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Kapitel 2

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Jared Swensson hatte die Rauchsäule ebenfalls gesehen. Sie hatte ihn allerdings nicht beunruhigt, denn es kam hin und wieder vor, dass es in dem Berg rumorte, sicherlich drei- bis viermal im Jahr. Von heftigen Ausbrüchen vieler Vulkane, zu denen es vor einigen hundert Jahren nahezu zeitgleich auf der ganzen Welt gekommen war, konnte man in den Chroniken lesen. Die Asche von Flaalands einzigem Vulkan war bis weit über Raitjenland hinaus niedergegangen und die Farm lag immerhin gut vier Tagesmärsche entfernt. Die Fruchtbarkeit des Landes war gewiss auch diesem Ereignis zu verdanken.

Der Himmel soll für viele Wochen verdunkelt gewesen sein, bis ein kräftiger und lang anhaltender Sturm wieder für Klarheit gesorgt hatte. In anderen Regionen der Erde hatten die Menschen die Sonne mehr als ein Jahr lang nicht gesehen.

Danach war die Welt verändert.

Warum sollte der alte Knabe auch gerade jetzt ausbrechen ... obwohl es zu meiner Stimmung passen würde, hatte Jared gedacht.

Das letzte Mal, dass ›Großvater Gork sich ein Pfeifchen angesteckt hatte‹, wie es hier scherzhaft hieß, war vor zwei Jahren gewesen. Die kleine Aschewolke hatte der Wind schnell zerstreut. Mehr war aus dem Vulkan nicht herausgekommen.

Der Farmer hatte damals – es war ebenfalls im Herbst gewesen – mit seinen Jagdfreunden gar nicht weit von Angkar Wat sein Lager aufgeschlagen. Es war eines der seltenen Male gewesen, an denen Vincent, der sich sonst lieber mit seinen Freunden die Zeit vertrieb, mit von der Partie gewesen war. Jared hatte ihn regelrecht beknien müssen mitzukommen und es war letztlich seiner Frau Elisabeth zu verdanken gewesen, dass Vincent sich der Jagdgesellschaft angeschlossen hatte. Sie hatte ihren Sohn zur Seite genommen und ihn fast schon angefleht. »Nun tu deinem Vater doch den Gefallen, mir zuliebe. Du weißt, wie wichtig ihm seine Jagdausflüge sind. Es gibt kaum eine bessere Gelegenheit, bestehende Geschäftsverbindungen zu festigen und neue zu knüpfen. Zeige deinem Vater, dass dir die Farm nicht egal ist. Außerdem wird es dir guttun, mal wieder aus deinen vier Wänden herauszukommen.

Du bist blass wie ein Käse. Ein wenig Farbe würde dir gut stehen.«

Dieser Appell an seine Eitelkeit und ein Kuss auf die Wange hatten schließlich gewirkt. Mit den vier Wänden hatte sie die Wirtshäuser in Winsget und Seringat gemeint, in denen Vincent gewöhnlich viel Zeit mit seinen Freunden verbrachte.

Ein Stubenhocker war er gewiss nicht gewesen, aber für die Geschäftsbeziehungen seines Vaters hatte er sich stets einen Dreck interessiert, wie er selber gerne sagte. Er würde die Farm sowieso einmal vollkommen anders führen, vielleicht sogar verkaufen, hatte er mehr als einmal im Kreise seiner Freunde großmäulig verkündet. Er hatte lustlos seine sieben Sachen gepackt und war mitgekommen, in der Hoffnung, bald wieder zu Hause zu sein.

Damals hatte Jared einen kapitalen Hirsch, von dem noch lange erzählt wurde, mit einem einzigen Blattschuss erlegt. Er erinnerte sich gerade daran, dass sein Sohn nur sehr verhalten applaudiert hatte, während seine Jagdgefährten ihrer Freude über das Jagdglück begeistert Ausdruck verliehen hatten.

Ich hatte eben nie wahrhaben wollen, dass du so ganz anders gestrickt warst, als ich, dachte er wehmütig, und das tut mir jetzt leid. Ich hoffe, deine Mutter wird mir das einmal verzeihen.

Das prächtige Geweih mit seinen vierundzwanzig Enden zierte neben vielen anderen Jagdtrophäen die Eingangshalle des Haupthauses seiner Farm. Der todbringende Bolzen hing, hinter Glas und gerahmt, darunter. Jetzt würde er liebend gerne darauf verzichten, wenn er diesen Sonntagsschuss hätte aufheben können. Lieber hätte er genüsslich dabei zugeschaut, wie das Ungeheuer, das seinen Sohn auf dem Gewissen hatte, langsam verblutet wäre.

Er konnte ja nicht ahnen, dass Nornak Vincent getötet hatte.

Als Wächter des Tales hatte der nur seine Pflicht erfüllt. Er hätte sich ihm sicherlich auch nicht so dargeboten wie der ahnungslose Hirsch. Wahrscheinlich hätte er den Spieß eher umgedreht – und dafür noch nicht einmal eine Armbrust gebraucht.

Jared setzte die Suche nach Vincents Kopf fort. Bei dem Täter konnte es sich seiner Meinung nach nie und nimmer um einen Menschen gehandelt haben. Niemand hatte die Kraft, einem anderen den Kopf abzureißen. Sein Verdacht war deshalb auf einen Bären gefallen, der so etwas mit einem einzigen Prankenhieb hätte getan haben können. Wenn er den Kopf seines Sohnes finden würde, hätte er Gewissheit. Bisher hatte er allerdings noch keine Spuren eines Grizzlys entdecken können und auch nicht die eines anderen Raubtieres. Eines Pumas, Luchses oder Vielfraßes, von denen es in dieser Gegend wahrlich genügend Exemplare gab.

Für die Lachse ist es auch mindestens zwei Wochen zu früh, dachte Jared, als er langsam weiterging.

Auch nach einer weiteren Stunde intensiven Suchens hatte er immer noch keinen Hinweis gefunden. Normalerweise wäre er, wie in jedem Jahr, bald zum Fischen in die Agillen gekommen und hätte dabei wieder die geschickten pelzigen Jäger bewundern können. Der Indrock, der viele Meilen weiter breit und träge dahinfloss und auch seine Farm mit ausreichend Wasser versorgte, hatte hier in diesem Gebirge seinen wilden Ursprung. Die Lachse mussten in kraftraubenden Sprüngen zahlreiche Hindernisse überwinden. Dabei wurden sie von den Bären einfach mit dem Maul aus der Luft gegriffen. Die erfolgreichsten unter ihnen fraßen nur noch die fetten Bauchstücke der Fische und ließen die Reste für Raben, Füchse und andere Aasfresser liegen.

Sein Blick war meist auf den Boden gerichtet. So entging es ihm, dass Jesper stehen geblieben war. Der große Hund, der gerade hinter einem wilde Haken schlagenden Hasen her gewesen war, hatte abrupt gestoppt, seine Schnauze in den Wind gehalten, sich flach auf den Boden gelegt und ein leises, angstvolles Winseln von sich gegeben. Erst als der Farmer mit einigen aufmunternden Worten bei ihm war, erhob er sich vorsichtig und lief mit eingeklemmter Rute bei Fuß. Der Hase war ebenfalls mitten im Lauf um sein Leben stehen geblieben. Auf seinen Hinterkeulen aufgerichtet schaute er sich nach allen Seiten sichernd um, wobei seine Löffel nervös in ständiger Bewegung waren. Dann aber, nach ein paar Sekunden, sprang er sichtlich entspannt weiter, als wenn nichts geschehen wäre.

In der Nähe stieß ein Eichelhäher mehrere durchdringende Warnlaute aus. Ein Signal, dem der Jäger unter anderen Umständen seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

»Brav, Jesper, brav … wir werden den Mörder schon finden, nicht wahr«, lobte Jared seinen Hund. Dann tauchten vor seinem geistigen Auge erneut die schrecklichen Bilder auf und Tränen traten ihm in die Augen. Mit dem Handrücken wischte er sie weg.

»Wir werden ihn seiner gerechten Strafe zuführen, nicht wahr, mein Guter? Wenn wir ihn haben … Gnade ihm Gott!«

Jesper wedelte zaghaft mit dem Schwanz.

»Hey, ein wenig mehr Zuversicht hätte ich schon von dir erwartet«, lächelte Jared müde und tätschelte seinem Hund den Hals. Dann suchte er mit dem Fernglas zum wiederholten Male die Berghänge ab und beobachtete dabei einige Gämsen, die in großen Sprüngen panisch dem Tal zustrebten.

»Vor wem laufen die denn weg? Wollen doch mal schauen«, murmelte er und schaute durch sein Fernglas. Aber er konnte keinen Verfolger ausmachen.

Nachdem Scotty vor zwei Tagen den Heimweg angetreten hatte, hatte Jared sich in dem Tal noch genauer umgeschaut.

Bevor er nach Haldergrond aufbrechen würde, um die Äbtissin um Rat zu fragen – ein Schritt, den er sich vor einer Woche nicht hätte vorstellen können, ohne sich selbst für verrückt zu erklären –, musste er dieses Tal erkunden. Ohne einen brauchbaren Hinweis auf das Schicksal seines Sohnes wollte er diesen Ort nicht verlassen. Das war er seiner Frau Elisabeth schuldig, deren Reaktion auf die Nachricht über den Tod ihres einzigen geliebten Sohnes er sich nicht ausmalen wollte.

Er hatte Vincents bestem Freund einen Brief mitgegeben, in dem er ihr in möglichst schonenden Worten die Nachricht übermittelt hatte. Dabei war ihm klar gewesen, dass es dafür keine schonenden Worte geben konnte. Der Junge würde Elisabeth hoffentlich in Begleitung seiner Mutter, die ebenfalls mit der Familie Swensson befreundet war, diesen schweren Besuch abstatten. Er hatte in dem Brief auch zu erklären versucht, warum er nicht selbst der Überbringer dieser traurigen Botschaft sein konnte. Davon, dass Elisabeth ihn nicht für feige hielt, konnte er allemal ausgehen, denn das hatte er ihr im Laufe ihrer langen Ehe mehr als einmal unter Beweis gestellt. Er wusste, dass sie ihn in seinem Verlangen verstehen würde, die Umstände dieser unfassbaren Tragödie aufklären zu wollen.

Er hatte sein Zelt unweit des Sees in der Nähe eines Walnussbaumes aufgeschlagen. In der ersten Nacht hatte er in den kurzen Phasen des Schlafes noch wirr geträumt. Inzwischen hatte sich die Ruhe des Tales auf ihn übertragen. Für Jesper war Angkar Wat ein wahres Paradies. Ständig jagte er Kaninchen und Hasen hinterher oder scheuchte gackernde Hühner auf, die zwischen den Ruinen nach Futter suchten. Besondere Freude bereitete es ihm, Schafe zu erschrecken und auseinanderzutreiben.

Jared, der ihm das sonst nicht erlaubt hätte, hatte ihn gewähren lassen.

Er hatte zum zweiten Mal die Brigg durchsucht, die den Emurks als Schulschiff gedient hatte. Für die war das ein Segen gewesen, der sich zwar erst nach 300 Jahren ihrer Verbannung als solcher herausgestellt hatte, aber von der Weisheit der Alten dieses merkwürdigen Volkes Zeugnis gab. Hier hatten einerseits die Kinder lesen und schreiben gelernt und andererseits hatten sich die älteren männlichen Emurks das gesamte theoretische Wissen über die Seefahrt angeeignet.

Und davon hatten sie wahrhaft profitieren können, als sie vor Kurzem die Erlaubnis bekommen hatten, mit der restaurierten Flotte ihrer Vorfahren in die Heimat zurückzukehren.

Während Jared das Innere des Schiffes in Augenschein genommen hatte, war Jesper auf einen kurzen Befehl hin draußen geblieben. Er würde jeden unliebsamen Besucher sofort melden. Sowohl das Schiff als auch das Gebäude mit der gepflegten Rasenfläche mitten im Gebirge zeugten von Sachverstand, enormer Baukunst und Liebe zum Detail und – dieser Gedanke war ihm schon einmal gekommen, als er mit Scotty hier gewesen war – einer großen Begeisterung für die Seefahrt.

Auf die Galionsfigur des dickbauchigen Seglers hatte sich Jared allerdings keinen Reim machen können. Da hat aber jemand seinen kühnsten Fantasien freien Lauf gelassen, hatte er gedacht, nachdem er den Bug mit der geschnitzten Gestalt von allen Seiten genau betrachtet hatte. Er konnte nicht ahnen, dass er hier ein Abbild des Mörders seines Sohnes vor Augen hatte.

Vor Kurzem noch war das sicherlich 100 Schritt lange und 50 Schritt breite eingeschossige Holzhaus mit den kunstvoll geschnitzten Säulen, die das mit Bambus gedeckte Vordach trugen, die vorübergehende Bleibe der wilden Malmots gewesen.

Als diese sich mit den anderen Delegationen zum Rat der Welten zusammengefunden hatten, feierten sie hier ihre wilden Feste, was zu mancherlei Beschwerden geführt hatte. Die Krulls hatten aber jedes Mal mit Diplomatie die Wogen glätten können. Nachdem alle Teilnehmer die Heimreise angetreten hatten, waren sicherlich dreißig Gnome damit beschäftigt gewesen, in dem Gebäude wieder für Ordnung zu sorgen.

Jared hatte sich Zugang durch einen Seitenflügel verschafft, dessen Tür nur mit einem Vorhängeschloss gesichert gewesen war.

»Der Zweck heiligt die Mittel«, hatte er gemurmelt, als er es mit seinem Jagdmesser kurzerhand aufgebrochen hatte.

Sieht aus wie eine Schule, dachte er nun, als er das Haus Raum für Raum durchschritt. Hier muss vor Kurzem gründlich sauber gemacht worden sein. Sehr merkwürdig das alles hier. Kein Staub auf den Möbeln, kein Schmutz auf dem Boden … genau wie beim Schiff.

»Jesper, was hältst du davon?«, fragte er seinen Hund, der überall herumschnüffelte und ab und zu ein leises Knurren aus seiner breiten Brust von sich gab. In einem der Räume hingen exakte Zeichnungen von Waffen, die der Farmer aus Abenteuerbüchern kannte. Als Junge hatte er diese geradezu verschlungen. Piratengeschichten hatten es ihm neben Jagdliteratur besonders angetan gehabt. Die Art der Waffen, die die Seeräuber in seinen Büchern benutzt hatten, waren hier sehr detailgetreu dargestellt.

»Schau, Jesper«, rief er begeistert aus, »hier sieht es aus wie in einem Museum … sogar Wikingerwaffen … Streitäxte, Schwerter und Speere … und hier Waffen aus dem Mittelalter, Bootshaken und Messer.«

Für einen Moment blieb er völlig in der Betrachtung der zahlreichen Abbildungen versunken und sprach mit seinem Hund, als würde das diesen in irgendeiner Weise interessieren.

»Ha, und hier«, deutete er auf ein weiteres großes Bild, »ich glaube, seit dem siebzehnten Jahrhundert haben sie die benutzt … Pistolen und Musketen. Ihre Schiffe waren sogar mit Kanonen ausgestattet! Hey, hey, hey, was soll das denn sein?«

Er war staunend mit offenem Mund vor der nächsten Darstellung stehen geblieben und betrachtete die skurrilen Gestalten, die dort allem Anschein nach den Gebrauch typischer Piratenwaffen wie Entersäbel oder kurzschneidige Schwerter mit ihren extrem scharfen Schneiden demonstrierten. Ein nächstes Bild zeigte einige dieser merkwürdigen Wesen, wie sie sich mit Entermessern zwischen den Zähnen und Enterhaken an der Bordwand eines größeren Schiffes festkrallten und daran hochkletterten, um die Besatzung im Nahkampf anzugreifen.

Andere schossen mit Musketen, Pistolen oder Büchsen und richteten ein Blutbad an, dessen Darstellung ebenfalls sehr detailverliebt ausgestaltet worden war. Die Opfer waren in diesem Fall Menschen, die dem Maler ebenfalls sehr gut gelungen waren. Jared war ins Grübeln gekommen.

Alles ist sehr detailliert und kunstvoll dargestellt, dann muss es diese Kreaturen doch auch gegeben haben. Dann wäre die Galionsfigur ebenfalls echt. Ich habe aber noch nie von solchen Geschöpfen gehört oder gelesen.

»Komm, Jesper«, meinte er schließlich, »wir machen uns wieder auf die Suche, sind ja nicht hier, um ein Museum zu besichtigen … bin gespannt, ob die Äbtissin eine Erklärung für das alles hat.«

Die armseligen Verschläge, die er zuvor in einem kleinen Seitental entdeckt hatte, hatte er für die Ställe der Ziegen und Schafe gehalten, die überall im Tal und an den Hängen weideten.

Er hatte sich gefragt, wo die Hirten waren, die von all dem hier lebten. Wenn ihm jemand erzählt hätte, dass dies die Behausungen der Schüler einer Schule gewesen waren, die er gerade besichtigt hatte, und dass sie dort nahezu dreihundert Jahre ihrer Verbannung verbracht hatten, hätte er es sicherlich nicht geglaubt.

In den zerfallenen Steinhäusern, die über das ganze Tal zerstreut waren, konnte Jared eine gewisse Ordnung erkennen, als er bemerkte, dass es früher zwischen ihnen befestigte Wege und sogar Gärten gegeben haben musste.

Fasziniert besichtigte er nun die Überreste der Burg, die sich an die steil aufragende Felswand zu schmiegen schienen. Er hatte sie gleich am ersten Tag seiner Ankunft aus der Ferne bestaunt. Aus der Nähe sah sie noch imposanter aus.

»Eine mächtige Burg haben sie errichtet«, murmelte er, »die müssen große Angst gehabt haben ... möchte zu gerne wissen, vor wem.«

In dem über und über mit Efeu und Klematis berankten Burghof entdeckte er schließlich die Reste einer Feuerstelle.

Laut gackernd suchten die Hühner, die hier nach Futter gesucht hatten, das Weite, als sie den Hund bemerkten, der sich allerdings nicht für sie interessierte.

»Aha, hier haben wir ja etwas«, murmelte Jared, »vor gar nicht langer Zeit müssen Menschen hier gewesen sein ... jedenfalls war es in diesem Jahr … und hier haben sie kampiert, sie hatten sogar ein Zelt.«

Weitere Spuren fand er allerdings nicht. Was er nicht wissen konnte war, dass er auf den Ort gestoßen war, an dem sich Nikita und Effel nach vielen Leben wiedergetroffen hatten.

Er hatte sich mehr als einmal gefragt, wieso ihm, der sich in diesem Gebirge auskannte wie kaum ein anderer, dieser Ort nicht bekannt war. Und ebenso oft hatte er seiner alten Kinderfrau Vrena, die ihm vor Kurzem noch in einem Albtraum – der nun im Wesentlichen schreckliche Realität geworden war – erschienen war, Abbitte geleistet. Vrena hatte seinem Sohn, als dieser noch klein gewesen war, mehr als einmal von einem geheimnisvollen Tal in den Agillen erzählt. Er hatte sich nicht erinnern können, ob sie ihm, als sie noch seine eigene Kinderfrau gewesen war, die gleichen Geschichten erzählt hatte.

Wenn ja, so war er bestimmt nicht so empfänglich dafür gewesen wie sein Sohn, der in mancher Nacht vor Angst schlotternd in das elterliche Schlafzimmer geschlichen gekommen war, um den Rest der Nacht geborgen zwischen ihm und seiner Frau Elisabeth zu verbringen. Dort hatte er dann in unruhigen Träumen von Ungeheuern, Gnomen, irgendwelchen Schätzen, die bewacht würden, und anderen absonderlichen Phänomenen fantasiert.

Von den Gnomen, die laut Vrena hier einen Schatz bewachen sollten, hatte er allerdings noch keinen zu Gesicht bekommen und er fand es trotz aller Merkwürdigkeiten auch immer noch sehr unwahrscheinlich, dass dies noch geschehen würde.

Als er die Burg näher in Augenschein nahm, wobei er sehr vorsichtig vorging, fand er die Überreste der Treppe, die in die unteren Gewölbe führte. Dort betrat er einen Raum, in dem neben einer massiven geöffneten Eichentruhe ein schweres eisernes Schloss lag. Er hob es auf und betrachtete es im Schein seiner Lampe näher. Dabei stellte er fest, dass es erst vor Kurzem gewaltsam aufgebrochen worden sein musste, da die Bruchstelle im Gegensatz zum Rest des Schlosses keinerlei Rost aufwies.

»Da war aber jemand sehr kräftig«, flüsterte er, »das war mit Sicherheit kein Bär. Was ist hier vor sich gegangen? Zuerst diese blitzsaubere Schule und dieses Museum oder was auch immer … dann das hier.«

Er konnte nicht wissen, dass er gerade vor der Fundstelle der Myon-Pläne stand, die sich inzwischen in der Neuen Welt befanden.

Hätte er durch den dunklen Gang weitergehen können, der einmal als Fluchtweg gedacht gewesen war, wäre er unweigerlich zu dem großen Tor gelangt, durch das Nikita und Effel die Höhlen von Tench'alin betreten hatten. Doch ein massiver Felsbrocken, der dorthin bewegt worden war, versperrte nun den Zugang.

Als er später sein Zelt abbaute, stand für ihn endgültig fest, dass er sich nach Haldergrond aufmachen würde, um dort die sagenumwobene Äbtissin um Rat zu fragen. Für die Aufklärung des Verbrechens an seinem Sohn würde er auch über diesen Schatten springen.

Zum vorläufigen Abschied stieg Jared noch einmal zum Grab empor. Jesper folgte ihm mit hängenden Ohren. Am Grab kniete er nieder. »Ich finde deinen Mörder, Junge, das verspreche ich dir, und ich werde auch das Geheimnis dieses Tales lüften. Ich werde denjenigen finden, der dir das angetan hat.«

Er hatte die Worte leise gesprochen. Tränen rollten ihm die Wangen hinunter und verfingen sich in seinem Bart. Sein Weinen war diesmal ohne den lauten Schmerz, den er sich noch vor ein paar Tagen aus der Seele geschrien hatte. Jesper schaute ihn aus traurigen Augen an, doch die Banshee, die ihn aufmerksam beobachtete, sah er nicht.

Dann nahm er seinen Rucksack auf, rief seinen Hund bei Fuß und verließ das Tal auf dem gleichen Weg, auf dem er es betreten hatte.

»Es würde mich sehr interessieren, ob er etwas von Adegunde erfährt«, sagte Elliot zu Muchtna, nachdem Jared das Tal verlassen hatte. Die beiden Krulls hatten den Farmer während seines Aufenthaltes in Angkar Wat nicht einen Moment aus den Augen gelassen.

»Nun, ich denke mal, dass er so einiges erfährt«, antwortete sie, »aber kaum etwas davon wird er ihr glauben … hihi … ich wäre wahnsinnig gerne bei diesem Treffen dabei. Da prallen Welten aufeinander. Mir tut er aber auch ein wenig leid. Erst das Unglück mit seinem Sohn und jetzt gerät er hier vollkommen unschuldig in etwas hinein … ich bin nur froh, dass wir den Kopf seines Sohnes schon beerdigt hatten. Dieser Anblick wäre selbst für einen Mann wie Jared zu viel gewesen. Ich verstehe auch nicht, warum er dem Freund seines Sohnes das erzählt hat ... musste das sein?«

»Sicher nicht, aber der wollte es ja beim Abschied noch unbedingt wissen. Was die Äbtissin betrifft ... nun, die wird ihren Spaß haben.«

»Da gebe ich dir recht. Ich wäre wirklich gerne dabei … aber leider werden wir hier gebraucht … ich habe da so eine Ahnung, mein Lieber.«

»Wenn du das sagst«, seufzte Elliot, »die Menschen werden wohl nie Ruhe geben.«

***

Das Erbe von Tench'alin

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