Читать книгу Die Schiffe der Waidami - Klara Chilla - Страница 8

Seher

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„Ich werde ab sofort deine Ausbildung zum Seher übernehmen. Du wirst hier eine der Höhlen beziehen.“

Bairani stand in seiner Höhle und betrachtete Torek, wie dessen blassblaue Augen sich weiteten und seine Kinnlade herabfiel. Der leicht geöffnete Mund, der viel zu groß für das Gesicht wirkte, verlieh dem Jungen einen dummen Ausdruck. Der Seher lächelte still in sich hinein. Dumm war der Junge wirklich nicht. Dies war eine ungewöhnliche Gelegenheit für Torek, der aufgrund seiner schlaksigen und unbeholfenen Gestalt von den anderen Jungen des Dorfes verlacht wurde. Er würde diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen und schnell lernen, seine neue Position für sich zu nutzen. Bairani genoss den Gedanken, den Jungen formen zu können.

„Ich möchte aber erst, dass du mir deine Visionen zeigst. Komm her zu mir, mein Junge.“ Bairani hob fordernd die Hand, um sie Torek zwischen die Augen zu legen. Sobald seine Finger die leicht schwitzige Haut berührten, wurde er von einem gewaltigen Strom von Bildern bedrängt. Sie stürzten unkontrolliert wie eine Lawine auf ihn herein, die sich an den Hängen des Vulkans löste und ungebremst in die Ebene polterte. Der Oberste Seher atmete tief durch und konzentrierte sich darauf, eine leichte Barriere zu bauen, um dahinter die Visionen zurückzuhalten. Dann erschuf er einen kleinen Durchgang, durch den er jedes Bild einzeln passieren ließ. Überwältigt betrachtete er die nicht endenwollende Flut. Was er da sah, übertraf seine größten Erwartungen, der Junge sammelte offensichtlich die Visionen sämtlicher Seher in sich. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Er sah Bilder aus der Vergangenheit, die für ihn zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig uninteressant waren. Gefolgt wurden diese von Geschehnissen, die jetzt stattfanden, und Bairani sah schon etwas genauer hin. Aber auch an diesen Bildern verlor er bald das Interesse. Dann endlich kamen Bilder aus der Zukunft. Eines zeigte Torek in der Kleidung der Seher, wie er neben ihm selbst stand und die anderen Seher sich vor ihnen verneigten. Ein Strudel von Bildern folgte, und Bairani erstarrte erschrocken. Es war einfach unbeschreiblich. Dieser Junge schaffte, was sonst keinem gelang. Visionen von anderen Sehern waren bisher keinem möglich gewesen, da sie viel zu viele andere Bilder mit sich brachten. Doch für Torek schien es kein Problem darzustellen. Stattdessen wurden diese Bilder von einem plötzlichen Machtgefühl begleitet, das Torek wie ein Fluss durchströmte, dessen Quelle gerade erst entdeckt worden war. Bairani musterte den Jungen genauer, und der merkwürdige Glanz, der in dessen Augen getreten war, bestätigte seine Vermutung, dass Torek nur zu gerne zu einem treuen Anhänger von ihm werden würde.

Eine gewaltige Vision drängte Bairanis Gedanken beiseite und er widerstand nur mühsam dem Impuls, davor zurückzuweichen. Er sah sich unter dem großen Felsenbogen stehen, der in die Höhlen führte. Sein Blick war auf jemand oder etwas vor ihm gerichtet, als plötzlich Jess Morgan am Rande der Szene auftauchte. Er schleuderte etwas nach ihm und brach dann zusammen. Bairani wollte erst jubeln, als er sah, wie er sich selbst an den Hals griff und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden stürzte. Mit einer panischen Bewegung riss er überrascht die Hand von Toreks Stirn. Das Bild war fort, doch hatte es etwas zurückgelassen, mit dem der Oberste Seher für den Moment vollkommen überfordert war. Er ignorierte die zusammensinkende Gestalt Toreks. Sein Herz raste und Bairani schluckte schwer. Nachdenklich betrachtete er Torek, der sich mühsam aufrichtete. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. Zitternd griff Bairani nach einem Becher, der in einer Nische in der Wand stand. Gierig trank er und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Konnte es möglich sein, dass … Nein, keine Vision war endgültig, es gab immer wieder Möglichkeiten, dass sich alles änderte.

Torek war inzwischen wieder ganz auf die Beine gekommen und lehnte schweratmend an der Höhlenwand. Er hielt seine Augen geschlossen und war blass geworden.

„Hol jetzt deine Sachen, Torek. – Und kein Wort zu irgendjemand über deine Visionen, hörst du?“ Bairani hielt den Jungen am Arm fest, als er an ihm vorbeigehen wollte und sah ihm beschwörend ins Gesicht. „Lass niemanden in deine Visionen blicken außer mir. Du hast eine so große Gabe, wie leicht würde jemand diese für sich nutzen wollen. Jeder wird auf dich eifersüchtig sein, wenn er erst erfährt, was du wirklich kannst.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Selbst ein Mann wie Tamaka gab dem Gefühl des Neides nach und tötete den armen Ronam und seine unschuldige Tochter. Sei also auf der Hut - selbst vor deinen Eltern.“

Torek sah ihn verständnislos an und nickte verwirrt, bevor er die Höhle verließ. Der Oberste Seher sah ihm hinterher. Wenn der Junge lernte, mit diesen Visionen umzugehen, dann war er davon überzeugt, dass er sie auch ganz gezielt heraufbeschwören konnte. Er würde alle anderen Seher ersetzen können, zumindest die, die langsam begannen, lästig zu werden. Schon länger regte sich unterschwelliger Widerstand bei einigen Sehern, die nicht damit einverstanden waren, dass er immer mehr Schiffe bauen ließ und sie fortschickte, um andere Handelsfahrer zu überfallen. Ronam war der Schlimmste gewesen, der ihn noch vor der letzten Sichtungszeremonie unbedingt zur Rede hatte stellen müssen. Doch er war kein Problem mehr, dachte er mit grimmigem Lächeln.

Bairani kam ein plötzlicher Gedanke, und er ging zu einer mit einem schweren roten Vorhang abgetrennten Nische auf der anderen Seite der Höhle. Entschieden schob er den Vorhang zur Seite und betrachtete die gigantische Truhe, die dahinter verborgen stand. Ihre Wände waren aus Stein gemeißelt und lediglich der Deckel bestand aus einem dunkel glänzenden Holz, in dessen Mitte das Abbild eines Vulkans mit großer Kunstfertigkeit geschnitzt worden war. Bairani fixierte misstrauisch die Truhe, die er niemals zuvor geöffnet hatte. Einen Moment stand er so völlig unbewegt da, bis er sich einen Ruck gab und mit beiden Händen den schweren Deckel öffnete. Die Truhe war seit ewigen Zeiten nicht mehr geöffnet worden, trotzdem war nicht das kleinste Geräusch zu hören, als sich der Deckel bewegte. Bairani atmete angestrengt und besah sich den Inhalt. Eine Vielzahl von Pergamentrollen kam zum Vorschein, doch sein Blick wurde von einer einzelnen Rolle wie magisch angezogen. Sie war vergilbt. Das Band, das sie zusammenhielt, war ausgeblichen und erinnerte nur noch schwach an die einstmals wohl intensive rote Farbe. Bairani leckte sich über die Lippen und griff voller Ehrfurcht in die Truhe, um das Pergament an sich zu nehmen.

*

Torek lief den Hang hinunter als könnte er fliegen. Die Erschöpfung war wie fortgeblasen. Sein Lauf wurde von dem unglaublichen Gefühl beflügelt, von Bairani zu seinem Schüler gemacht worden zu sein. Bairani wollte ihn unterrichten!

Torek sprang, rannte und jubelte innerlich, denn er wagte nicht laut zu jubeln, aus Angst, gehört zu werden.

Er sei etwas ganz Besonderes, hatte der Oberste Seher gesagt. Seine Mutter würde so stolz auf ihn sein.

Der Junge stoppte unvermittelt seinen Lauf, als er die schlanke Gestalt von Recam erkannte, der ihm mit Longin und Furbin entgegenkam. Er schluckte nervös und vergaß seine Euphorie mit einem Schlag. Sie hatten ihn entdeckt und das bedeutete in der Regel nichts Gutes. Schon verzog sich das markante Gesicht des großen Jungen zu einem freudigen Lächeln, als er ihn sah. Er stieß mit den Ellbogen Furbin an, der ihn im gleichen Moment entdeckte, aber reaktionsschnell mit einer beiläufigen Bewegung den Arm seines Freundes aufhielt.

Geh weiter! Lass dich bloß nicht einschüchtern. Es war sowieso zu spät, wenn sie ihn erst einmal gesehen hatten.

Langsam ging Torek weiter. Hinter den Jungen konnte er schon das Dorf sehen, vielleicht kam er ja doch noch an ihnen vorbei. Longin drehte sich um, um ebenfalls zum Dorf zu blicken. Seine schulterlangen Haare flogen durch die Geschmeidigkeit seiner Bewegung um seinen Kopf wie schwarze Federn.

Torek prüfte, ob sie weit genug weg waren, um kein Aufsehen zu erregen. Er nagte nervös an seiner Unterlippe, während er zögerlich weiterging.

Als sie kurz darauf aufeinandertrafen, versperrten sie ihm wie erwartet den Weg und schauten ihn herablassend an.

„So allein in den Höhlen gewesen, Kleiner? Darfst du das denn schon?“ Recam sah ihn hinterhältig an und richtete seinen beeindruckend breiten Oberkörper kerzengerade auf, um noch größer zu erscheinen.

„Ein Seher darf gehen, wohin er will!“, antwortete er leise und zog den Kopf eingeschüchtert zwischen die Schultern, als Recam belustigt auflachte.

„Ein Seher, habt ihr das gehört?“ Longin hielt sich den Bauch vor Lachen, und seine mädchenhaft feinen Gesichtszüge verzogen sich zu einer komischen Grimasse.

Furbin stimmte in das Lachen seiner Freunde nicht mit ein, sondern hob in gespieltem Misstrauen eine Augenbraue.

„Wenn du ein Seher bist, hast du bestimmt auch das Schlammbad gesehen, das du gleich nehmen wirst?“

Toreks Herzschlag setzte für einen Augenblick aus, und er wich zurück, während das Lachen von Recam und Longin immer lauter wurde. Er wehrte sich nicht, als sie ihn an den Armen packten und unter lautem Johlen mit sich zerrten. Seine Wangen brannten vor Scham, aber es hatte einfach keinen Zweck. Sie waren ihm an Körpergröße und Kraft weit überlegen, auch wenn sie genauso alt wie er waren. Es amüsierte sie nur noch mehr, wenn er seine lächerlichen Versuche unternahm, ihnen zu entkommen.

Sie schleppten ihn nicht lange durch den Dschungel, sondern blieben schon bald am Rande einer schlammigen Pfütze stehen, die die lang zurückliegenden Regenfälle bis jetzt überdauert hatte.

„Möchte der Seher uns noch irgendetwas sagen?“ Recam schob sich vor ihn und grinste, als Torek den Kopf leicht hob, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

Ein Bild von eindringlicher Klarheit schob sich plötzlich in Toreks Kopf. Recam, wie er als Wächter der Seher gekleidet und um einige Jahre älter mit einer tödlichen Wunde im Bauch zusammenbrach.

Diese Vision schleuderte das Hochgefühl, das ihn begleitet hatte, bis er den Jungen begegnet war, um ein Vielfaches intensiver zurück und vertrieb die Erniedrigung. Torek straffte seine Schultern und reckte trotzig sein Kinn. Er konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als er das Erstaunen in den Gesichtern der anderen sah.

„Ja, ich möchte dir etwas sagen, Recam, denn ich habe deinen Tod gesehen. Vielleicht möchtest du wissen, wie du sterben wirst?“

Die Selbstsicherheit Recams zerbröckelte von einem Wimpernschlag auf den anderen, und er wurde blass. Furbin packte Torek nach einer Schrecksekunde schmerzhaft am Arm und stieß ihn, gröber als sonst, in den Schlamm. Torek versuchte mit ein paar stolpernden Schritten, den Sturz aufzuhalten, fiel aber laut klatschend in den Dreck.

Es war ihm egal! Ein irres Lachen drang aus seinem Mund, das ihn selbst überraschte und völlig fremd klang. Diesmal lachte er! Torek drehte sich gelassen um und setzte sich mit ausgestreckten Beinen in den Schlamm.

Recam und die anderen standen immer noch am Rand der Pfütze und sahen ihn völlig entsetzt an.

„Du bist ja wahnsinnig!“ Longin spie ihm die Worte wütend entgegen und ging langsam rückwärts.

„Das mag sein, aber er ist in wenigen Jahren tot, der große Krieger!“ Torek lachte nun, dass ihm die Tränen aus den Augen quollen. Mit Genugtuung verfolgte er, wie Longin und Furbin den erstarrten Recam an der Schulter packten und eilig mit sich in den Dschungel zogen.

„Nur noch wenige Jahre, Recam. Und du wirst bei dem jämmerlichen Versuch sterben, ein paar Seher zu retten!“ Das Lachen schüttelte inzwischen seinen ganzen Körper. Torek atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen.

Sie werden mich nicht nochmal quälen, dachte er und stand auf. Den Schlamm wischte er dabei so gut es ging von seiner Kleidung. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich stark. Nachdenklich betrachtete er seine schmalen Hände, die an viel zu langen und viel zu dünnen Armen saßen. Seine Stärke war unübersehbar nicht körperlicher Art, aber immerhin so mächtig, dass ein Mann wie der Oberste Seher großes Interesse daran zeigte. Denn, dass das Interesse über das normale Maß an einem Schüler hinausging, hatte er sehr wohl bemerkt, als er gerade bei Bairani gewesen war. Und das würde er für sich nutzen.

Torek stieg mit neu erwachtem Stolz aus der Pfütze heraus. Er setzte seinen Weg laut jubelnd fort, denn diesmal durfte ihn jeder hören.

*

Nolani schaute verwundert auf, als sie aus der Hütte trat, um ihrem Mann und Durvin zwei Becher mit Batava zu bringen. Lautes Singen schallte den Weg herab. Es war unzweifelhaft die Stimme ihres Sohnes.

„Was ist denn mit Torek?“ Der Seher runzelte leicht die hohe Stirn und sprach damit laut aus, was auch Nolani durch den Kopf ging. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn je so ausgelassen singen gehört zu haben.

Shemar schaute schweigend in die Richtung des Gesangs, aus der sich sein Sohn mit weitausgreifenden Schritten rasch näherte.

„Vielleicht hat er gute Neuigkeiten. Bairani hat heute Morgen nach ihm geschickt.“ Er sprach ruhig, trotzdem veranlasste Durvin ein merkwürdiger Unterton darin, erst Shemar und dann Nolani mit einem langen Blick zu betrachten.

„Er ist ja voller Schlamm!“ Nolani riss erstaunt die Augen auf und ging Torek einige Schritte entgegen. „Was ist passiert, Torek? Bist du wieder Recam und seinen Freunden begegnet?“ Sie machte eine Pause, in der sie Luft holte, um ihre Tiraden fortsetzen zu können. „Ich verstehe das wirklich nicht, ihr vier seid doch zusammen aufgewachsen.“ Nolani stemmte die Fäuste in ihre stämmigen Hüften und ignorierte, dass Toreks Miene sich abrupt verdunkelte und er seinen Gesang einstellte. Er zog seinen Kopf leicht ein, und seine blassen Augen wanderten von einem zum anderen.

„Hallo, Durvin.“

„Torek!“ Durvin lächelte den Jungen freundlich an, und auch sein Vater schenkte ihm ein Lächeln, in dem jedoch auch unverkennbar gutmütiger Spott saß.

„Wie kommst du zu einem Schlammbad, mein Junge?“

Nolani presste vor Ärger die Lippen fest aufeinander. Natürlich fanden beide Männer es wieder höchst amüsant, dass Torek mit den anderen aneinandergeraten war. Ihr Mann vertrat sowieso die Meinung, dass Torek zu weich war und noch lernen musste, sich durchzusetzen. Nolani verdrehte innerlich die Augen und warf einen Blick auf Shemar, der nun mit vor der Brust verschränkten Armen seinen Sohn betrachtete. Er war jetzt fünfzig Jahre alt. Langsam schlich sich das Alter herbei und hinterließ seine noch unauffälligen Spuren auf seinem Körper und in seinem Gesicht. Seine Figur war immer noch stattlich, und er war voller Hingabe und Stolz ein Wächter der Seher, wie er es auch bereits als junger Mann gewesen war.

Die Stimme ihres Sohnes riss sie aus ihren Gedanken, und sie sah wieder zu ihm, als er erst stockend und mit offensichtlicher Scham von der Begegnung berichtete. Doch dann änderte sich schlagartig etwas in seiner Haltung. Torek richtete sich kerzengerade auf, und ein schadenfrohes Grinsen überzog sein Gesicht.

„… und dann hatte ich die Vision von Recams Tod und habe ihm davon erzählt.“

Nolani überkam ein leichter Schwindel, als sie die Begeisterung in seiner Stimme hörte und das boshafte Leuchten, das in seine Augen getreten war. Was geschah da mit Torek?

Gerade lachte er unnatürlich laut auf und berichtete voller Genugtuung, dass Recam förmlich vor ihm geflüchtet war. Für einige Augenblicke herrschte Schweigen, in denen Nolani nicht wusste, wie sie reagieren sollte und ihr Mann einen langen Blick mit Durvin tauschte.

„Du hättest Recam nicht mit der Vision erschrecken dürfen. Ein Seher nutzt seine Fähigkeiten nicht dazu, um andere zu verletzen.“

„Er hat es verdient.“ Torek schob trotzig die Unterlippe vor und begegnete ihrem Tadel mit einem düsteren Blick.

„Visionen zu erhalten ist eine große Verantwortung, mit der man erst lernen muss umzugehen. Du musst stets überlegen, was für Auswirkungen die Offenbarung haben kann und dies vorher gut abwägen. – Du hast ungewöhnlich klare Visionen für dein Alter, Torek. Das bedeutet auch eine große Macht, mit der du viel Schaden anrichten kannst.“ Durvin lächelte immer noch freundlich und neigte sich mit erhobener Hand zu Torek. „Lass mich an deinen Visionen teilhaben, damit ich sie für dich ordnen kann, und ich werde dir sagen, welche du nicht mitteilen solltest.“

„Oh nein, auf keinen Fall!“ Torek hob abwehrend die Hände und starrte Durvin misstrauisch an. „Der Oberste Seher hat mich davor gewarnt, meine Visionen mit jemand anderen als ihm zu teilen. Er hat gesagt, dass andere Seher meine Visionen als die ihren ausgeben könnten. Außerdem wird er mir alles beibringen, was nötig ist. Deshalb hat er mich auch heute zu sich gerufen.“ Er lächelte triumphierend. Nolani fuhr ein schmerzhafter Stich durchs Herz, während Durvins Arm plötzlich kraftlos auf den Tisch sank.

Shemar erhob sich und legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. Schmerzhaft erkannte Nolani, dass er sich dazu zwang, eine beeindruckte Miene aufzusetzen.

„Das ist eine große Neuigkeit, Torek. Ich bin stolz auf dich, und ich hoffe, dass du dir deiner Verantwortung umso mehr bewusst bist, da es seit Generationen keinen Schüler mehr beim Obersten Seher gegeben hat.“

Toreks Trotz verschwand spurlos, und er nickte ehrfürchtig.

„Ich werde gut auf den Obersten Seher hören, das verspreche ich.“

Genau das befürchte ich, dachte Nolani. Ihr Herz wurde schwer. Am liebsten hätte sie Torek in die Arme gezogen, um ihn wie ein kleines Kind vor der drohenden Gefahr zu schützen. Doch ihr waren nicht die warnenden Blicke von Shemar entgangen, und sie hielt sich zurück.

Torek wandte sich eifrig an seinen Vater.

„Du hast doch früher Seher auf ihre Reisen begleitet. Was habt ihr so gemacht, und wen hast du überhaupt beschützt? War es Durvin?“ Torek blickte kurz zu dem untersetzten Seher.

„Nein.“ Shemar schüttelte den Kopf und strich sich eine einzelne weiße Strähne, die sich zwischen die dunklen Haare verirrt hatte, zurück. „Ich war der Wächter von Tamaka.“

„Der Mörder!“ Torek zischte die Worte wütend hervor.

Nolani schlang ihre Hände ineinander, als könnte sie sich selbst damit Halt geben, während sie besorgt die Stimmungswechsel ihres Sohnes verfolgte.

„Du solltest nicht alles glauben, was du im Dorf hörst!“ Shemar hob verärgert eine Augenbraue und trat einen Schritt zurück.

„Willst du damit sagen, dass Bairani lügt? Er hat auch gesagt, dass Tamaka Ronam und seine Tochter getötet hat.“ Torek hatte eine angriffslustige Haltung angenommen und starrte abwechselnd seinen Vater und Durvin an.

Wieso siehst du nicht in deinen Visionen nach, was hält dich davon ab, die Wahrheit selbst zu sehen? Nolani widerstand der Versuchung, Torek aufzufordern, genau dies zu tun. Bairani hatte offensichtlich bei seinen zwei Treffen mit Torek bereits großen Einfluss über ihn gewonnen.

„Nein, natürlich nicht.“ Shemar antwortete langsam und dehnte jedes Wort unnatürlich aus, während er Torek ansah, als hätte er einen völlig Fremden vor sich stehen.

Sein Sohn nickte beruhigt und sah dann an sich herunter, als bemerkte er erst jetzt, dass seine Kleidung immer noch voller Schmutz war.

„Ich werde mich jetzt erst einmal waschen. Dann packe ich meine Sachen zusammen. Bairani möchte, dass ich oben in den Höhlen wohne.“

Das Lächeln, das den Worten folgte, zog Nolani den Boden unter den Füßen weg. Sie konnte sich gerade noch zurückhalten bis Torek in der Hütte verschwunden war. Dann keuchte sie entsetzt auf und griff verzweifelt nach Shemar, der sie nur ansah und direkt zu ihr eilte, um sie zu stützen.

*

Er hatte es gewusst. Wütend zog Torek sich die schmutzigen Sachen aus und warf sie achtlos auf den Boden neben seine Schlafstatt. Bairani hatte vollkommen Recht gehabt, als er ihn vor seinen eigenen Eltern gewarnt hatte. Glaubten sie denn wirklich, er hätte die Blicke nicht bemerkt, die sie miteinander getauscht hatten? Dass sein Vater nicht wirklich beeindruckt sein würde, hatte er erwartet. Ihm war er noch nie kräftig genug gewesen. Immer sprach er mit Begeisterung von Jungen wie Recam und seinen Freunden, die sich bereits jetzt für die Prüfung zum Wächter in einem Jahr vorbereiteten. Aber seine Mutter? Sie hatte eher ängstlich reagiert, als mit Stolz. Torek schlüpfte in eine blassbraune Hose und warf sich ein Hemd über, bevor er mit hastigen Griffen ein weiteres Hemd packte und zusammenrollte. Suchend blickte er sich um. Nein, mehr besaß er nicht. Und die schmutzige Kleidung konnte er bei einem Besuch mitnehmen, wenn seine Mutter sie gewaschen hatte. Wenn er sie besuchen würde, das wusste er im Moment nicht mit Bestimmtheit. Er würde sowieso bald den grauen Umhang der Seher tragen dürfen. Dann brauchte er keine andere Kleidung mehr. Torek schob sich das Bündel unter den rechten Arm und wandte sich zur Tür, um hinauszugehen. Seine Mutter stand im Eingang und beobachtete ihn mit traurigem Lächeln. Der Junge schluckte, denn es schmerzte ihn trotz seiner Wut, sie so zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie nur Angst davor, ihn gehen zu lassen. Aber er war kein kleines Kind mehr. Dennoch beschloss er, ihretwegen wieder zu kommen.

Langsam ging er auf sie zu und umarmte sie. Sie schlang ihre Arme um ihn, als könnte sie ihn mit dieser Geste zurückhalten.

„Leb wohl, Torek“, sagte sie schlicht und ließ ihn widerstrebend los.

„Leb wohl, Mutter.“ Torek bemerkte verärgert, dass seine Stimme leicht zitterte, und er ging rasch an ihr vorbei.

Vor der Hütte stand sein Vater neben Durvin im Schatten und sah ihm verhalten entgegen. Er hielt ihm eine Hand hin, die Torek zögernd ergriff.

„Gehe sorgsam mit deinen Fähigkeiten um, mein Sohn. Nimm dir deinen Onkel als Vorbild.“

„Das werde ich, Vater.“ Torek nickte und ging mit einem gemurmelten Gruß an Durvin vorbei, der ihn ernst anlächelte. Dann beeilte er sich, aus dem Schatten der Hütte zu treten und schritt den Pfad zurück, den er gerade erst gekommen war.

*

Noch lange, nachdem Torek bereits auf dem Pfad außer Sichtweite geraten war, stand Durvin mit dessen Eltern vor der Hütte und starrte ihm hinterher. Keiner sagte ein Wort, nur Nolani seufzte von Zeit zu Zeit aus tiefstem Herzen. Shemar hingegen hielt sie mit steinernem Gesicht im Arm, unbeugsam, so wie Durvin ihn kannte.

„Ihr müsst euch damit abfinden, dass Torek an Bairani vorerst verloren ist“, sagte er sanft und legte begütigend eine Hand auf Nolanis Schulter. „Es geschieht genau, wie es dein Bruder vorhergesagt hat, Shemar.“

Shemar wandte ihm das Gesicht zu und nickte. Seine braunen Augen durchbohrten ihn, als wollte er ihn bestrafen.

„Habt ihr niemals daran gedacht, ihn zu töten?“, fragte er leidenschaftslos.

Durvin ignorierte das entsetzte Aufkeuchen Nolanis und nickte stattdessen ernst.

„Ronam und ich wollten Torek bereits bei seiner Geburt töten, aber Tamaka hielt uns davon ab. Er sagte, dass jeder Mensch eine Rolle in unserem Gefüge hat, und wenn wir Torek beseitigten, würden wir nicht wissen, wer statt seiner die Fähigkeiten deines Bruders erben würde. – Tamaka war sich sicher, dass in Torek ein Kern verwurzelt ist, den Bairani nie für sich wird beanspruchen können, und er vielleicht am Ende dahin zurückfindet.“ Durvin zuckte mit den Schultern. „Er war auch davon überzeugt, dass ihr weiterhin für Torek wichtig sein würdet, und ihr ihn unbedingt immer als Sohn willkommen heißen solltet.“

„Ich hätte ihn nicht zur Zeremonie schicken sollen, damit habe ich alles nur in Gang gebracht.“ Nolanis Gesicht war von Selbstvorwürfen zerfurcht und wirkte um Jahre gealtert.

„Du hattest keine andere Wahl. Die Gefahr war zu groß, Bairani hätte Torek sonst von alleine entdeckt und wäre schnell auf uns aufmerksam geworden.“

„Aber was ist, wenn Torek unsere Visionen ansieht?“

„Bairani wird ihn gezielt einsetzen. Ich denke, er wird dafür kein Interesse und keine Zeit haben.“

Nolani sah Durvin an. Sie schüttelte verzagt den Kopf und deute mit beiden Armen auf ihr Heim.

„Aber, wie kann ich ihn hier willkommen heißen, wenn ich doch weiß, dass er zu einem grausamen Mann heranwachsen wird. Wie kann ich ihn anlächeln, wenn ihr über seinen Tod nachdenkt?“ Ihre Stimme versiegte zu einem kaum wahrnehmbaren Flüstern, und sie starrte auf den hellen Lehmboden zu ihren Füßen.

Durvins Herz war schwer, er war mit den beiden befreundet, seit er denken konnte. Früher waren sie immer fröhlich gewesen, aber seit Gorlun, der Bruder Shemars, die Vision über Torek gehabt hatte, war nichts mehr wie zuvor.

Sie alle warteten nun schon so lange auf die Gelegenheit, Bairani zu stürzen. Mit den Visionen über Jess Morgan war diese in greifbare Nähe gerückt. Doch Torek sollte zu einer neuen Figur in diesem Spiel werden, die auf Bairanis Seite schwer wog und der Zukunft so viele Facetten gab wie ein geschliffener Diamant.

Durvin seufzte und sah Nolani hinterher, die mit gebeugten Schultern in die Geborgenheit ihrer Hütte verschwand.

„Sie wird es schon schaffen, Durvin. – Wir schaffen das!“, sagte Shemar fest. Er schlug Durvin kameradschaftlich auf die Schulter und folgte dann seiner Frau in die Hütte.

Die Schiffe der Waidami

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