Er musste an die gestrige Begegnung denken und wollte gerade Jess davon berichten, als dieser unvermittelt aufkeuchte und mühsam nach Luft rang. Cale wollte zu ihm stürzen, doch der kleine Chinese hielt ihn mit einem entschiedenen Kopfschütteln zurück.

„Schick … sie … weg. Sofort!“ Jess presste die Worte gequält hervor und griff sich krampfhaft an sein Herz. Seine Augen weiteten sich für einen winzigen Moment in Fassungslosigkeit und richteten sich hilfesuchend auf Cale, der ihn besorgt ansah. Er konnte nicht begreifen, was hier gerade geschah und sah irritiert zu Hong, der seine Hand beruhigend auf die Schulter seines Captains legte.

„Du musst dich ihnen stellen, Jess. Es hält den Genesungsprozess auf.“

Cale konnte nur verständnislos zwischen dem Chinesen und Jess hin und her starren. Der Atem seines Freundes normalisierte sich wieder und die ungewohnte Panik, die für einen winzigen Bruchteil von ihm Besitz ergriffen hatte, schien Jess wieder losgelassen zu haben. Trotzdem wirkte er seltsam verwirrt und unruhig und war damit nicht der Einzige im Raum, wie Cale sich im Stillen eingestand.

„Schick sie fort, Cale!“ Die Stimme von Jess hatte ihre übliche Festigkeit zurückgewonnen. Mit dunkel umwölkten Augen sah er auf seinen Ersten Maat.

„Die Fischer stehen wieder vor dem Schiff.“ Hong setzte ungeduldig zu einer Erklärung an. „Die Strömungen der beiden, insbesondere die der Frau, verursachen in Jess offenbar eine Art körperlicher Schmerzen.“ Der Chinese richtete sich auf und warf seinem Patienten einen mürrischen Blick zu, den dieser in seiner üblichen Art ignorierte, und Hong ein unwilliges Brummen entlockte. Sorgfältig sammelte er seine Sachen ein und ordnete sie in eine lederne Tasche, die er immer gewissenhaft hütete und niemanden sonst aushändigte.

„Sie wollen dich sehen, Jess.“ Cale überlegte einen Moment, bevor er fortfuhr und von seiner Begegnung mit ihnen erzählte.

Jess schüttelte entschieden den Kopf und ließ sich zurück auf seine Koje sinken. Er wirkte von einem Augenblick zum anderen vollkommen erschöpft.

„Ich kann ihre Qualen spüren.“ Jess schloss seine Augen und holte tief Luft, bevor er fortfuhr. „Sie treffen mich mit ihren Gefühlen, ihrem Schmerz bis – in mein Herz.“ Seine Augen öffneten sich und starrten dumpf an die Decke.

„Von dessen Existenz du bis heute nichts gewusst hast, nicht wahr?“ Hong konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wurde jedoch sofort wieder ernst.

„Es tut mir leid, aber irgendetwas in dir ist offensichtlich stärker verletzt worden als uns bewusst ist. Du solltest mit ihnen reden.“

„Was soll das, Hong? Meinst du wirklich, dass sie Einzelheiten über das Leben ihres Sohnes wissen wollen, der nichts anderes als ein mordender Pirat geworden ist? Dass dies der Fall ist, habe ich ihnen bei unserer Landung ja deutlich vor Augen geführt.“

Hong knurrte laut und vernehmlich und seine dunklen Augen blitzten seinen Captain voll unnachgiebiger Wut an. Er haderte kurz mit sich, doch dann ließ er seine geballte Wut heraus.

„Als ich in die Sklaverei verkauft wurde, zwang man mich, meine Frau und meine beiden Töchter zurückzulassen. Ich weiß nicht, an wen sie verkauft wurden und was aus ihnen geworden ist. Aber …“ Hong holte tief Luft und rang um seine Fassung, „… aber ich würde alles dafür geben, sie noch einmal zu sehen, alles!“ Er sah bleich und vor Wut zitternd auf die beiden Männer und wandte sich dann wieder an Jess. „Sprich mit ihnen, bevor wir das Dorf verlassen. Sie können nichts dafür, was aus dir geworden ist, genauso wenig, wie du selbst. – Tu ihnen das nicht an.“ Mit einer unruhigen Geste wischte sich Hong durch das Gesicht und verließ übertrieben hastig und voller unterdrückter Gefühle den Raum.


Jess Morgan sah ihm mit nachdenklicher Miene hinterher. Er ließ die Empfindungen von Wut und schmerzhaften Erinnerungen zurück. Hong würde niemals mehr die Gelegenheit erhalten, seine Familie noch einmal zu sehen. Ihm hatte man diese Möglichkeit förmlich vor die Füße geworfen. Aus welchem Grund auch immer konnte er jetzt einen Teil seiner Vergangenheit kennenlernen. Es waren seine Eltern. Das konnte Jess nicht nur sehen, das spürte er auch umso deutlicher, da die Strömungen von einer Gewaltigkeit waren, die sonst nur der Natur innewohnte. Es erinnerte ihn an die unerbittlichen Strömungen der Gezeiten. Keine Macht der Welt konnte das Wasser davon abhalten, sich dem unergründlichen Rhythmus der Natur zu unterwerfen. Die Strömungen der beiden waren faszinierend und doch quälten sie ihn; sie waren verlockend und doch ängstigten sie ihn.

Er wollte ihnen nachgeben, doch fürchtete er damit eine Niederlage.

Er wollte vor ihnen flüchten, doch fürchtete er damit einen Verlust.

Jess lag in der Koje und starrte aufgewühlt an die Decke. Seine Hand tastete nach der Wand der Kajüte, und er empfing erleichtert die klaren Linien der Monsoon Treasure in seinen reizüberfluteten Empfindungen.

Ruhig schob sie sich die Treasure zwischen den Wirrwarr in seinem Inneren und erklärte die Niederlage zum Sieg.

Jede Welle, die gegen ihren Rumpf schlug, gab sie an Jess Morgan weiter. Eine Welle folgte der anderen in gleichbleibender Beharrlichkeit und doch glich keine der anderen, so wie kein Tag und keine Begegnung der anderen glichen. Alles brachte neue Erfahrungen mit sich, neue Möglichkeiten, und Jess traf eine Entscheidung.

Langsam löste er seine Hand und brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass Cale immer noch geduldig in seiner Kajüte stand. Er räusperte sich verlegen, bevor er sich zögerlich an seinen Freund wandte: „Sag ihnen, dass ich sie aufsuchen werde, bevor wir das Dorf verlassen.“

*

Es hatte zwei weitere lange Tage gedauert, bis die Monsoon Treasure endlich wieder vollständig hergestellt war. Jess kämpfte mit seiner Ungeduld. Durch die schleppend vorangegangene Reparatur verzögerte sich die Heilung der Wunde. Missmutig musste Jess sich damit abfinden, dass er zwar bereits alleine die Kajüte verlassen konnte, aber doch noch recht schnell ermüdete.

Heute früh hatte ihm sein Schiffszimmermann Patrick McPherson endlich mitgeteilt, dass sie die Reparaturarbeiten an der Treasure abgeschlossen hatten. Anschließend hatten sie den Dreimaster mit Hilfe der Fischer wieder ins Wasser geschleppt. Dem Verlassen der Insel stand damit nichts mehr im Wege. Unglückseligerweise war Hong dabei gewesen und hatte Jess nochmals unmissverständlich darauf hingewiesen, dass er den Fischern ein Versprechen gegeben hatte. Jess wunderte sich über sich selbst. Jetzt saß er hier in seiner Kajüte und schob diese Begegnung vor sich her. Ihm war nicht ganz klar, warum er sich damit so schwer tat, schließlich konnten ihm die beiden völlig gleichgültig sein. Aber zu seinem Erstaunen waren sie ihm nicht so gleichgültig, wie er es sich gewünscht hätte. Das kurze Aufblitzen der Bilder aus vergangenen Tagen war nicht zurückgekehrt; die vermeintlichen Erinnerungen verblasst, und doch hatte er das unsinnige Gefühl, ihnen etwas schuldig zu sein. Jess schnaubte ärgerlich, er wollte diesen Ort und diese Menschen so schnell wie möglich verlassen. Die Strömungen seiner Eltern waren unerträglich und erfüllten ihn mit ungeahnten Empfindungen. Jess atmete tief ein und erhob sich, um sich endlich diesen Menschen zu stellen.

*

Cale sah überrascht von seinem Gespräch mit Jintel auf, als Jess Morgan das Deck betrat und für einen Moment vor dem Schott verharrte, um die frische Luft in seine Lungen zu saugen. Als er den Blick seines Freundes bemerkte, ging er trotz einer leichten Schwerfälligkeit gelassen auf ihn zu.

„Ich werde jetzt zu den Fischern gehen. Wenn ich wieder zurück bin, werden wir auslaufen. Lass alles klar machen.“

Cale bemerkte die ungewöhnliche Unsicherheit in der Stimme seines Freundes, beschloss aber nicht darauf einzugehen.

„Aye, Sir. – Und viel Erfolg, Captain.“

Der innere Kampf, der in Jess tobte, war deutlich zu sehen, als er in das Beiboot abenterte und sich von Finnegan an den Strand rudern ließ. Cale hatte Jintel neben sich völlig vergessen und verfolgte mit seinen Blicken, wie Jess aus dem Boot stieg und dann mit schweren Schritten über den Strand auf die Hütte seiner Eltern zuging. Nur wer ihn genau kannte, konnte bemerken, dass seine Bewegungen leicht verkrampft wirkten. Jeder einzelne Schritt kostete ihn übermenschliche Überwindung. Es war offensichtlich, dass Jess am liebsten umgekehrt wäre, um ohne viel Aufhebens die Insel zu verlassen. Cale erinnerte sich an die Worte von Hong, der vermutetet hatte, dass hier eine viel tiefere Verletzung entstanden war, als ersichtlich. In all den Jahren hatte er seinen Captain nicht in solch einem verwirrten Zustand erlebt, und dies gab ihm ein wenig zu denken. Ausgerechnet jetzt, wo sie sich dazu entschlossen hatten, sich von den Waidami zu trennen, konnten sie es sich nicht leisten, dass sich die Entscheidungen von Jess Morgan durch Gefühle beeinflussen ließen.

„Cale? Hörst du mir überhaupt noch zu?“ Die Stimme von Jintel riss Cale aus seinen Überlegungen, und er bemerkte, dass er immer noch Jess hinterher starrte, der inzwischen die halbe Distanz zur Hütte geschafft hatte. Als sich die Tür der Hütte öffnete und die Frau des Fischers heraustrat, konnte Cale nicht anders, als Jintel mit einer unwirschen Geste zum Verstummen zu bringen und das Geschehen weiter gebannt zu verfolgen.

Als Jess die Frau erblickte, die ihm mit großen Augen entgegensah, blieb er abrupt stehen. Cale konnte sehen, wie er seinen Körper streckte, so wie er es oft tat, bevor er sich in einen Kampf stürzte, und dann entschlossen weiterging. Die Frau blickte ihn nur stumm an und trat dann einen Schritt zur Seite, um Jess Morgan an sich vorbei in das Innere der Hütte treten zu lassen.

Sie folgte ihm, schloss die schmucklose Tür hinter sich und sperrte den enttäuschten Beobachter sanft, aber bestimmt aus dem weiteren Geschehen aus.

*

Jess stockte für einen Moment, als die Frau aus der Tür trat. Sie sah ihn stumm an, und er hatte den Eindruck, gegen eine verzweifelte Fülle von überwältigenden Gefühlen angehen zu müssen. Ihre Strömungen schrien ihm bereits die ganze Zeit, selbst über die Entfernung zwischen Hütte und Schiff, entgegen. Aus der unmittelbaren Nähe schnürten sie ihm den Atem ab und bedrängten ihn auf eine Weise, die ihm unheimlich war. Doch die Frau sagte kein Wort. Diesmal schien sie auch nicht in Tränen ausbrechen zu wollen. Als er weiter auf sie zuging, wich sie ein wenig zur Seite und ließ ihn vorbei, um in das Innere der Hütte treten zu können.

Als er an ihr vorbeigeschritten war, schloss sie leise die Tür.

„Willkommen“, sagte sie schlicht und deutete auf einen einfachen Tisch, der in der Nähe der Feuerstelle aufgestellt war.

Jess ließ seinen Blick durch die Hütte wandern, die überraschend geräumig und großzügig ausgestattet war. Die Feuerstelle bestand aus einem ordentlich gemauerten Kamin, in dem ein kleines Feuer unter einem Topf brannte. Sein Vater lehnte lässig mit verschränkten Armen daneben und betrachtete ihn abwartend. Jess nickte ihm zu und entdeckte ein Stück weiter den gewundenen Absatz einer breiten Treppe, die in das obere Stockwerk führte.

Sie scheinen keine armen Fischer zu sein, dachte er anerkennend, als er zwei Türen entdeckte, die in weitere Räume führten. Alles war sauber und ordentlich und an den Wänden standen verzierte Schränke, die sogar mit einigen Gegenständen geschmückt waren.

„Danke.“ Jess setze sich auf einen dargebotenen Stuhl und fragte sich, wie sich diese unangenehme Situation wohl weiter entwickeln würde.

„Wir danken dir, dass du uns tatsächlich aufsuchst, bevor du mit deinen Männern die Insel verlässt.“ Sein Vater hatte eine wohltönende und dunkle Stimme. Jess sah offen in das von Wind und Wetter gezeichnete Gesicht.

„Ich habe für die Hilfe bei der Reparatur der Monsoon Treasure zu danken. Ohne die Hilfe eurer Fischer wären wir nicht so schnell fertig geworden.“ Dankend nahm er einen hölzernen Becher entgegen, in dem ein leichter Gewürzwein funkelte, und tat einen kurzen Schluck daraus.

„Kannst du dich an uns erinnern?“ Die helle Stimme der Frau ließ Jess seine Aufmerksamkeit wieder ihr zuwenden. Sie hatte leise gesprochen und doch schlug die Gewichtigkeit der Frage wie eine Kanonenkugel ein. Seine Augen suchten ihre, die ihn umschlangen und in einer Art fesselten, die ihm unangenehm war.

„Nein!“ Jess schüttelte den Kopf und beobachtete, wie ihre Hände den Krug, den sie umklammerten, noch fester packten und an ihren Körper pressten. „Ich habe nur Erinnerungen ab dem Zeitpunkt, an dem ich Captain der Monsoon Treasure geworden bin. – Und das ist fünfzehn Jahre her.“

„Das kann nicht sein, dann wärst du mit zehn Jahren Kapitän geworden.“ Erregt griff sein Vater nach einem Stuhl, zog ihn zu sich heran und setzte sich darauf.

„Es kann sein, denn ich bin ein Kapitän der Waidami.“ Jess spie beinahe jedes Wort hervor und zog sein Hemd mit beiden Händen leicht auseinander. Der Fischer und seine Frau starrten ungläubig auf die Tätowierung. Die Frau murmelte leise vor sich hin und bekreuzigte sich dann langsam.

„Das erklärt also auch, warum du diese Verletzung überlebt hast und so schnell wieder gesund geworden bist. Zudem siehst du aus, als wärest du gute zehn Jahre älter.“ Sein Vater betrachtete ihn ruhig. „Du bist die Schöpfung ihrer heidnischen Seher und führst blind ihre Befehle aus, nicht wahr?“

„Ein Menschenleben bedeutet mir nichts, wenn du das wissen möchtest. Schließlich seid ihr selbst Zeuge davon geworden.“ Jess beugte sich leicht zu dem Fischer hinüber und starrte ihn provozierend an.

„Ein Menschenleben muss dir etwas bedeuten, denn sonst wärst du nicht hier, oder?“ Wieder drängte sich die Stimme der Frau dazwischen und sie sah ihn flehentlich an. „Du bist hier, weil wir förmlich darum gebettelt haben, dich zu sehen. - Warum sollte ein gemeiner Pirat sonst ein paar Fischer aufsuchen?“

Jess seufzte und schüttelte den Kopf. Langsam schob er den Stuhl zurück und erhob sich.

„Ich denke, es ist besser, wenn ich wieder gehe.“ Ohne einen weiteren Blick auf die enttäuschten Gesichter zu werfen, ging er auf die Tür zu und öffnete sie. Dankbar fühlte er die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und den erfrischenden Wind auf der Haut, als er aus der Hütte trat.

„Jess!“ Die Stimme war nur ein Hauch und doch besaß sie eine Kraft, dass sich Jess Morgan nach ihr umdrehte. Die Frau trat auf ihn zu und hob ihre Arme, um ihn zu umarmen, hielt dann aber in dem Bewusstsein der Unmöglichkeit ihres Vorhabens inne.

„Werden wir dich jemals wiedersehen?“

„Wozu sollte das gut sein?“ Jess schüttelte hart den Kopf und blickte distanziert zu ihr herab. Er erkannte, dass sie fast einen ganzen Kopf kleiner als er war, als sie dicht vor ihn trat. Sie sah ihn einfach nur an. Kein Wort drang mehr über ihre Lippen, keine Regung stand in ihre schönen Augen geschrieben und doch brach ihre verzweifelte Sehnsucht über Jess Morgan herein und bezwang ihn. Sehnsucht und Verzweiflung waren ihm schon unzählige Male begegnet, doch die Erkenntnis, dass diese Gefühle allein und bedingungslos ihm galten, zwang ihn in die Knie. Erstaunt spürte er, wie Mitgefühl sich in ihm regte, und er hielt ihr in einer schlichten Geste seine Hand entgegen.

Seine Mutter ergriff sie und presste sie kurz und hingebungsvoll an ihre Wange. Ihre Berührung war leicht wie ein Hauch und doch brachte sie voller Kraft eine Wärme mit sich, die in Jess drang und ihn für einen Moment durchströmte. Als sie seine Hand aus ihren Fingern gleiten ließ, trat sie einen Schritt zurück und blieb vor der breiten Brust ihres Mannes stehen, der unbemerkt dazu getreten war.

„Leb wohl.“ Ihre Stimme war mit neuer Kraft gefüllt, als sie nach den Händen des Fischers griff und diese wie einen schützenden Umhang um sich zog.

„Du sollst wissen, dass du jederzeit willkommen bist, wenn du in Frieden hierher kommst.“ Sein Vater sah Jess an und nickte ihm anerkennend zu.

„Lebt wohl.“ Jess wandte sich ab und ging den Strand hinab.

Seine Stiefel hinterließen flache Abdrücke im trockenen Sand, die der Wind bald davon geweht haben würde, aber die Spuren dieser Begegnung verewigten sich für immer und hinterließen Abdrücke, deren Ausmaße nicht vorhersehbar waren.

*

Als Jess aus der Hütte trat, richtete sich Cale aufgeregt auf. Seit Jess in das Haus gegangen war, hatte er gewartet, sich auf der Reling abgestützt und Vermutungen darüber angestellt, was darin wohl geschehen würde. Die fast rührselige Abschiedsszene rief Unglauben in ihm hervor, und Cale hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren, die Befehle zum Auslaufen zu geben.

„Er wird nicht mehr derselbe sein.“ Hongs düstere Worte ließen Cale herumfahren, und er sah den Chinesen verständnislos an.

„Was meinst du?“

„Captain Jess Morgan ändert sich. – Das meine ich.“ Die dunklen Augen schienen erfüllt von heimlichem Wissen und verfolgten regungslos, wie Jess sich dem Beiboot näherte, vor dem Finnegan geduldig wartend im Sand saß. „Du wirst sehen, wir lösen uns nicht nur von den Waidami, sondern auch von unserer alten Lebensweise.“ Seine Augen richteten sich bedeutungsvoll auf Cale und der Chinese nickte ihm ernsthaft zu.

Cale legte die Stirn in Falten und rief Jintel Befehle zu, damit dieser alles zum Auslaufen klarmachte. Das Boot glitt unter den kräftigen Ruderschlägen von Finnegan schnell näher, und Jess enterte müde das Fallreep hinauf. Der Erste Maat sah mit Besorgnis, dass die Miene seines Freundes von neuen Erfahrungen gezeichnet war, als er die Planken der Treasure betrat.

„Kurs Changuinola, Cale. – Es wird endlich Zeit, unseren alten Kurs wieder aufzunehmen.“

Die Schiffe der Waidami

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