Читать книгу Das Erbe von Tench'alin - Klaus D. Biedermann - Страница 10

Kapitel 6

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»Sie kennen dieses Tal also doch. Dann war meine Vermutung ja richtig.« Jared hatte recht gehabt. Wenn es einen Menschen gäbe, von dem er etwas über das geheimnisvolle Tal erfahren könnte, so hatte er vor ein paar Tagen zu Scotty gesagt, dann wäre das die Äbtissin von Haldergrond. Er hatte diesen letzten Strohhalm ergriffen und war vor Kurzem in der ehemaligen Klosteranlage eingetroffen, die seit einigen hundert Jahren die berühmteste Schule für Heilkunst und Musik war. Es wurden hier nur junge Frauen aufgenommen, die sich einem strengen Auswahlverfahren unterzogen hatten oder sich auf Empfehlung einer anerkannten Heilerin für einen Ausbildungsplatz bewarben.

Wenn ihm vor einer Woche jemand, ganz egal wer, diesen Schritt vorausgesagt hätte, hätte er dieser Person ans Herz gelegt, einen guten Arzt aufzusuchen.

Jetzt saß er im Allerheiligsten von Haldergrond in einem alten Ledersessel, in dem schon viele Menschen gesessen haben mussten, was an den abgewetzten Armlehnen und der tief nach innen gewölbten Sitzfläche deutlich zu erkennen gewesen war.

Fast die gleichen Sessel wie bei uns daheim, hatte er festgestellt, als er sich vorsichtig niedergelassen hatte, wenn unsere auch in einem deutlich besseren Zustand sind.

Ihm gegenüber hatte die Leiterin der Schule, die im Volksmund nur die Äbtissin genannt wurde, auf einem mächtigen, mit wertvollem Brokat bezogenen Stuhl Platz genommen.

Dessen hohe kunstvoll geschnitzte Lehne war am oberen Ende mit zwei zu den Seiten ausladenden, stilisierten Engelsflügeln verziert. Sie sah klein darin aus, obwohl sie es nicht war. Wie er bei der Begrüßung hatte feststellen können, war sie nur etwa einen Kopf kleiner als er. Sie trug ein cremefarbenes Leinenkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ihre nackten Füße steckten in braunen Sandalen mit silbernen Schnallen. Die schwarzen Haare, er hatte nicht eine graue Strähne darin entdecken können, hatte sie zu einem imposanten Knoten geflochten, der von einer ebenfalls silbernen Spange gehalten wurde. Am Ringfinger ihrer rechten Hand trug sie einen schlichten Siegelring mit einem dunkelroten Stein. Ihr linkes Handgelenk zierte eine schmale silberne Armbanduhr.

Neben seinem Sessel befand sich ein kleiner, runder, dreibeiniger Messingtisch. Dort stand ein Krug Wasser, dessen Boden mit Halbedelsteinen bedeckt war, daneben ein bunt verziertes Glas.

Die Nachmittagssonne, die durch das mit einem kunstvollen mandalaartigen Ornament versehene runde Fenster schien, das fast die gesamte Fläche der Wand einnahm, tauchte den Raum in mildes, fast unwirkliches Licht. In der Mitte des Mandalas war ein grüner Drache mit einem roten Hahnenkopf abgebildet.

Jared hatte beim Hereinkommen kurz die Gelegenheit gehabt, einen Blick aus einem der hohen schmalen Fenster zu werfen, die das Drachenfenster flankierten. Dabei hatte er festgestellt, dass man weit in das Tal über einen sich durch Wiesen und Felder schlängelnden Fluss bis hin zu den Wäldern sehen konnte, die, wie er wusste, ebenfalls zu Haldergrond gehörten. Dann war sein Blick für einen kurzen Moment an der Darstellung des Drachen haften geblieben.

»Unser Schutzpatron«, hatte die Äbtissin leise erklärt. Mehr hatte sie dazu nicht gesagt, denn sie hatte Jareds gerunzelte Augenbrauen durchaus bemerkt.

Adegunde musterte den Farmer aus ihren klaren dunkelgrünen Augen, die ihn an einen ruhigen Waldsee erinnerten.

»Bitte bedienen Sie sich, das Wasser stammt aus einer unserer Heilquellen.«

Dabei hatte die Äbtissin auf den Krug gedeutet und Jared schenkte sich ein Glas voll ein und kostete. Es schmeckte ein wenig süßlich.

Er hatte zuvor in seinem Gästezimmer, dessen komfortable Ausstattung ihn überrascht hatte – von einem Kloster hätte er anderes erwartet – eine ausgiebige Dusche genommen und in seinem Rucksack sogar noch ein frisches Hemd gefunden.

Schon nach dem Überschreiten der alten Zugbrücke, die in das Innere Haldergronds führte, hatte er das Gefühl gehabt, eine völlig andere Welt zu betreten. Als er dann vor dem Gebäude gestanden hatte, in dem er die Äbtissin treffen sollte, war er aus dem Staunen fast nicht mehr herausgekommen.

Sieht aus wie ein Palast, die haben hier wirklich an nichts gespart, hatte er gedacht.

Adegunde schien über seinen Besuch nicht sonderlich überrascht zu sein und er hatte auch nicht lange warten müssen, um zu ihr vorgelassen zu werden. Sie hatte ihm auf seine Bitte hin absolute Vertraulichkeit zugesichert. Das Wesentliche war bald erzählt und sie hatte ihm gerade bestätigt, von der Existenz des Tals zu wissen. Für sie schien es das Normalste der Welt zu sein.

»Dann sind Sie wahrscheinlich der einzige Mensch in ganz Flaaland, der es kennt«, fuhr Jared, dem es zunehmend unbehaglich wurde, fort. Er fühlte sich von dieser Frau, deren Alter er auch nicht nur annähernd einschätzen konnte, auf einen Prüfstand gestellt, ohne zu wissen, was genau geprüft wurde. Sie sprach langsam, machte zwischen den Sätzen Pausen und beobachtete ihn währenddessen hinter halb geschlossenen Lidern durch ihre langen Wimpern hindurch. Sie schien vollkommen in sich zu ruhen. Diese Frau imponierte ihm, war ihm aber auch ein wenig unheimlich. Er konnte in diesem Moment nachvollziehen, dass sich so viele seltsame Geschichten um sie rankten.

Von dem, was er bisher von Haldergrond gesehen hatte, war er mehr als beeindruckt, denn so gewaltig hatte er es sich nicht vorgestellt. Dagegen war Raitjenland ein kleiner Bauernhof, wie er neidlos feststellen musste, obwohl die Farm mit 250 Hektar bei Weitem die größte in der Provinz Winsget und weit darüber hinaus war.

»Nein, ich bin nicht der einzige Mensch, der von diesem Tal Kenntnis hat. Viele meiner Mitschwestern waren ebenfalls schon dort, die meisten von ihnen leben bedauerlicherweise aber nicht mehr ... vielleicht gibt es auch noch mehr Menschen, die es kennen. Ich weiß das nicht. Früher haben wir dort unsere Heilkräuter gefunden und das Gelübde abgelegt, den Weg als Geheimnis zu hüten.«

Die Äbtissin hielt für einen Moment inne, bevor sie erklärte: »Inzwischen bauen wir die meisten dieser Pflanzen in unseren eigenen Gärten an, obwohl sie sicher nicht ganz die Qualität erreichen. Der Weg in dieses Tal ist sehr lang und beschwerlich ... natürlich nicht für einen Mann wie Sie.« Sie machte erneut eine Pause. »Ich bewundere Ihren Mut, Jared, ich darf Sie doch Jared nennen, Herr Swensson?«

»Ja, das dürfen Sie.«

»Es gibt ... Geschichten über dieses Tal ... sicher haben Sie davon gehört«, fuhr die Äbtissin jetzt mit leiser Stimme fort, wobei sie ihre Augenlider wieder halb geschlossen hatte.

Hat sie überhaupt ihren Mund bewegt?, fragte sich Jared. Und wem gegenüber haben sie wohl dieses Gelübde abgelegt?

Er traute sich nicht, diese Frage laut zu stellen. Stattdessen nickte er schwach und erwiderte: »Ich weiß, meine alte Kinderfrau hat sie meinem Sohn oft genug erzählt und ... und mir wahrscheinlich früher auch. Bisher hielt ich solche Erzählungen für ... na ja, für Ammenmärchen ... inzwischen bin ich mir da allerdings nicht mehr ganz so sicher«, räumte er ein und lächelte verlegen.

»Sie hätten Vrena mehr vertrauen sollen, Jared.«

Hatte er den Namen seiner Kinderfrau erwähnt? Er war sich sicher, dass er das nicht getan hatte. Woher kannte also diese merkwürdige Frau den Namen seiner Amme?

»Es tut mir leid um Ihren Sohn, aber er hätte dieses Tal nicht betreten dürfen, Jared. Vrena hat ihm sicher erzählt, dass ... nun, dass es verboten ist«, sagte Adegunde jetzt, ohne ihm viel Zeit zum Nachdenken zu lassen. War da eine gewisse Strenge in ihrer Stimme aufgetaucht oder hatte er sich die bloß eingebildet? Und konnte es sein, dass ihre Augen für einen Moment, einen sehr kurzen Augenblick nur, rot aufgeleuchtet hatten? Wahrscheinlich nur eine Lichtspiegelung, beruhigte er sich sogleich.

»Hat er deswegen mit seinem Leben bezahlt? Er hat dieses Tal durch Zufall gefunden, so wie ich auch, da bin ich mir sicher. Kann man ihn dafür bestrafen? Wieso bin ich dann nicht getötet worden? Können Sie mir das sagen? Glauben Sie mir, als ich die Leiche meines Sohnes dort oben zwischen den Felsen gefunden hatte, hatte ich mir das sogar für einen Moment gewünscht.«

»Ich fürchte, deswegen musste er sterben, ja ... nein, ich bin mir sicher, dass das der Grund war. Das Tal wurde streng bewacht, seit Hunderten von Jahren. Sie hatten einfach Glück, dass die meisten der Wächter nicht mehr dort sind, Jared.«

Der Farmer beugte sich in seinem Sessel nach vorne.

»Das konnte mein Sohn nicht wissen ... da bin ich mir sicher. Vielleicht hat Vrena ihm früher einmal davon erzählt, aber inzwischen ist mein Sohn erwachsen und …«, der Farmer hielt inne, weil das Bild des toten Vincent vor seinem geistigen Auge aufgetaucht war und sich seine Augen sofort mit Tränen füllten. Sie rannen ihm die Wangen herab. Er nahm ein Taschentuch aus der Jacke und wischte sie ab. Dann lehnte er sich wieder zurück und schnäuzte sich geräuschvoll.

»Verzeihen Sie … aber ich glaube diesen ganzen …«, hielt er inne, denn er wollte die Äbtissin nicht verärgern.

»Sie wollten Unsinn sagen, nicht wahr? Sie können es gerne als Unsinn betrachten, das steht Ihnen frei, Jared. Sie brauchen sich auch Ihrer Tränen nicht zu schämen. Niemand braucht sich dafür zu entschuldigen, dass er weint«, sagte sie jetzt in einem sanften Tonfall. »Männer, die weinen, beweisen Stärke. Unsere Tränen sind die Perlen der Seele.«

Das hatte er bisher anders gesehen. Das letzte Mal, dass er sich erinnern konnte geweint zu haben, war, als er seine geliebte Akira auf Geheiß seines Vaters wieder in die Freiheit hatte fliegen lassen. Er hatte das Adlerweibchen als Jungvogel in einer halsbrecherischen Aktion aus seinem Horst gestohlen, dann aber liebevoll großgezogen. Und da war er viel jünger gewesen. Nicht mehr ein Knabe, aber auch noch kein Mann. Die Narbe, die sich gut sichtbar über einen Teil seiner Stirn zog, zeugte noch immer von diesem waghalsigen Abenteuer.

Hätten die Hunde sich nicht auf die verzweifelt angreifenden Altvögel gestürzt und sie damit vertrieben, hätte es wesentlich schlimmer ausgehen können.

»Aber warum ist uns dann nichts geschehen, wenn dieses Tal so gut bewacht wird, wie Sie behaupten ... ich meine, dem Freund meines Sohnes und mir?«

»Das weiß ich nicht, Jared, ... ich sagte schon, dass Sie vielleicht einfach Glück hatten und viele der Wächter nicht mehr dort sind.«

Die Äbtissin lächelte. Seltsam, aber er hatte für einen Moment den Eindruck gehabt, dass sie es sehr wohl hätte sagen können. Sie war offensichtlich sehr gut informiert.

»Wer, um Gottes willen, hat das getan? Können Sie sich vorstellen, mit welcher Brutalität mein Sohn getötet worden ist? Das war einfach ... unmenschlich!« Er schüttelte verzweifelt den Kopf und ahnte nicht, wie nah er mit dieser Aussage an der Wahrheit war. »Was soll so schlimm daran sein, dass ein unschuldiger junger Mann mit seinem Leben dafür bezahlen muss, nur weil er zufällig – und ich bin mir da absolut sicher, dass es Zufall war – in dieses Tal geraten ist?«

»Nun, ich glaube, dass es irgendeinen Hinweis gegeben hat, dem er hätte entnehmen können, dass es nicht nur verboten, sondern auch sehr gefährlich war weiterzugehen.«

Jared wollte gerade vehement widersprechen, als ihm die Inschrift auf der merkwürdigen Steintafel in der Höhle, in der sein Sohn übernachtet oder zumindest zu Abend gegessen haben musste, in den Sinn kam. Sicher hatte Vincent diese Tafel auch gesehen und dann hatte er natürlich ebenfalls den Gang gleich daneben entdeckt, der ihn schließlich direkt in dieses verfluchte Tal geführt hatte. Dass es verflucht war, davon war Jared inzwischen überzeugt. Das behielt er allerdings für sich. Er schüttelte nur den Kopf.

»Ja, ich habe eine Inschrift in einer der Höhlen gesehen, darauf wurde allerdings vor gar nichts gewarnt. Dort stand irgendetwas von einem Geheimnis, das von einer starken Macht bewacht werden würde. Ich erinnere mich, dass der Text nicht vollständig war. Wissen Sie, auch wir haben als Kinder in den Höhlen der Agillen gespielt und so manchen Schabernack getrieben … auch mit uns ist die Fantasie während unserer Abenteuerspiele mehr als einmal durchgegangen.«

»Nur, dass diese Inschrift weder ein Schabernack noch das Produkt kindlicher Fantasien war«, wurde er unterbrochen.

»Na gut, aber dann frage ich Sie noch einmal, verehrte Äbtissin: Warum ist uns dann nichts geschehen? Wo sind die Wächter hin? Warum sind sie nicht mehr da?«

Er wollte nicht lockerlassen, aber Adegunde antwortete auf seine letzte Frage gar nicht, sondern schaute ihn nur durch fast geschlossene Augenlider hindurch aufmerksam an. Er brauchte auch keine Antwort, denn er glaubte nicht an diese Geschichten von Schätzen, Gnomen und irgendwelchen Wächtern.

»Es war niemand dort!«, beharrte er. »Ich war schließlich ein paar Tage da oben und mir wäre nicht entgangen, wenn in diesem Tal jemand leben würde, das können Sie mir glauben.

Früher, ja sehr viel früher, haben dort Menschen gelebt. Aber jetzt gibt es außer Hühnern, Schafen und wilden Ziegen nichts Besonderes ... wenn man einmal von der unglaublichen Vegetation, den Ruinen und der mächtigen Burg absieht ... ach ja ... und von diesem Museum mit den merkwürdigen Bildern von noch merkwürdigeren Wesen … und dem Segelschiff ... aber das wissen Sie ja sicher auch.« Jared lächelte gequält.

»Hätten Sie Ihrer Amme besser zugehört, wüssten Sie, dass es dort oben mehr gibt, Jared von Raitjenland«, sagte die Äbtissin mit mildem Tadel, ohne auf seine letzten Bemerkungen einzugehen. Es war lange her, dass ihn jemand getadelt hatte.

»Sie meinen die Geschichte mit den Gnomen und ihrem Schatz? Ist das Ihr Ernst? Sind das die Gestalten, die ich auf den Bildern in diesem Museum gesehen habe? In den Märchenbüchern unserer Kinder werden die aber anders dargestellt.

Vrena hat so etwas meinem Sohn mehr als einmal erzählt ... und sie hat ihm damit jedes Mal eine Heidenangst eingejagt. Wissen Sie, wie oft er deswegen nachts zu uns ins Bett gekrochen kam? Am ganzen Körper hat er gezittert! Haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon? Am nächsten Tag noch war er kaum zu irgendetwas zu gebrauchen.«

»Ja, genau diese Geschichten meine ich ...«

»Und diese Gnome bewachen einen sagenhaften Schatz ... das wollen Sie mir jetzt auch erzählen«, unterbrach er die Äbtissin. Es sollte hämisch klingen, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen.

»So ist es wohl«, erwiderte Adegunde, ohne sich von dieser offensichtlichen Unhöflichkeit beeindruckt zu zeigen. »Sie bewachen dort oben etwas, das für sie einen unermesslichen Wert besitzt ... seit sehr langen Zeiten übrigens. Sie und Scotty dürften die ersten Menschen sein, die das Tal ohne Einladung betreten und wieder lebend verlassen haben.«

Da ... da war es wieder, dieses Aufblitzen in ihren Augen, länger diesmal – blutrot – und jetzt war sich Jared zweier Dinge sicher. Es war keine Lichtspiegelung gewesen und Scotty hatte er namentlich nicht erwähnt. Diese Frau wurde ihm immer unheimlicher. Es war merkwürdig, aber wie sie ihm dort so gelassen in dem hohen Stuhl gegenübersaß, war er fast geneigt, ihr diese Geschichten zu glauben.

»Dann bin ich einmal gespannt, wie man verhindern möchte, dass jetzt noch mehr Menschen kommen ... nachdem zwei von uns den Weg kennen, die kein Gelübde abgelegt haben und auch nie eines ablegen werden«, gab er jetzt mit Spott in der Stimme zurück.

»Sind Sie sich da ganz sicher, Jared, dass Sie den Weg wiederfinden?«, fragte Adegunde unbeeindruckt und ruhig mit hochgezogener Augenbraue und bohrendem Blick aus jetzt wieder dunkelgrünen Augen.

»Na klar bin ich das«, wollte er gerade sagen, als ihm im gleichen Moment bewusst wurde, dass er es wirklich nicht könnte. So sehr er auch nachdachte, seine Erinnerung an den Zugang war, auf welche Weise auch immer, gelöscht.

Jesper hatte vor ein paar Tagen die Höhle gefunden, weil er die Reste von Vincents Abendessen gewittert hatte, die dort um die erkaltete Feuerstelle gelegen hatten. Typisch Herr Sohn, hatte der Farmer damals gedacht. Daran, dass er einen steilen Hang hatte erklimmen müssen um sie zu erreichen, erinnerte er sich noch. Auch diese Inschrift auf der steinernen Tafel hatte er, wenn auch nur bruchstückhaft, vor Augen … aber Steilhänge und Höhlen gab es in den Agillen viele. Wer wusste das besser als er. Alles Nachgrübeln half nichts, zumindest im Moment nicht, gerade als ob die letzten Strahlen der Sonne, die eben hinter den Wäldern Haldergronds verschwand, seine Erinnerungen einfach so mir nichts dir nichts mitgenommen hätten. Er konnte es nicht fassen. Er war geradezu berühmt für seinen Orientierungssinn. Einen einmal entdeckten ergiebigen Jagdgrund fand er betrunken im Schlaf wieder, mochte er auch noch so weit von seiner Heimat entfernt sein. Er erschrak.

Der Äbtissin war das nicht entgangen.

»Sie können sich nicht erinnern, nicht wahr?«, wollte sie jetzt von ihm wissen.

»Ja ... na ja ... es scheint zumindest so, als habe mich mein Gedächtnis für einen Moment im Stich gelassen«, gab er widerwillig zu. »Wenn ich später ein wenig zur Ruhe gekommen bin, wird es mir sicher wieder einfallen.« Er wollte sich keine Blöße geben.

»Es ist so, sie werden sich nicht mehr erinnern, das können Sie mir glauben.« Sie sah auf die Uhr. »Bitte entschuldigen Sie mich, Jared, aber meine Pflicht ruft.«

Die Äbtissin erhob sich und reichte dem Farmer, der ebenfalls aufgestanden war, die Hand. Es war ein sanfter Händedruck.

Dabei sagte sie beiläufig: »Sie wissen wahrscheinlich, dass Saskia Lindström hier bei uns ist? Ein wunderbares Mädel ... so begabt. War sie nicht mit ihrem Sohn ... befreundet?« Es lag eine seltsame Betonung in dem letzten Wort.

»Wenn Sie mit ihr sprechen möchten, lasse ich sie rufen. Es wäre doch schade, wenn Sie die Nachricht ...« Sie ließ die Hand des Farmers los, als sie von ihm unterbrochen wurde.

»Vielen Dank, machen Sie sich bitte keine Mühe, ich werde erst einmal in mein Zimmer gehen und nach meinem Hund schauen. Dann werde ich in der Klosterschenke eine Kleinigkeit zu mir nehmen. Ich kenne den Wirt und möchte ihn begrüßen, wenn ich schon mal hier bin. Außerdem habe ich Hunger. Vielleicht ergibt sich ja später am Abend noch die Gelegenheit oder morgen. Es wird Zeit, dass ich nach Hause komme und meine Frau in die Arme nehme. Wir werden viel Kraft brauchen. Ich darf gar nicht daran denken, was passiert, wenn wir die Nachricht den Großeltern überbringen. Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft ... und dafür, dass Sie mir Ihre wertvolle Zeit geschenkt haben.«

»Keine Ursache, Jared, fühlen Sie sich hier bitte wie zu Hause. Und wenn es Ihnen Ihre Zeit erlaubt … ich weiß, dass es auf einer Farm immer viel zu tun gibt … kommen Sie uns mal wieder besuchen und bringen Sie Ihre Frau mit ... vielleicht zu einem unserer Konzertabende? Es würde mich sehr interessieren, was ein Mann mit Ihrer Erfahrung zu unseren landwirtschaftlichen Einrichtungen sagt. Es gibt ja immer etwas zu verbessern, nicht wahr? Ich wünsche Ihnen viel Kraft für all das, was jetzt vor Ihnen liegt.«

Damit verschwand die Äbtissin und er bekam sie auch bis zu seiner Abreise nicht mehr zu Gesicht.

Das Letzte, was Jared wollte, war, Saskia zu begegnen. Sie war damals bei dem Trupp junger Leute gewesen, die mit ihren kläffenden Kötern den Spuren seines Sohnes gefolgt waren, nachdem er dieser komischen Seherin Brigit, einer Freundin Saskias, eine kräftige Beule verpasst hatte. Jared war sich nicht mehr so sicher, ob Vincent zu der Kundschaft dieser Frau gehört hatte, bei der man nicht erkennen konnte, ob sie überhaupt eine Frau war. Wahrscheinlich wäre die Nachricht vom Tod seines Sohnes Wasser auf die Mühlen des Mädchens und dann schon lange vor ihm in der Heimat angekommen. Bei Scotty konnte er sich sicher sein, dass der es nur Elisabeth und seiner Familie erzählt hatte.

Seines Wissens war Vincent zwar mit Saskia Lindström zur Schule gegangen, aber enger befreundet waren die beiden nicht gewesen. Sein Sohn hatte keine feste Freundin. Auf dem Weg in sein Zimmer dachte er darüber nach, wie die Äbtissin annehmen konnte, dass Vincent mit Saskia befreundet gewesen war. Jeder wusste doch, dass sie mit Effel Eltringham liiert gewesen war, und das schon seit langem.

Minuten später lag er auf seinem Bett in dem geschmackvoll eingerichteten Gästezimmer mit der Terrasse, auf die jetzt der eben aufgegangene Mond schien. Er wollte sich nur ein wenig ausruhen und über das gerade geführte Gespräch nachdenken, bevor er in der Schenke zu Abend essen würde, als ihm ein Gedanke kam. Vielleicht hatte Vincent doch heimlich von diesem Mädchen geschwärmt, weil er ... ja gerade, weil sie die Einzige war, über die er nicht in abfälliger Weise gesprochen hatte, jedenfalls nicht, soweit sich Jared erinnern konnte. Er hatte sich im Kreise seiner Freunde über sie auch nie lustig gemacht. Nicht dass der Farmer es gebilligt hätte, dass sein Sohn oder wer auch immer in dieser Weise über Frauen sprach, aber er rechnete das damals zu den Verhaltensweisen, die man einem heranwachsenden Mann, der sich seine Hörner noch abstoßen musste, gerade noch zubilligen konnte.

Inzwischen hatte er erkannt, dass das falsch gewesen war.

Dass Vincent viel zu sehr verwöhnt worden war, und zwar von allen Seiten, war ihm seit Langem klar und er hatte sich mehr als einmal vorgeworfen, sich nicht besser gegen alle Großeltern und in diesem Punkt auch gegen seine Frau durchgesetzt zu haben.

Bruder Jonas freute sich offensichtlich, als Jared die Klosterschenke betrat. Nach einem herzlichen Schulterklopfen und einer lauten Begrüßung: »Was führt denn den Herrn von Raitjenland hierher? Es geschehen ja noch Zeichen und Wunder!«, brachte der Wirt ihn an einen der Tische in der Nähe der Theke und empfahl ihm zunächst das Gericht des Tages. Das Rumpsteak mit Süßkartoffeln und heimischen Pilzen verspeiste der Farmer wenig später mit großem Appetit. Dazu brachte ihm die Kellnerin frisch gezapftes Bier in einem Glaskrug.

Ihm wurde bewusst, dass er seit Tagen keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte. Jesper bekam einen großen Knochen, den er lautstark abnagte. Als Jared mit dem Essen fertig war, setzte sich Bruder Jonas zu ihm an den Tisch. Er hatte Zeit, denn die meisten Gäste würden später kommen. Nachdem sie über den letzten Pferdemarkt in Angwat gefachsimpelt hatten und der Wirt ihm versichert hatte, nicht böse zu sein, weil er ihn damals bei diesem Prachtgaul überboten hatte, erzählte der Farmer nach dem zweiten Krug Bier vom Tod seines Sohnes. Dabei ließ er allerdings die näheren Umstände über das genaue Wo und Wie aus. Er erwähnte nur, dass er ihn in den Bergen gefunden habe und nun hier sei, um sich Rat von der Äbtissin einzuholen.

Bruder Jonas bemerkte sehr wohl, dass der Farmer nicht darüber reden wollte, und so beließ er es dabei, sein Beileid zu bekunden. Er wunderte sich allerdings darüber, dass der Farmer ausgerechnet die Äbtissin von Haldergrond um Hilfe bei der Aufklärung gebeten hatte.

So kam man bald darauf wieder auf Pferde zu sprechen.

Jared müsse, jetzt wo er schon einmal hier war, unbedingt seine Stallungen besichtigen. Nachdem Jared ihm dies zugesichert hatte, trennte man sich unter Schulterklopfen kurz vor Mitternacht.

Bruder Jonas dachte nach. Der Farmer besuchte Haldergrond nicht, weil sein Sohn gestorben war. Der Grund konnte nur der Umstand des Todes sein, also all das, worüber Jared nicht hatte sprechen wollen.

Er hat ihn irgendwo im Gebirge gefunden. Warum hat er nicht gesagt, wo das war? Und warum kommt er dann hierher, anstatt sofort nach Haus zu seiner Frau zu gehen? Was hat die Äbtissin damit zu tun? Was hat er sich von seinem Besuch bei uns bloß erhofft?, waren seine Gedanken. Seine Neugier war entfacht. Er würde in den nächsten Tagen Augen und Ohren noch weiter offen halten als sonst.

In der Nacht schlief Jared von Raitjenland tief und wachte um fünf Uhr auf. Er hatte nicht bemerkt, dass ein Phuka mitten in der Nacht in sein Zimmer geschlichen war, sich neben ihn gesetzt und ihm Dinge eingeflüstert hatte, die er im Wachbewusstsein für unmöglich gehalten hätte. Noch nicht einmal Jesper war aufgewacht.

Bereits vor Sonnenaufgang brach der Farmer mit neu gestärktem Willen auf. Es würde sich alles aufklären. An diesem Morgen hatte er eine Zuversicht gefunden, wie er sie selten in seinem Leben gespürt hatte. Er wusste nun, wonach er suchen musste. Er war sich sicher, auch allen anderen Geheimnissen auf die Spur kommen zu können. Die Stallungen des Bruder Jonas, nach denen ihm im Augenblick nicht der Sinn stand, würden bis zum nächsten Besuch warten müssen, wenn es einen solchen jemals geben sollte. Dieses ganze Haldergrond war ihm suspekt, mehr als jemals zuvor.

Das Erbe von Tench'alin

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