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Kapitel 3

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Kaum war Scotty aus den Agillen zurückgekehrt – er hatte die Strecke noch nie so schnell bewältigt –, war er von seinem Vater, dem Tuchhändler Harie Valeren, ins Gebet genommen worden. Da er das Amen nicht abwarten wollte, entschied er sich, gleich mit der Sprache herauszurücken, und berichtete von seiner abenteuerlichen Suche nach Vincent. Er ließ nichts aus. Nicht das verborgene Tal, nicht, dass er fast von Jared umgebracht worden wäre, und auch nicht die entsetzliche Art und Weise, wie sein bester Freund ums Leben gekommen war.

»Was? Vincent ist tot? Er wurde ... ermordet?«, hatte sein Vater sichtlich erschüttert gefragt. »Und Jared hat ihn gefunden? Mein Gott, das ist ja furchtbar! Wie hat er es verkraftet? Weiß es Elisabeth schon?«

Sein Gesicht war kreidebleich geworden und er hatte sich auf den nächsten Stuhl fallen lassen.

»Nein, noch weiß sie es nicht. Ich bin erst einmal nach Hause gekommen, um euch zu beruhigen und … na ja, um Mutter zu fragen, ob sie mich begleiten möchte.«

»Begleiten? Wohin willst du denn jetzt schon wieder? Davon wird sie nicht gerade begeistert sein.«

»Nach Raitjenland. Jared hat mir einen Brief an Elisabeth mitgegeben und ich möchte nicht mit ihr alleine sein, wenn sie ihn liest. Mein Bedarf an ... ach lassen wir das.«

»Kann er ihr das nicht persönlich sagen? Muss er einen Brief schreiben? Also … so kenne ich ihn gar nicht.«

»Nein, er kann es ihr nicht sagen, weil er gar nicht mitgekommen ist. Normalerweise hätte er das gewiss selbst getan ... aber was wir in den letzten Tagen erlebt haben, war alles andere als normal, Vater. Da gibt es jede Menge Ungereimtheiten, einmal abgesehen von der Tatsache, dass bisher noch kein Mensch etwas von diesem Tal je erzählt hat. Findest du das nicht auch merkwürdig, dass es dort oben in den Bergen einen Ort gibt, den noch niemand von uns entdeckt hat? Wo wir doch schon tausendmal dort gewesen sind? Es müssen früher sogar ziemlich viele Leute da gelebt haben. Sie hatten eine kleine Siedlung errichtet … sogar mit einer Burg!«

Er erwartete darauf keine Antwort.

»Das ist in der Tat unglaublich, Junge. Aber jetzt iss und trink erst mal was, du siehst ja aus ... geh in die Küche und lass dir was von Anna herrichten. Wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas Vernünftiges zu dir genommen?«

»Vorgestern, in Reegas und von dort hatte ich mir Proviant mitgenommen. Ich bin nicht hungrig, Vater.« Dass er am Morgen nur ein sehr karges Frühstück gehabt hatte, verschwieg er.

Der Tuchhändler hatte den Ausführungen seines Sohnes nicht ganz folgen können. Er war nur froh, dass er wohlbehalten zurück war. Aber der war mit seinen Ausführungen noch nicht fertig und fuhr aufgeregt fort: »Und jetzt kommt noch etwas sehr Merkwürdiges – und das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus. Dort oben gibt es ein Schiff! Kannst du dir das vorstellen? Ein voll ausgerüstetes Segelschiff, ich glaube es ist eine Brigg ... mitten in den Bergen! Ist das nicht absurd? Sie muss allerdings neueren Datums sein, viel jünger als die Ruinen.

Sie ist in einem sehr guten Zustand ... man könnte sofort mit ihr lossegeln ... also wenn sie in einem Hafen liegen würde. Aber das war sicher noch lange nicht alles, das Tal ist groß. Jared wollte noch dort bleiben, um genauere Untersuchungen anzustellen. Er meinte, dass jeder Mörder einen Hinweis hinterlassen würde, und den wolle er finden. Danach hat er vor, nach Haldergrond zu gehen, um die Äbtissin um Rat zu fragen.«

»Adegunde? Er will wirklich Adegunde um Rat fragen, die Äbtissin von Haldergrond? Bist du dir da sicher? Das hat er tatsächlich vor?«

Hatten die Gesichtszüge des Tuchhändlers bis eben noch Besorgnis gezeigt, so schaute er jetzt erstaunt. Die Sache mit dem Schiff, das es dort in den Bergen geben sollte – und wenn es nicht sein Sohn gewesen wäre, der ihm das erzählt hatte, hätte er es nicht geglaubt –, war schon mehr als seltsam, aber dass Jared sich jetzt auch noch nach Haldergrond begeben wollte, übertraf selbst das noch.

Der Inhaber der größten Tuchweberei des Landes kannte den Farmer sehr gut. Er war sein Jagdfreund und saß seit Langem an seiner Seite im Gemeinderat von Winsget. Dass dieser Mann jetzt im Begriff war, eine Frau um Rat zu fragen, die zwar zugegebenermaßen überall einen hervorragenden Ruf genoss, von dem bodenständigen Jared allerdings mehr als einmal belächelt worden war, war schwer zu glauben. Des Öfteren hatte der in vertrauter Runde gesagt, wenn sie nach einer anstrengenden Ratssitzung noch im Dorfkrug oder in der Alten Mühle beisammensaßen, dass er nichts von diesen Dingen halte. Damit hatte er all das gemeint, wofür Haldergrond berühmt war, außer der Musik natürlich. Da musste also jetzt entweder über Nacht eine enorme Wandlung in Jared vorgegangen sein oder die Verzweiflung hatte ihn zu diesem Schritt veranlasst. Harie glaubte an das Zweite.

»Ja, das waren seine Worte«, ergänzte Scotty mit Nachdruck, »bevor wir uns getrennt haben. Ich hatte ihm noch angeboten, ihn zu begleiten, auch weil ich mir Haldergrond gerne einmal angeschaut hätte, doch er meinte, ich solle meinen Hintern nach Hause bewegen, weil ihr euch bestimmt Sorgen machen würdet. Na ja ... er hatte ja recht ... und irgendjemand muss schließlich die Nachricht überbringen. Mir wird ganz schlecht, wenn ich nur daran denke.«

»Und ob er recht hatte. Deine Mutter hat keine Nacht geschlafen, aber das wirst du wohl erst verstehen, wenn du selbst einmal Kinder hast«, meinte sein Vater mit nur leichtem Vorwurf in der Stimme, denn seine Freude, dass Scotty wohlbehalten zurück war, war größer. Dass er sich ebensolche Sorgen gemacht hatte, verschwieg er.

»Selbstverständlich komme ich mit«, hatte Greta sofort zugestimmt. Darüber musste sie nicht nachdenken. Sie hatte sehr geweint, nachdem sie alles erfahren hatte. Sie hatte Vincent, den sie von Kindesbeinen an gekannt hatte, gemocht.

Dessen betont lässige und arrogante Fassade, die er sich im Laufe der Jahre zugelegt hatte, hatte sie durchschaut. Schließlich war der Farmersohn im Hause Valeren ein- und ausgegangen, hatte sogar hin und wieder hier übernachtet, wenn es für den weiten Weg hinaus zur Farm wieder einmal zu spät geworden war.

Sie hatte immer die Meinung vertreten, dass es nicht gut für Vincent gewesen war, dermaßen verwöhnt zu werden. Diesen Vorwurf hatte sie mehr als einmal im Stillen gemacht, insbesondere in Richtung beider Großelternpaare, die – und das wusste hier jeder – eine Art skurrilen Wettstreit im Verwöhnen des einzigen Enkels ausgetragen hatten.

Als Vincent älter geworden war und dabei immer unliebsamere Seiten von ihm zum Vorschein gekommen waren, war sie nicht glücklich über Scottys Umgang gewesen. Sie hatte sich aber nicht eingemischt, weil sie wusste, dass sie damit eher das Gegenteil erreichen würde. Dazu kannte sie ihren Sohn zu gut. Als die beiden erwachsen waren, wollte und konnte sie ihm den Umgang mit Vincent nicht mehr verbieten.

Nicht zuletzt auch, weil sie mitbekam, dass Scotty sich nicht verbiegen ließ, sondern eher er einen mäßigenden Einfluss auf Vincent zu nehmen schien.

Sie erreichten die Farm nach einer halben Stunde zügiger Fahrt. Greta Valeren war eine Frau der Tat und so war der Zweispänner schnell abfahrbereit gewesen. Als sie von der Hauptstraße abgebogen und durch das große Tor unter dem Schild mit der Aufschrift Raitjenland hindurchgefahren waren, bat sie ihren Sohn, er möge die Pferde die lange, schnurgerade, von alten Ulmen gesäumte Zufahrt zum Haupthaus im Schritt gehen lassen. Ein Beobachter sollte sich nicht jetzt schon unruhige Gedanken machen müssen und Scotty war das nur recht, denn auf das, was jetzt zwangsläufig kommen musste, war er wirklich nicht erpicht. Niemand hatte sie jedoch bemerkt, weil um diese Zeit alle auf den Feldern bei der Ernte oder in den Ställen bei der Arbeit waren. Die Hunde schlugen nicht an, weil sie sowohl die Kutsche als auch deren Insassen kannten.

Es war Scotty noch nie so schwergefallen, die drei Stufen bis zum Eingang emporzusteigen. Als er vor der mächtigen Eingangstür stand und an dem Seil ziehen sollte, das im Inneren des Hauses eine Glocke ertönen lassen würde, zögerte er, als ob die Quelle seiner Entschlossenheit mit einem Mal versiegt sei. Er musste ein paarmal läuten, bevor von drinnen schlurfende Schritte zu hören waren. Inga, die alte Köchin, hatte endlich die schwere, mit Messing beschlagene Tür geöffnet.

»Oh, Frau Valeren, guten Tag, Scotty, welch eine Überraschung«, begrüßte sie die Besucher freundlich, »entschuldigt, dass es so lange gedauert hat, aber ihr wisst ja … meine Knie.«

Die Freude über diesen Besuch war ihr deutlich anzusehen.

»Guten Morgen, Inga«, begrüßte Scotty die Frau, deren leckeres Essen er schon so oft hatte genießen dürfen.

Plötzlich umwölkten sich Ingas Augen. Eine dunkle Ahnung schlich sich in ihr Herz wie eine Schlange in einen Kaninchenbau. Sie kannte Scotty zu gut, als dass er etwas vor ihr verbergen konnte, und dass seine Mutter mitgekommen war – gewöhnlich stand sie um diese Zeit in ihrem Geschäft und beriet Kunden –, konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten.

Eingeladen waren die Valerens jedenfalls nicht, das hätte sie gewusst und wäre am Herd gestanden, um für sie und Elisabeth das Mittagessen zuzubereiten.

»Ist etwas passiert? Ist was mit unserem Jungen passiert? Sag schon, Scotty!«

Dann begann sie zu weinen.

»Ja, Inga, wir müssen mit Elisabeth sprechen. Kannst du sie bitte holen? Sie ist doch zu Hause?«

»Sie ist hinten im Garten … ist Vincent verunglückt? Bitte sag es mir! Wo ist Jared?« Ihre Stimme klang flehend und weinerlich zugleich.

»Es gab einen Unfall, ich möchte es aber zuerst Elisabeth sagen … bitte verstehe das.«

»Natürlich, selbstverständlich … kommt bitte herein. Ihr kennt ja den Weg, macht es euch im Wohnzimmer bequem. Ich hole sie ... oh mein Gott.«

Sie humpelte durch die geräumige Eingangshalle davon.

Scotty blickte ihr nach, bis sie durch die niedrige Holztür unter dem präparierten Kopf eines Steinbocks mit mächtigem Gehörn verschwunden war. Dahinter lag, wie Scotty wusste, ein Gang, der zu den Gewächshäusern und Gärten führte.

Dann folgte er seiner Mutter in den Wohnraum der Farm.

»Ich hatte es geahnt«, schluchzte Elisabeth Swensson, »ich hatte es im Gefühl, als der Junge neulich so Hals über Kopf losgerannt ist ... ich habe es irgendwie gespürt! Eine Mutter spürt so etwas.«

In einer Hand hielt sie den Brief ihres Mannes, auf dem die Spuren ihrer Tränen zu sehen waren, die sich auf dem weißen Papier wie dunkle, Unheil verkündende Sterne ausnahmen.

Mit der freien Hand hielt sie Gretas Hand. Inga saß weinend daneben. Scotty wurde fast von dem breiten Ledersessel verschluckt, in dem er saß, und er hätte in diesem Moment auch nichts dagegen gehabt, wäre der Fall eingetreten.

Gegen das, was sich gerade in seinem Inneren ankündigte, war er machtlos. Er hasste es, vor Frauen zu weinen, auch wenn die eine seine Mutter und die anderen beiden wirkliche Freundinnen waren, die ihn von Kindesbeinen an kannten. Es war sehr selten geschehen, dass er weinte, zumindest soweit er sich erinnern konnte. Die Zeit, in der er in Windeln gelegen hatte, zählte nicht. Einmal war er als kleiner Junge – er mochte fünf gewesen sein – um ein Haar in einen der Siedekessel im väterlichen Betrieb gefallen, in denen die Larven der Seidenraupen in ihren Kokons abgetötet wurden. So gewann man die kostbaren Fäden, die die Grundlage für das blühende Geschäft der Valerens bildeten.

Er war beim Ballspielen ausgerutscht, obwohl ihm mehr als einmal streng verboten worden war, sich in der Nähe der riesigen, fast ganz in die Erde eingelassenen Kessel aufzuhalten, unter denen die mächtigen Feuer loderten. In buchstäblich letzter Sekunde war er von einer resoluten Arbeiterin am Kragen gepackt und damit vor dem sicheren Tod bewahrt worden. Damals hatte er geheult, weil er sich so erschrocken hatte. Ihm hatte es das Leben gerettet und der Arbeiterin hatte ihr beherztes Eingreifen eine lebenslange Rente beschert.

Deutlich, und zwar sehr deutlich, erinnerte er sich an ein Ereignis, das ihm als Zehnjähriger auf dem Schulhof widerfahren war. Ein zwei Jahre älterer Mitschüler, fast zwei Köpfe größer und als Raufbold bekannt, hatte ihm, begleitet von einer obszönen Geste, mehrere Male »Seidenraupe, Seidenraupe, Seidenraupe« nachgerufen. Und das nicht zum ersten Mal. An diesem Tag aber hatte eine innere Stimme, die Scotty schon kannte, laut und unmissverständlich gefordert, dass es jetzt mit den Demütigungen ein Ende haben müsse. Er solle sich gefälligst wehren und hier und jetzt ein Exempel für alle Zeiten statuieren. Er hatte hinterher nicht mehr sagen können, woher er den Mut genommen hatte, der Stimme zu folgen, und im Nachhinein hatte er sie auch noch lange Zeit verflucht.

Jedenfalls war er mit ein paar schnellen Schritten auf den feixenden Quälgeist zugetreten gewesen, der mit in die Seite gestemmten Armen breitbeinig und siegessicher grinsend dagestanden hatte, und hatte ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Sein ganzes Gewicht hatte er in diesen Schlag gelegt. Der Ältere mochte zwar nicht damit gerechnet gehabt haben, doch zu Scottys Leidweisen war dessen Reaktionszeit nur sehr kurz gewesen und so hatte er sich mit einem Elefantengewicht auf seiner Brust auf dem Boden liegend wiedergefunden.

Und dieser Elefant hatte auch noch mit beiden Fäusten auf ihn eingeschlagen. Hätte Vincent damals nicht beherzt eingegriffen, indem er den anderen am Kragen gepackt und zurückgezogen hatte, wäre alles sicher viel schlimmer ausgegangen als ohnehin schon. Peinlich für Scotty aber war gewesen, dass er Tränen vergossen hatte, nachdem er sich hochgerappelt hatte – was natürlich alle Umstehenden mitbekommen hatten. Dass auch Mädchen darunter waren, hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht, und zwar weitaus schlimmer als die Schmerzen, oder das blaue Auge. Die äußerlichen Blessuren waren nach zwei Wochen vergangen gewesen, seine Schmach aber erwies sich als zäh und langlebig.

Jetzt, in diesem breiten Sessel, der ihm den Gefallen des Verschluckens nicht tat, wurde ihm bewusst, dass er selbst noch gar keine Zeit gefunden hatte, den Tod seines Freundes zu betrauern. In dem geheimnisvollen Tal hatte er Jared getröstet, oder es zumindest versucht, und auf dem Rückweg hatte er über die Erlebnisse und Rätsel der letzten beiden Tage nachgegrübelt. Normalerweise hatte er beim Wandern die besten Eingebungen. Aber obwohl sein Gehirn gearbeitet hatte wie ein Welpe, der mit spitzen Zähnen einen Lederschuh bearbeitet, war in diesem Fall der Erfolg ausgeblieben. Er wollte sich gegen das Schluchzen wehren, das aus ihm herauswollte, wollte es in seiner Brust einschließen. Es gelang ihm nicht. Hier, im Wohnraum der Farm, der noch größer war als der im Hause Valeren, war seine Mutter diejenige, die Trost spendete, und daher konnte er es sich jetzt erlauben, seinen Tränen freien Lauf zu lassen.

Scheiß drauf, dachte er noch und erinnerte sich im selben Moment wehmütig daran, dass dies einer der Lieblingssprüche Vincents gewesen war, was ihm durch seine Tränen hindurch ein gequältes Lächeln hervorlockte. Gefolgt wurde diese Erinnerung von dem Gedanken, was wohl jetzt aus der Clique werden würde. Die Unternehmungen würden zwar ruhiger verlaufen, aber auch wesentlich langweiliger, jetzt wo der Tonangeber mit seinen verrückten Ideen nicht mehr dabei sein konnte – sofern sie überhaupt noch stattfinden würden.

Im gleichen Moment schämte er sich auch schon für diesen Gedanken, weil er ihm so überaus egoistisch vorkam.

Elisabeth schaute zu ihm herüber und er sah durch den Schleier seiner Tränen, dass sie lächelte. Er erkannte, dass ihr Lächeln ein dankbares Lächeln war. Es sagte ihm so etwas wie: Danke, dass du sein Freund warst. Jedenfalls hoffte er das. Er hoffte auch, dass dies so bliebe und nicht jeden Moment umschlagen würde in ein: Warum hast du nicht besser auf ihn aufgepasst, Scotty Valeren? Bist du nicht immer der Vernünftigere von euch beiden gewesen? Aber das passierte nicht, jedenfalls nicht an diesem Tag.

»Er war unser Ein und Alles«, hörte er gerade Vincents Mutter schluchzen, »du weißt das.«

Das war an seine Mutter gerichtet, die mit einem mitfühlenden Kopfnicken und sanfter Stimme antwortete: »Ja, ich weiß das, wir alle wissen das.«

Dann reichte sie ihrer Freundin ein neues Taschentuch.

Elisabeth weinte und schnäuzte gleichzeitig hinein. So ging das einige Minuten lang, in denen man nur leises Weinen und das unaufhaltsame Ticken der großen Standuhr hören konnte, welche Scotty noch nie so laut vorgekommen war und von der er sich wünschte, ihre Zeiger mögen sich an diesem Tage schneller drehen.

»Was soll ich bloß ohne ihn machen? Wie soll das alles hier weitergehen ... vor allem, wenn wir alt sind?«, fragte Elisabeth dann etwas gefasster.

Die Frage war an niemand Bestimmten gerichtet, wie Scotty erleichtert bemerkte. Er hätte sie jedenfalls nicht beantworten können und er war sich auch nicht sicher, ob seine Mutter, die sonst nicht so leicht um eine Antwort verlegen war, diesmal eine einigermaßen zufriedenstellende gehabt hätte. Er hätte sich auch eher die Zunge abgebissen, als der trauernden Mutter jetzt von den Zukunftsplänen ihres Sohnes zu erzählen, die dieser mehr als einmal im Kreise seiner Freunde geäußert hatte. Abgenommen hatte er diese Vincent sowieso nicht, da immer ein paar Krüge Bier oder Wein mit im Spiel gewesen waren.

Jetzt schaute sie ihn aus tränennassen Augen an und diesmal lag Besorgnis in ihrer Stimme: »Wie geht es Jared? Es muss doch schrecklich für ihn gewesen sein.«

»Es war schrecklich für ihn, Elisabeth ... und das ist es sicher immer noch«, erwiderte Scotty bestimmt und wischte sich seine Tränen mit dem Ende des Jackenärmels weg. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Farmer seiner Frau in dem Brief den genauen Zustand ihres Sohnes mitgeteilt hatte, und er bezweifelte stark, dass er das überhaupt jemals tun würde. So etwas schilderte man keiner Mutter. Er hatte sich schon selbst innerlich verflucht, dass er beim Abschied von Jared unbedingt hatte wissen wollen, was genau mit Vincent passiert war. Dieses Bild würde er wahrscheinlich sein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf herausbekommen.

»Dein Mann verarbeitet das jetzt auf seine Weise«, fuhr er mit festerer Stimme fort und rutschte in seinem Sessel nach vorne. »Er wird seine ganze Kraft in die Aufklärung dieses schrecklichen Verbrechens stecken. Es wird ihm sicher gelingen, den Mörder zu finden, Elisabeth. Wenn nicht ihm, wem denn dann?«

Er hoffte inständig, dass das überzeugt geklungen hatte, denn in Wirklichkeit glaubte er selbst nicht so recht daran.

»Jared schreibt, dass er unseren Sohn in diesem Tal beerdigt hat und dass es dort wunderschön sei.«

»Das stimmt, Elisabeth, und von dort, wo er begraben liegt, hat man einen herrlichen Blick über das Tal.«

»Ich möchte so schnell wie möglich dorthin, Scotty. Verstehst du das?« Elisabeth blickte ihn aus großen fragenden Augen an.

Scotty verstand und er verstand auch, was das für ihn bedeuten würde.

»Wirst du mich hinführen?«, fragte sie auch prompt. »Ich meine, wenn Jared nicht bald zurückkommt und ich mit ihm gemeinsam das Grab unseres Sohnes besuchen kann?«

Das mache ich selbstverständlich, wollte er gerade versprechen, als ihm im selben Moment etwas bewusst wurde.

Den Zugang zu dem Tal würde er nicht mehr finden. Alle anderen Erlebnisse hatte er deutlich vor Augen, aber wenn er sich an den Einstieg erinnern wollte, war sein letztes Bild ein Mufflon vor einer Felswand, das ihn neugierig anstarrte.

***

Das Erbe von Tench'alin

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