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Kapitel 5

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Chalsea Cromway hatte Nikitas MFB aufgesetzt und betrachtete kopfschüttelnd und staunend die Bilder aus der Alten Welt.

»Der sieht aber toll aus!«, rief sie auf einmal begeistert.

»Ich glaube, ich lebe in der falschen Welt«, fuhr sie dann leiser fort, weil sich einige Gäste an den Nebentischen umgedreht hatten. Dann runzelte sie die Stirn und flüsterte: »Aber ... was um Himmels willen ... hat er da bloß an?«

»Das ist ein Wollpullover. Stell dir vor, ein Pullover aus echter Schafswolle! In der Alten Welt trägt jeder Kleidung aus natürlichen Stoffen. Vieles von dem wäre wahrscheinlich nicht ganz nach deinem Geschmack, einmal davon abgesehen, dass du allergisch reagieren und dir die Haut vom Leib kratzen würdest … wie die meisten hier.«

Nach einem kleinen Moment fügte sie hinzu: »Weißt du, es war wie eine ... Zeitreise in die Vergangenheit oder in ein anderes Universum ... und doch war es fast nebenan. Außerdem habe ich einen Traum bestätigt bekommen, den ich immer wieder gehabt hatte ... noch lange bevor ich wusste, dass ich diese Reise antreten würde.«

Chalsea nahm die Brille ab.

»Einen Traum? Du hast mir nie davon erzählt.«

»Weil ich weiß, wie du dazu stehst. Aber ich hatte mehr als einmal von dem Tor in dem Tal von Angkar Wat geträumt ... und es sah wirklich genauso aus wie in meinem Traum ... einfach unglaublich! Nur Effel Eltringham ist dort nie aufgetaucht. Mir ist er in der Realität auch lieber«, lächelte sie.

»Und wie ist er so ...«, Chalsea zögerte einen Moment.

»Im Bett ... wolltest du doch fragen«, lachte Nikita. »Ich kann dich beruhigen, auch da gibt es keinen Grund zur Klage. Mehr wirst du aus mir aber nicht herausbekommen.«

»Brauchst nix mehr zu sagen«, zwinkerte Chal ihr zu, »ich kann verstehen, dass es dir schwergefallen ist zurückzukehren.«

Sie winkte den Kellner heran.

»Was darf ich den Damen bringen? Nikita, schön Sie zu sehen, ich hatte Sie schon vermisst. Mrs. Cromway hatte mir schon erzählt, dass Sie in den Südstaaten waren.«

Er lächelte freundlich.

»Für mich einen Eisbecher mit Früchten und einen Café, schwarz bitte.«

»Danke, Paul. Bringe mir bitte einen Café Crème … ach, und eine Flasche Wasser.«

Paul tippte die Bestellungen in sein Tablet und ging zum nächsten Tisch.

»Du hast ihm was erzählt? Dass ich in den Südstaaten war?«

»Was sollte ich denn machen, ich wusste doch selbst nicht mehr und er hat ständig nach dir gefragt. Ich wollte schon gar nicht mehr herkommen, richtig nervig war das.«

Dann wandte sich Chalsea wieder den Fotografien zu. Sie betrachtete eingehend eines der letzten Bilder. Effel stand mit zwei Pferden an einem Waldrand und schien zu winken. Es war eine Nahaufnahme, obwohl Nikita zu diesem Zeitpunkt schon kurz davor gewesen war, das U-Boot zu besteigen. Es war ihr letzter Blick auf Effel gewesen.

»Was ist das denn?«, fragte Chalsea plötzlich.

»Was ist was?«

»Na das hier, gar nicht weit von deinem Freund … steht da nicht jemand? Da ist doch eine Frau zu sehen! Zwar nur schemenhaft, aber … schau selbst.«

Sie reichte Nikita die Brille.

Beide schwiegen einen Moment lang, während sich Nikita das Bild eingehend betrachtete.

»Hm«, meinte sie dann, »das war mir beim ersten Mal Anschauen gar nicht aufgefallen, aber ich glaube, du hast recht. Da ist noch jemand auf dem Bild. Eine Frau, glaube ich. So sieht es aus … oder es ist der Schatten eines Baumes. Das könnte sein. Merkwürdig. Ich bin mir ziemlich sicher, dass uns niemand gefolgt war. Na ja, vielleicht waren wir auch nicht so aufmerksam … kannst dir ja denken, warum.«

Nikita konnte sich gut vorstellen, dass jemand vom Rat der Welten beauftragt worden war, ihre Abreise zu überwachen, wollte dies aber im Moment nicht weiter kommentieren. Chal hatte schon genug Merkwürdigkeiten zu verdauen. Sie reichte ihr die Brille zurück.

»Machst du dir keine Sorgen?«

»Worüber?«

»Na, dass ihm etwas passiert sein könnte.«

»Er kann sehr gut auf sich aufpassen, meine Liebe.«

»Deinen Optimismus hätte ich auch gerne. Hier, du kannst deine Brille wiederhaben. Da kommen jetzt nur noch Bilder von Bushtown und deiner Rückkehr. Unsere Stadt kenne ich schon.«

Chalsea gab Nikita die Brille. Dann umarmte sie ihre beste Freundin. »Ich bin so froh, dass du wieder hier bist. Du hast mir sehr gefehlt.«

»Hey, ist dir etwa langweilig geworden? Was ist mit Pete, ist das mit euch etwa schon vorbei?«, fragte Nikita mit gerunzelter Stirn, weil es ihr merkwürdig vorgekommen war, dass Chal ihren neuen Freund, von dem sie noch vor einigen Wochen gar nicht genug hatte schwärmen können, bisher mit keinem Wort erwähnt hatte.

»Ach«, winkte Chalsea schnell ab und machte einen Schmollmund, »der hatte nur seinen Sport im Kopf, das ist mir zu wenig gewesen. Ich brauche einen Mann, der sich ab und zu um mich kümmert.«

Also ständig, behielt Nikita für sich und grinste.

Dass Chalsea Cromway gerade dabei war, sich alle romantischen Ideen über Männer abzugewöhnen, sagte sie Nikita nicht. Sie unterließ das aus zwei Gründen. Sie wollte deren Romanze nicht zerstören, und außerdem hätte sie ihr wahrscheinlich ohnehin nicht geglaubt. Schließlich war sie selbst noch bis vor Kurzem der Teil ihres Duos gewesen, der an einem Romantizismus litt, der unheilbar zu sein schien.

Sie saßen in ihrem Lieblingscafé, das in einer der mittleren Etagen des Delice lag, dort, wo die meisten Restaurants der Mall zu finden waren. Am frühen Mittag war das Frozen, auf dessen Spezialität schon sein Name hinwies, wohl wegen des schlechten Herbstwetters nicht einmal halb voll. Da die Medien bisher noch nichts berichtet hatten – das würde erst in ein paar Stunden geschehen – hatte Nikita diesen Treffpunkt gewählt.

Chalsea hatte ihr Wasser und den Kaffee bekommen.

Nikita rührte in ihrer Tasse und sah zu, wie sich die helle Creme an der Oberschicht langsam auflöste. Sie überlegte, ob sie ihrer Freundin die nächste Frage zumuten konnte. Irgendwann war sie mit dem Umrühren fertig und legte den Löffel auf der Untertasse ab.

»Glaubst du eigentlich an Reinkarnation, Chal?«

»An was soll ich glauben? An Re…in…kar…nation?«, fragte Chalsea gedehnt und mit zusammengekniffenen Augen. »Habe ich dich richtig verstanden, du meinst wirklich Wiedergeburt?«

»Ja, genau das meine ich ... also, glaubst du daran?« Spätestens jetzt sollte Chalsea wissen, dass ihre Frage ernst gemeint war.

»Nein, natürlich nicht! Das ist absoluter Humbug, das müsstest du als Wissenschaftlerin doch besser wissen. Wir sterben … und aus ist es. Haben sie dir das etwa da drüben eingetrichtert? Wie kommst du denn jetzt auf so etwas?«, fragte sie vorsichtig.

Nikita konnte ihrer Freundin gar nicht böse sein. Vor einigen Monaten hätte sie auf diese Frage ähnlich entsetzt oder mit einem flotten Spruch reagiert. Und jetzt konnte sie sich sogar an all ihre früheren Leben erinnern, wenn sie das wollte.

Sie amüsierte sich in diesem Moment innerlich über die Vorstellung, was die Nachricht, dass sie beide in einem früheren Leben sogar schon einmal Mutter und Tochter gewesen waren ... und Effel der Vater, bei Chalsea wohl auslösen würde.

»Was gibts denn da zu kichern?«

»Ich kichere doch gar nicht.«

»Doch, du kicherst ... innerlich ... ich habs genau gesehen, ich kenne dich.«

»Also gut, du hast recht, aber ich kann dir beim besten Willen nicht sagen, worüber. Du würdest mich auf der Stelle für verrückt erklären«, lachte Nikita jetzt laut.

»Wenn du so weitermachst, tue ich das auch«, lachte jetzt auch Chalsea, »hast du nicht einmal Physik und Psychologie studiert? Müsstest du nicht am besten wissen, wie diese Welt funktioniert?«

»Ja, das habe ich«, sagte Nikita und fuhr fort, »und schon da habe ich gelernt, dass man in diesem Universum nichts vernichten kann ... nur verändern. Schau mal«, sie zeigte auf das Glas Wasser, das neben ihrem Kaffee stand, »auch Wasser kann man nicht so einfach verschwinden lassen. Wenn du es kälter werden lässt, gefriert es irgendwann, und wenn du es genügend erhitzt, verdampft es. Aber in beiden Fällen ist es nicht weg ... es existiert nach wie vor, nur in einem anderen Aggregatzustand.«

»Du meinst also allen Ernstes, dass wir ... verdampfen, wenn es uns in dieser Form«, sie berührte ihren eigenen Arm, »nicht mehr gibt? ... Das ist jetzt nicht dein Ernst! Bitte sag mir, dass du das nicht so meinst.«

»Doch, so ungefähr meine ich das, nur dass der Dampf aus meinem Wasser-Beispiel unser Geist oder unsere Seele ist«, lächelte Nikita, »aber lassen wir das jetzt und freuen uns darüber, dass ich wieder hier bin … in dieser Form.«

Sie hielt es für besser, das Thema erst einmal ruhen zu lassen. Sie hatte ihrer Freundin schon genug zugemutet, indem sie sie ins Vertrauen gezogen hatte, was den Grund und das Ziel ihrer Reise anging. Sie konnte sich vorstellen, was passieren würde, wenn herauskam, dass sie Chalsea eingeweiht hatte, bevor alles von BOSST freigegeben und dann offiziell von den Medien ausgestrahlt wurde. Aber es ging nicht anders, sie brauchte jemanden ihres Vertrauens. Sie konnte das alles unmöglich für sich behalten.

Für dieses Gespräch hatten sie sich ganz bewusst ein öffentliches Café ausgesucht. Ihre eigenen Wohnungen waren Nikita zu unsicher vorgekommen. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass sie dort in jedem Fall überwacht würde. Deswegen hatten sie sich vor zwei Tagen auch auf dem Golfplatz getroffen und eine halbe Runde gespielt, wobei das Spiel deutlich in den Hintergrund getreten gewesen war. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft gewesen, dass sie sicherlich drei Flights hatten durchspielen lassen und sich jede Menge Kommentare hatten anhören müssen.

»Also ehrlich, Nik, ich finde dass Freude anders aussieht. Kann es sein, dass du zwar körperlich hier bist, der Rest aber noch ganz woanders ist?«, nahm Chalsea den Faden wieder auf.» Mag sein, nein ... es ist sicher so«, erhielt sie zur Antwort, »ich weiß, dass ich dir nichts vormachen kann.«

Nikita lächelte schwach. Sie fühlte sich innerlich so zerrissen.

Hier war ihre Arbeit an einem der größten Projekte der Menschheit und dort, in der anderen Welt, waren ihr Herz und das Leben, das sie wollte. Sie hatte sich noch nie so vollkommen wohl gefühlt wie in Seringat.

Das Delice war eine der größten Malls der Stadt im unteren Teil des Donald-Crusst-Towers und Nikita bewohnte ein paar hundert Yard weiter oben, im 80. Stockwerk, ein kleines Apartment, von dem aus man einen großartigen Blick auf die Stadt hatte, sofern die Wolken einem nicht gerade die Sicht versperrten. Sie war damals so stolz gewesen, als ihr die kleine Wohnung mit all den neuesten Errungenschaften von ihrer Firma angeboten worden war und sie diese ihren Eltern zeigen konnte. Gegen ihre Studentenbude war das der reinste Luxus.

Im Crusst-Tower wohnen zu dürfen, war ein Privileg, das ansonsten nur bereits verdienten Mitarbeitern der Firma zuteil wurde. Dass sie die Wohnung bekommen hatte, hatte sie anfänglich dem Umstand zugeschrieben, dass ihr Vater Senator war. Später allerdings war ihr klar geworden, dass dies bereits ein Köder für den Auftrag gewesen war, den sie gerade so erfolgreich erledigt hatte.

Nach ihrer Rückkehr vor drei Tagen war ihr das Apartment, auf das sie einmal so stolz gewesen war, wie ein Gefängnis vorgekommen. Ein Vogel in einem Luxuskäfig, war ihr durch den Kopf gegangen, als sie es das erste Mal wieder betreten hatte.

Sie war mit großem Bahnhof empfangen worden. Professor Rhin hatte mit einem riesigen Blumenstrauß am Pier gestanden. Er hatte sie lange umarmt, eine für ihn äußerst ungewöhnliche Geste, und ihr ständig Dinge ins Ohr geschrien wie: »Ich kann gar nicht sagen, wie stolz ich auf Sie bin … Sie werden in die Geschichte der Wissenschaft eingehen!«

Sechs weitere Personen, von denen Nikita allerdings nur zwei kannte, hatten ihn begleitet. Alma, seine Sekretärin, und der Leiter der Sicherheitsabteilung von BOSST. Später hatte sie erfahren, dass es sich bei den übrigen ebenfalls um Sicherheitsleute der Firma gehandelt hatte. Ihre ganz persönlichen Bodyguards sozusagen.

Dann waren sie in einem der Firmenhelikopter direkt nach Bushtown zum Firmensitz geflogen worden. Noch während des Flugs hatte Professor Rhin einen ersten Blick in die Pläne werfen wollen. Sie konnte das verstehen, ihr wäre es im umgekehrten Fall nicht anders gegangen.

»Erstaunlich, wie gut sie erhalten sind, wirklich sehr erstaunlich«, war sein erster verblüffter Kommentar gewesen.

Er hatte Nikita die Pläne hingehalten.

»Können Sie sich erklären, warum der Text fast ausschließlich in Latein geschrieben wurde? Sagten Sie nicht, dass der Erfinder in Frankreich gelebt hatte?«

»Ja, das stimmt, bevor er hatte fliehen müssen. Ich hatte im Boot die Gelegenheit gehabt, kurz hineinzuschauen. Latein wurde damals von nur sehr wenigen Menschen verstanden, vielleicht war das der Grund.«

Sie hatte ihm noch gesagt, dass sie sich zunächst auch über den guten Zustand der Pläne gewundert hatte. Das hatte natürlich nur für den ersten Moment gegolten, an dem sie diese aus einer der Truhen der Gewölbe der Burg Gisor entnommen hatte. Später hatte sie ja dann eine Erklärung dafür bekommen.

Sie hatte allerdings bezweifelt, ob ihr Chef in dem Moment etwas damit hätte anzufangen gewusst, und so hatte sie für sich behalten, dass die Krulls dafür verantwortlich gewesen waren. Vielleicht würde sich ja später die Gelegenheit ergeben, mit ihm ausführlicher darüber zu reden. In der Empfangshalle der Firma war dann Mal Fisher, ihr oberster Boss, mit großem Begleiterstab und ausgebreiteten Armen auf sie zugekommen.

»Sehr verehrte Frau Ferrer, ich heiße Sie herzlich ... zu Hause willkommen. Wir sind alle dermaßen begeistert von Ihrem Mut und Ihrem Einsatz, dass man dies in Worten kaum ausdrücken kann. Sie haben im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte geschrieben und der Menschheit unter Einsatz Ihres Lebens einen großen Dienst erwiesen. Wir sind Ihnen zu ewigem Dank verpflichtet und wir sind uns bewusst, wie ehrenvoll es ist, Sie in unseren Reihen zu haben.«

Dabei hatte er Nikitas Hand gehalten, als wolle er sie nie mehr loslassen, und ein Kamerateam der PR-Abteilung hatte alles gefilmt. Für einen kurzen Moment hatte Nikita überlegt, ob sie bei Mal Fischers Worten zu Hause nicht ein spöttisches Zucken in seinen Mundwinkeln gesehen hatte und ob sie nicht gleich einen Eimer brauchen würde, um den ganzen Schmalz auffangen zu können, der aus den Worten und Gesten ihres Chefs getroffen war. Jedenfalls hatte er es sich später nicht nehmen lassen, ihr persönlich die extra für dieses Projekt neu eingerichteten Räumlichkeiten zu präsentieren.

»Hier können Sie schalten und walten, Frau Ferrer. Sie haben alle Freiheiten, wenn Sie irgendetwas brauchen, wenden Sie sich bitte direkt an mich. Kosten spielen da keine Rolle.

Was möglich ist, werden wir möglich machen, dafür verbürge ich mich. Ich möchte Sie aber jetzt nicht weiter aufhalten, Sie wollen sicher gleich an die Arbeit gehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gespannt ich auf das Ergebnis bin. Es wird unsere Welt verändern!«

Das hatte er laut gesagt. Dann beugte er sich zu Nikita und flüsterte: »Die Medien sind im Haus. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich später für ein erstes Interview zur Verfügung stellen könnten. Wir werden mit der ganzen Geschichte an die Öffentlichkeit gehen. Machen Sie sich auf einen gehörigen Rummel um Ihre Person gefasst. Sie werden als Heldin gefeiert werden.«

Er hatte gelacht und ihr auf die Schulter geklopft. Kurz darauf war er in einem der Aufzüge verschwunden und hatte eine Nikita zurückgelassen, die seine Begeisterung über den Medienrummel so gar nicht teilen konnte.

Professor Rhin war glücklich. Es hatte sich alles so gut gefügt. Nikita Ferrer war gesund und sogar sichtlich erholt aus der Alten Welt zurückgekehrt. Ausgeglichener, wie er fand ... und irgendwie strahlender. Alle Risiken hatten sich gelohnt. Jetzt besaß er einen wahren Schatz. Natürlich war ihm klar, dass er ihm nicht gehörte, nicht im üblichen Sinn des Wortes. Das Wertvolle für ihn war, dass er es sein würde, der diesen Schatz heben würde. Das Myon-Neutrino-Projekt, dieser Zauber, der die Energieprobleme für alle Zeiten lösen würde ... jetzt müsste man es nur noch realisieren. Anfangs hatte er, nach ersten flüchtigen Blicken auf die Zeichnungen, die Zahlen und die Textteile in lateinischer Sprache, auf Bögen, die in erstaunlich gutem Zustand waren, keinen Zweifel daran gehegt, dass sich die riskante Reise seiner jungen Mitarbeiterin gelohnt hatte. Noch in dem Firmenhelikopter, der sie nach Bushtown zurückgebracht hatte, hatte er seine Neugierde nicht zügeln können. So etwas hielt man nur einmal im Leben in Händen. Dass dadurch dem Unternehmen enormer Reichtum erwachsen würde, war für ihn zweitrangig.

Er kam mit seinem Gehalt bestens aus und außerdem brauchte er nicht viel. Sein Leben bestand aus seiner Arbeit.

Er hatte seiner jungen Mitarbeiterin Nikita Ferrer nach deren Ankunft zwei oder drei Tage freigeben wollen, nicht zuletzt um sich selbst zunächst in Ruhe einen genaueren Überblick verschaffen zu können. Sie sollte sich erst einmal ausruhen.

Aber sie hatte gemeint, sie hätte in dem U-Boot genügend Zeit zum Ausruhen gehabt und außerdem seien die letzten Tage wirklich alles andere als anstrengend gewesen. Genau wie auf der Hinfahrt sei sie dermaßen verwöhnt worden, dass sie sich wie eine Prinzessin vorgekommen sei, hatte sie dann noch lachend hinzugefügt. Nein, jetzt wolle sie auch möglichst schnell mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Sie würde ihre Eltern besuchen, eine Freundin treffen und nach ihrer Wohnung schauen. Danach wäre sie wieder voll einsatzbereit und selbstverständlich ebenfalls unendlich neugierig.

Natürlich hatte er nichts dagegen einzuwenden gehabt, er konnte einen klugen Kopf an seiner Seite immer gebrauchen, besonders jetzt. Vor allen Dingen war er auch an dem interessiert, was sie noch alles erlebt hatte. Die Kommunikation zwischen ihnen während Nikitas Reise war eher spärlich geblieben.

Sie hatte nur ab und zu das Nötigste gemeldet, aber ihm war inzwischen klar geworden, dass seine Mitarbeiterin wesentlich mehr erlebt hatte.

In den folgenden Stunden hatten die weiteren Sichtungen der Myon-Neutrino-Pläne noch mehr Anlass zur Hoffnung gegeben. Der ganze Aufwand schien sich gelohnt zu haben und seine anfänglichen Befürchtungen wegen des Vertragsbruches waren in den Hintergrund gerückt.

Er hatte sich mehr als einmal gefragt, warum Wissenschaftler späterer Jahrhunderte auf der Suche nach Energieressourcen ihren Forschungen über die ungeladenen kleinen Partner der geladenen Leptonen den gleichen Namen gegeben hatten. Warum kam jemand bereits ein paar hundert Jahre davor genau auf diese Bezeichnung? Hatte dieser Jemand vielleicht eine Vision gehabt und diese mit seinen Ideen, der Energiegewinnung aus dem Äther, vermischt? Unbewusst natürlich. Solche Gedanken hatte sich der Professor nicht erst auf dem Rückflug von Southport gemacht.

Für dieses Projekt, das höchste Priorität besaß, hatte man ein neues Labor mit angrenzender Halle für den Bau der Maschine zur Verfügung gestellt. Abseits seiner anderen Räumlichkeiten und noch besser gesichert. Hier hatten zunächst nur er selbst, Nikita Ferrer und natürlich Mal Fisher Zutritt. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer quadratischer Tisch, auf dem die Pläne fein säuberlich ausgebreitet von durchsichtigen Klebestreifen gehalten wurden.

»Haben Sie davon gewusst, Herr Professor?«, hatte Nikita auf einmal gefragt und dabei nicht aufgeschaut. Sie waren alleine gewesen.

»Gewusst? Was soll ich oder ... wovon soll ich gewusst haben, Nikita?«

Er hatte zu der Stelle der Zeichnungen geschaut, die Nikita offensichtlich im Auge hatte. Aber darum ging es ihr nicht.

»Dass ich eine Walk In bin und dass ich mich erinnern würde.

«Sie hatte ihn fragend angeschaut.

»Nein, das habe ich nicht«, hatte er ihr geantwortet und sich aufgerichtet. Das Gespräch drohte, in gefährliches Wasser zu driften.

»Ähm ... zunächst wusste ich es wirklich nicht.«

Und damit hatte er die Wahrheit gesagt.

»Mir war zwar bekannt, dass es so etwas geben soll ... also Menschen, die sich an ihre früheren Leben erinnern können ... aber offen gestanden ... geglaubt habe ich das nicht. Ich hatte das im Bereich Märchen oder esoterischer Spinnereien abgelegt.

Bis ich dann eines Besseren belehrt worden bin. Als ich Ihnen den Auftrag erklärt hatte, wusste ich es ... aber so richtig überzeugt war ich selbst da noch nicht.«

Er hatte gesehen, dass Nikita fragend die Stirn gerunzelt hatte.

»Sagen Sie selbst, Nikita, hätten Sie es geglaubt, wenn ich Ihnen damals gesagt hätte, dass dies der wahre Grund gewesen ist, warum Sie ausgesucht worden sind?«

»Nein«, hatte Nikita ehrlicherweise zugegeben, »ich hätte es Ihnen nicht geglaubt ... nein, sicher nicht.«

»Sehen Sie, Nikita, genau deswegen musste ich mir eine andere Strategie ausdenken ... aber alles, was ich damals gesagt habe, habe ich auch so gemeint! Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse.«

»Nein, bin ich nicht, und ich glaube Ihnen, Herr Professor ... und wissen Sie was? Ich bin Ihnen sogar dankbar, dass Sie damals die richtigen Knöpfe bei mir gedrückt haben. Sie kennen mich wirklich gut. Das, was ich in der anderen Welt erleben durfte, hat mich reicher gemacht ... unendlich reich. Ich

erzähle es Ihnen, wenn es Sie interessiert.«

Uns alle hat Ihre Reise hoffentlich reicher gemacht, hatte Professor Rhin gedacht.

»Selbstverständlich interessiert es mich, Nikita, lassen Sie uns später in der Kantine essen gehen, dann können Sie in aller Ruhe erzählen … auch, in wen Sie sich dort drüben verliebt haben.«

Nikita war rot geworden, obwohl ihr natürlich klar war, dass sie einer Koryphäe in Verhaltenspsychologie nichts vormachen konnte. Er konnte Menschen lesen wie kein anderer.

Später hatte Nikita ihre Eltern angerufen und ihnen versprochen, sie sehr bald zu besuchen. Dabei hatte sie erfahren, dass ihr Vater inzwischen über ihre Reise Bescheid wusste.

Präsident Wizeman hatte den Senat persönlich informiert.

Das war ihr nur recht gewesen und hatte ihr die einleuchtende Erklärung für das Interview, das sie bald führen sollte, geliefert.

Sie hatte sowieso nie geglaubt, dass ihr Vater ihr abgekauft hätte, sie sei in den Südstaaten gewesen, um dort bei einem internen Firmenprojekt zu helfen. Sie war noch nie gut im Lügen gewesen und ihrem Vater hatte sie noch nie etwas vormachen können.

Abends hatte sie dann endlich Zeit gehabt, ihre Eltern zu besuchen. Sie war ihnen in die Arme gefallen und Manu hatte daneben gestanden und vor Glück geweint. Dann hatten auch sie sich umarmt.

»Niki, es ist so wunderbar, dass du wieder hier bist … und wie gut du aussiehst!«, hatte Emanuela gestrahlt. »Du hast dich verliebt, nicht wahr?«

»Sieht man mir das so deutlich an?«

»Ich sehe so etwas, Nikita.«

»Ich werde dir später ein Soufflérezept geben, das mir seine Mutter zum Abschied geschenkt hat. Wenn du das kochst, wird dir mein Vater zu Füßen liegen, Manu. Erinnere mich daran.«

»Du musst uns alles haarklein berichten«, hatte ihr Vater zu ihr gesagt, als sie sich an den Tisch zum Abendessen gesetzt hatten, »du kannst dir gar nicht vorstellen, was in der Zeit deiner Abwesenheit hier alles passiert ist ... aber alles der Reihe nach. Erst bist du mal dran.«

Es war sehr spät geworden. Sie waren am Esstisch sitzen geblieben, auch nachdem Manu das Geschirr abgeräumt hatte.

Als Nikita alles erzählt hatte, war es an ihr gewesen, staunend den Schilderungen ihres Vaters zuzuhören. Nur manchmal hatte sie ihn unterbrochen.

»Will Manders hat sich dir anvertraut?«, hatte sie ungläubig gefragt. »Er wollte ebenfalls Nachforschungen anstellen? Mein Gott, wenn er sich da mal nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt hat ... ich habe nach ihm gefragt, weil es mich überrascht hatte, ihn nicht im Labor anzutreffen, normalerweise wäre er der Erste gewesen, der ...«

»Und was hat man dir gesagt?«, hatte der Senator gefragt.

»Man wisse es nicht. Also, da stimmt etwas nicht.«

»Das ist nicht das Einzige, das nicht stimmt«, hatte ihr Vater ernst erwidert. »Die gesamte Mannschaft des U-Bootes, das dich rübergebracht hat, ist verunglückt. Es gibt keine Überlebenden. Ich rate dir, nicht weiter nachzufragen, Kind. Überlasse das jetzt mal deinem Vater.«

In ihrer Abteilung war sie mit großem Hallo von ihren Kollegen empfangen worden, die noch vor den Medien über den wahren Grund ihrer Reise informiert worden waren. Sie hatte sofort Will Manders vermisst, hatte es merkwürdig gefunden, dass er nicht unter den Ersten gewesen war, um sie zu begrüßen.

Sie wusste, dass Will ein besonderes Faible für sie hatte, und ihre Freundin Chal hatte ihr mehr als einmal empfohlen, ihm eine Chance zu geben. Hatte er etwa gespürt, dass sie inzwischen einen Mann getroffen hatte, der jetzt einen großen Platz in ihrem Leben einnahm? Oder war er eingeschnappt, weil man ihr für den großen Auftrag in den Südstaaten, so war die offizielle Verlautbarung gewesen, den Vorzug gegeben hatte? Nun, irgendetwas musste der Grund gewesen sein für Wills Nichterscheinen.

Als sie sich das erste Mal mit Chalsea auf dem Golfplatz getroffen hatte, hatte sie es ihrer Freundin erzählt.

»Ich wette, der ist eingeschnappt«, hatte Chal gemeint, »du weißt doch, wie ehrgeizig er ist, und er ist bestimmt enttäuscht, dass er diesen Auftrag nicht bekommen hat. Er ist doch schon viel länger im Unternehmen und in seinem Beruf scheint er ja echt gut zu sein ... hast du selbst immer gesagt.«

Dann hatte sie gekichert. »Stell dir ihn mal da drüben vor ... der hätte vielleicht Augen gemacht, wenn sie ihn geschickt hätten ... ich glaube nicht, dass er sich in der Alten Welt zurechtgefunden hätte.«

»Leise Chal, nicht dass dich jemand hört, mein Gott, ich glaube, ich bekomme noch eine Paranoia, überall wittere ich Agenten und Abhöranlagen, sogar hier in den Büschen des Golfplatzes.«

»Ja, aber stell dir Will doch mal da drüben vor«, hatte Chal nun geflüstert und immer noch leise gekichert, »ich glaube, er hätte nicht einen Tag überlebt, meinst du nicht auch?«

Sie hatte den nächsten Flight vorgelassen.

»Komm jetzt Chal, so ungeschickt ist er auch wieder nicht. Ich glaube, er ist intelligent genug, sich auf neue Situationen einzustellen. Ich denke, wir haben ihn immer ein wenig unterschätzt, weil er nur seine Karriere im Kopf hatte ... und dadurch irgendwie so lebensfremd schien.«

»Guten Tag, die Damen«, hatte einer der Spieler, ein hochgewachsener, gut aussehender Mann in rot karierten Golfhosen, herübergerufen, »im Clubhaus ist es doch viel gemütlicher für Ihre Unterhaltung, hahaha!«

»Sehr witzig, Tom«, hatte Chalsea gekontert, »konzentrieren Sie sich mal lieber auf Ihren Ball. Gleich kommt das Wasserhindernis, das Sie so lieben!«

»Blödmann«, hatte sie noch geraunt, als die Spieler außer Hörweite waren. Dann hatte sie den Gesprächsfaden wieder aufgenommen: »Ja, und Will hatte dich im Kopf ... Mensch, Nik, der ist doch zum Lachen in den Keller gegangen.«

»Mag ja sein, aber er hat für seinen Beruf gelebt ... und für seine Karriere. Weißt du was? Wenn er morgen auch nicht erscheint, rufe ich Matt an, der wird wissen wo er steckt.«

»Matt, du meinst diesen arroganten Nachrichtenfuzzi? Na, der wird dir sicher gerne Auskunft geben.«

»Warum denn nicht? Er ist sein bester Freund, Chal ... und«, jetzt hatte Nikita gelächelt, »gibt es hier nicht jemanden, der in der gleichen Branche arbeitet?«

»Ruf ihn an, ruf ihn ruhig an ... er wird nix sagen, denn wenn Will nicht möchte, dass du weißt, wo er ist oder was mit ihm los ist, wird er seinen besten Freund sicher eingeweiht haben. Der hält dicht. Da gebe ich dir Brief und Siegel.«

»Wir werden ja sehen. Und wer war das eben, dieser freundliche Herr in der karierten Hose? Irgendwoher kenne ich ihn, ich glaube, ich habe ihn einmal bei uns in der Firma gesehen. Da hatte er allerdings etwas anderes an.« Nikita grinste.

»Der? Das war Tom Glacy, Vorstand bei Sisko ESS. Die Firma, die den ICD herstellt.«

»Dass die den ICD herstellen, weiß ich. Bei der Entwicklung der Brille haben wir ja eng mit Sisko zusammengearbeitet.«

»Ich habe ihn im letzten Monat für unser neuestes Onlinemagazin fotografiert. Arrogantes Arschloch, wenn du mich fragst.«

Auch am folgenden Tag war Will nicht in der Firma erschienen und sehr seltsam wurde es dann, wie Nikita fand, als sie auch seinen Freund Matt nicht in der Redaktion erreichen konnte. Er sei in Urlaub, hatte es dort nur lapidar geheißen, und man wisse auch nicht, wo er sich aufhielte. Er habe seinen ganzen Jahresurlaub auf einmal genommen und man rechne in spätestens sechs bis acht Wochen mit seiner Rückkehr.

Inzwischen wusste Nikita mehr und sie wollte auf den Rat ihres Vaters hören, sich nicht weiter in diese Sache einzumischen.

Sie würde also keine Nachforschungen wegen Will Manders anstellen. Dafür hatte ihr Vater die besseren Kontakte.

»Komm, lass uns gehen«, schlug Chal gerade vor und riss sie damit aus ihrem Tagtraum, »ich habe im VAL ein Wahnsinnskleid gesehen, das muss ich dir zeigen. Es ist allerdings nicht aus Schafswolle, hahaha. Ich hoffe, du hast noch einen Blick für unsere Mode. Die Rechnung hier geht auf mich«, knuffte sie Nikita liebevoll in die Seite und rief den Kellner.

Sie waren gerade ein paar Schritte gegangen, als sie angesprochen wurden. Ein gut aussehender Officer, dessen Uniform ihn als Mitglied des Delice-Wachpersonals auswies, baute sich vor den beiden Frauen auf. Eine dunkle Locke fiel ihm keck in die Stirn. Die MFB hatte er locker über dem Schirm seiner Mütze sitzen.

Das wird seinem Chef nicht gefallen, dachte Nikita sofort, als sie von Richard Pease auch schon aus ihren Gedanken gerissen wurde. »Ich kenne Sie, Ma'am«, grinste er Nikita an und blickte dann verstohlen zu Chalsea, die mit einem betont gelangweilten Blick antwortete.

»So, woher denn, Officer ... Pease?«, fragte Nikita freundlich. Sie hatte das Namensschild auf seiner Brusttasche gelesen.

»Na, Sie haben mich doch damals auf Pete Johnson angesprochen ... wissen Sie noch ... den neuen Star unseres Baseballteams! Ich hatte ein Magazin in der Hand mit seinem Foto drauf und Sie haben mich angehalten und sich nach ihm erkundigt. Sie sagten noch, dass Sie ihn kennen. So was vergisst Richie nicht.«

Er deutete mit dem Finger auf Nikita und zeigte dabei ein gewinnbringendes Lächeln. Jetzt fiel ihm ein, dass sie ihm damals gar nicht ihren Namen gesagt hatte.

»Jetzt, ja sicher, ich erinnere mich ... und? Hat er Ihre Erwartungen erfüllt?«, fragte Nikita mit einem schelmischen Seitenblick auf Chalsea, die daraufhin leicht errötete.

»Erfüllt? Machen Sie Scherze? Er ist eine Granate, sag ich Ihnen. Die beste Investition der Tiger seit ewigen Zeiten ... ich könnte heute noch dem Management die Füße küssen! Und die Summe, die sie für ihn ausgegeben haben, die ja wirklich nicht von schlechten Eltern war, haben sie alleine durch Trikotverkauf in den ersten drei Monaten locker wieder reingeholt!«

Dann hielt er abrupt inne und zeigte mit dem Finger auf Chalsea.

»Mann, Mann, Mann, bin ich blind! Entschuldigen Sie vielmals Mrs. Cromway, aber Sie sehen viel hübscher aus als auf den Fotos ... deswegen habe ich Sie nicht gleich erkannt. Schade, dass Sie nicht mehr mit ihm zusammen sind ... ich habs vor ein paar Tagen gelesen ... aber sorry, das geht mich ja nichts an.«

»Ist schon gut«, meinte Chal und zupfte Nikita am Ärmel, »komm jetzt, wir müssen los ... einen guten Tag noch, Officer.«

Sie hatte keine Lust, mit einem Mann vom Sicherheitspersonal über ihren Beziehungsstatus zu reden.

»Auf Wiedersehen, Officer Pease«, rief Nikita freundlich und eilte ihrer Freundin hinterher.

»Den wünsche ich Ihnen auch, Ladys«, erwiderte Richard fröhlich, der gegen ein Wiedersehen nichts einzuwenden hatte.

Dann schaltete er die MFB ein. Er mochte dieses ungeliebte Teil nicht ... vielleicht auch einfach nur, weil der Chief befohlen hatte, sie zu tragen. Er richtete seinen Blick auf die beiden Freundinnen, die jetzt vor einem Schaufenster standen und Schuhe betrachteten. Er war neugierig und berührte einen Sensor an der Brille.

»Chalsea Chromway«, murmelte er leise und wartete ein paar Sekunden auf den Rest der Mitteilung. Fotoreporterin ... das weiß ich ja inzwischen, aber so hat sie Pete bestimmt kennengelernt ... 65. Straße 67, App. 2001 ... das ist nicht weit von hier ... die wäre doch was für unseren Richie. Und die andere? Wer ist das?

Er richtete die Kamera auf Nikita und berührte den Sensor erneut, dann noch einmal und dann, leise fluchend, ein drittes Mal. Er nahm die MFB ab und betrachtete sie kopfschüttelnd von allen Seiten.

Scheißding, wieder mal defekt, dachte er und machte sich auf den Weg zurück in sein Office, denn in einer halben Stunde würde er ohnehin seine Schicht beenden, die mit einer defekten MFB keinen Sinn machte. Er würde eine gepfefferte Schadensmeldung loslassen und nach einem schnellen Imbiss zum öffentlichen Training der Tiger gehen. Die hatten am Wochenende ein wichtiges Heimspiel und konnten seine Unterstützung sicherlich gebrauchen. Da zählte jeder Fan.

Als der Morgen graute, lag Nikita immer noch mit offenen Augen auf ihrem Bett und fand keinen Schlaf, obwohl sie hundemüde war. Die Pillen, die sie in solchen Fällen früher genommen hätte, kamen für sie nicht mehr infrage. Sie dachte an Effel und an die Menschen in Seringat, die sie so in ihr Herz geschlossen hatte. Wie gut hatte sie in seinem Haus schlafen können. Der monotone Ruf des Nachtvogels hatte sie in einen tiefen und erholsamen Schlaf begleitet. Sie würde am nächsten Morgen auch nicht von ihm oder Sam geweckt werden. Sie vermisste einfach alles.

Unter ihrem Apartment pulsierte das Nachtleben, das sich in seiner Lautstärke in nichts von der des Tages unterschied.

So weit oben kam dies lediglich als leises, ab- und anschwellendes Summen an, das sie an den Garten des Bienenfreundes Sendo erinnerte. Sie musste lächeln, als sie an den Korbmacher in Seringat dachte, der ihr so stolz seinen Garten gezeigt hatte. In diesem Moment kam ihr auch die Melodie wieder in den Sinn, die er gesummt hatte, als er mit seinen Bienen gesprochen hatte. Er hatte bei seiner Arbeit weder Netzhut noch Smoker gebraucht. Alleine sein Lied stimmte die Bienen ganz offensichtlich freundlich.

Sie war nach ihrem Treffen mit Chal – das Kleid hatte sie nicht gekauft – abends lange in der Firma geblieben. Sie wollte die Arbeiten unbedingt vorantreiben, wollte alles schnell zu Ende bringen. Nach dem Abschied von ihrer Freundin hatte sie zunächst bis in den späten Nachmittag an ihrem alten Arbeitsplatz verbracht und liegen gebliebene Dinge aufgearbeitet, bevor sie in die neuen Laborräume hinübergegangen war.

Als Professor Rhin in der Nacht alleine im Labor gewesen war, war er über etwas gestolpert, das ihm gehörig den Wind aus den Segeln genommen hatte. Er hatte Nikita erst einmal nichts davon erzählen wollen, hatte es dann aber doch getan.

Eine halbe Stunde später hatte er sie zu sich gerufen. Er hatte kopfschüttelnd und murmelnd über einem der Pläne gestanden, die fein säuberlich vor ihm auf dem Kartentisch ausgebreitet lagen.

»Herr Professor ... stimmt etwas nicht?«, hatte sie mit einem plötzlichen unguten Gefühl in der Magengegend gefragt. Ihr inneres Warnsystem war angesprungen.

»Ich weiß es noch nicht«, hatte er gemurmelt, »es ist sehr kompliziert das alles … viel komplizierter, als ich dachte. Damit meine ich nicht die lateinische Sprache, obwohl ich mich gefragt habe, warum der Entwickler die Pläne nicht in seiner Muttersprache verfasst hat. Aber ihre Erklärung hat mir eingeleuchtet.« Er hatte sich am Kinn gekratzt.

»Kann ich denn helfen?«

Sie hatte sich vor einer halben Stunde in den Nebenraum zurückgezogen und ein Modell des Myon-Neutrino-Projektes auf ihren Bildschirm projiziert. Es war ihr erster grober Entwurf, den sie nach Francis Zeichnungen angefertigt hatte. So ungefähr stellte sie sich das Endprodukt vor. Mit den Berechnungen würde sie sich später gemeinsam mit dem Professor beschäftigen. Man würde es wesentlich kleiner bauen können, als Francis es sich damals, vor vielen hundert Jahren, ausgedacht hatte, das war ihr allerdings bereits klar geworden.

Es sah aus wie ein kleiner Satellit mit einer endlos langen Nabelschnur, die bis zur Erde in einen Transformator hineinreichen würde. Dieser Transformator würde nach ihren Schätzungen mindestens die Größe des Baseball-Stadions von Bushtown haben müssen. Dort würde dann die endgültige Umwandlung der Ätherenergie in brauchbare elektrische Energie stattfinden. Tausende Male effizienter als sämtliche Solaranlagen oder Wasserkraftwerke, die in den Wüsten und Gebirgen des Kontinents installiert worden waren.

Sie hatte in sich hineingelächelt bei dem Gedanken, was Effel für Augen machen würde, wenn er eines Tages dies hier würde sehen können. Gleich darauf hatte sie diesen Gedanken allerdings wieder verworfen – er würde seine geniale Erfindung nie sehen. Es würde ihn allerdings heute auch nicht sonderlich interessieren, wie sie wusste.

»Schauen Sie bitte mal hier, Nikita«, er hatte auf einen der Pläne und dort auf eine bestimmte Stelle in den Berechnungen gezeigt.

»Ich komme hiermit nicht weiter, er hat mitten im Text ein paar merkwürdige Sätze stehen, nicht vollständig und mit einem Hinweis versehen … es ist eine Verschlüsselung, vermute ich«, hatte der Professor mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme gesagt.

Nach einer kurzen Pause war er fortgefahren: »Hier, an der entscheidenden Stelle, bei der Umwandlung der Neuronen auf der Erde ... da ist ein, ich nenne es mal, Rätselcode eingebaut. Ich weiß nicht, was das soll. Es hat damals doch überhaupt keinen Sinn gemacht. Er muss eine Vorliebe für Rätsel gehabt haben. Wenn wir das nicht lösen, können wir das ganze Projekt vergessen ... und das wäre gar nicht auszudenken, es wäre einfach tragisch! Aber das muss ich Ihnen nicht erklären. Sie haben es offensichtlich noch nicht gesehen. Schauen Sie hier.« Er zeigte auf eine Stelle in dem Originaltext.

Quis sum? Hieme e nubibus nigris leniter venio atque super ardua tecta domorum tarde cado, ut cadens asperum TEGAM …(Reliquum et aenigma in Monastère Terre Sainte quaerens invenit.)

Professor Rhin blickte Nikita fragend an. »Sie haben das noch gar nicht gelesen, stimmts?«

»Nein, das sehe ich erst jetzt. Verstehe es aber nicht.«

»Nun, hier ist die Übersetzung.«

Er nahm das oberste Blatt von seinem Stapel handschriftlicher Unterlagen.

Im Winter komme ich aus dunklen Wolken und ich falle langsam auf die steilen Dächer der Häuser, sodass ich beim Fallen den schroffen Menschen bedecke … (den Rest und die Lösung findet der Suchende im Kloster zum Heiligen Grund)

»Das heißt, dass dieser lateinische Text nicht vollständig ist und wir das Rätsel nicht lösen können, wenn wir nicht dieses Kloster finden?«

»Das Kloster oder Effel Eltringham«, meinte der Professor trocken.

Dann hätte er mir ja etwas verschwiegen oder er wusste es einfach selbst nicht mehr, dachte Nikita, sprach es aber nicht aus. Dennoch musste sie innerlich grinsen, denn sie kannte ja Effels Liebe zu Rätseln und ganz offensichtlich hatte er diese auch früher schon gehabt. Dieses hier war allerdings unvollständig und vielleicht sehr kompliziert. Jedenfalls hatte sie keine spontane Idee.

»Hm, so schnell fällt mir da auch nichts ein, aber das werden wir doch herausbekommen … das wäre doch gelacht.«

»Ihre Zuversicht in allen Ehren, Nikita. Wir haben nicht sehr viel Zeit dafür, die Menschen wollen Ergebnisse. Ich war ja dagegen, so schnell an die Öffentlichkeit zu gehen, aber nun ist es geschehen. Es wird im Fernsehen berichtet, mit allen Interviews. Wie stehen wir da, wenn das hier herauskommt?

Alles andere hier ist mir inzwischen klar. Wie wir Neuronen einfangen können, wissen wir ja schon lange. Aber die Umwandlung! Gerade um die geht es doch. Früher galt das Atom noch als kleinster Baustein des Universums.«

Der Professor war dabei, in seinen Vorlesungsmodus zu verfallen, wie Nikita bemerkt hatte. Sie hatte ihn aber in diesem Moment ungern unterbrechen wollen. Sie hatte sich damals bei der Entdeckung der Pläne in der Burg Gisor auch schon gefragt, warum Francis diese in lateinischer Sprache verfasst hatte, dann aber von ihm selbst eine Erklärung dafür bekommen. Das Rätsel war ihr bislang nicht aufgefallen, da sie die Pläne zunächst einmal nur überflogen hatte.

»Später«, war Professor Rhin dozierend fortgefahren und dabei gestikulierend im Raum auf und ab gegangen, »wurden die Bestandteile der Atome, die Elektronen, Protonen und Neutronen gefunden. Dann sprachen die Physiker gar von einem Zoo der subatomaren Teilchen, als sie mit damals modernster Technik mehr als 200 winzige und teils sehr exotische Partikel entdeckt hatten. Die Neutrinos, um die es bei unserem Projekt hier geht, gehören zu den Leptonen, den sogenannten leichten Elementarteilchen, aber das wissen Sie ja, Nikita. Sie waren lange Zeit kaum nachweisbar und können mühelos die Erde durchqueren. Sie spielen bei radioaktiven Prozessen eine wichtige Rolle. Ihre Masse ist sehr gering. Für über ein halbes Jahrhundert hatten alle Wissenschaftler gedacht, dass Neutrinos keine Masse haben. Dabei passieren jede Sekunde Milliarden von Neutrinos unseren Körper.

Den Nobelpreis für Physik hatten im Jahr … lassen Sie mich nachdenken … es muss Anfang des 21. Jahrhunderts gewesen sein … genau, 2015, der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur B. McDonald erhalten. Die beiden Physiker hatten endlich den Nachweis erbracht, dass Neutrinos eine Masse besitzen.«

Nikita hatte wieder einmal, wie schon so oft, das enorme Gedächtnis des Professors bewundert, der für Jahreszahlen und Namen eine gesonderte Abteilung in seinem Gehirn haben musste.

Dann war sie zum eigentlichen Thema zurückgekommen.

»Aber das Rätsel werden wir doch wohl lösen können. Wir werden alle möglichen Suchprogramme starten und dann können wir ja mit den Berechnungen weitermachen. Notfalls lassen wir sämtliche Rechner drüberlaufen, auch wenn dadurch alle anderen Arbeiten erst einmal liegen bleiben. Die

werden aber dann auch nicht lange brauchen.«

»Das hoffe ich sehr, Nikita … wenn wir das aber nicht schaffen sollten, und zwar in absehbarer Zeit … ach, lassen Sie uns positiv denken. Bisher hat ja auch alles wunderbar geklappt. Machen wir weiter und vertrauen auf unseren Grips und die Technik.«

Wenn wir es nicht lösen können, wäre dieser Teil meiner Mission umsonst gewesen, hatte sie gedacht, und der nächste Gedanke, der sich ihr aufdrängte, hatte sie erschreckt.

***

Das Erbe von Tench'alin

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