Читать книгу Sarah oder der Wendekreis der Jungfrau - Klaus E. Kofler - Страница 11
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Blues 1965
“Alles schmerzt sich einmal durch bis zum eigenen Grund“, (Jan Kacel).
Lyrik und Musik, das war mein Ding mit Sechzehn und lange darüber hinaus.
In wenigen Worten, unbeholfen und wenig geübt, im ausschweifenden Ausdruck so viel wie möglich auszudrücken ohne klare Sätze zu formulieren, das gefiel mir.
Obwohl ich als Junge alle Bücher der damaligen Pfarreibibliothek ausgelesen hatte, hielt sich mein sprachliches Ausdrucksvermögen doch sehr in Grenzen.
Zu Hause wurde ja nur im Dialekt gebrabbelt und weder meine Mutter noch meine Nonna (die aus dem damaligen italienischen Istrien geflohen waren) konnten richtiges Deutsch:
“Ernstele, va nel Kaufause, bring Burro und Brote“! Oder immer wieder:
“Mio Ernstele gib Akte, Mensche sinde bese!“
Lyrik war Musik, ein Hineinfallen lassen in Gefühle, die schwer auszudrücken waren mit den üblichen Mitteln.
Weder Belletristik noch Malerei sind fähig, ähnliche Empfindungen hervorzurufen wie Lyrik und Musik.
Ingeborg Bachmann: “Die Anrufung des großen Bären“, du weißt schon, ist schließlich ums Eck von unserer Wohnung aufgewachsen (ein paar Jährchen früher) und das traf mich schon.
Ich las sie kopfschüttelnd, verstand wenig und verspürte viel.
Aus der Provinz ins Weltall der Literatur raketet! So etwas war möglich! Da stürzten sie über mich her, all die Wortgewaltigen!
Schon war ich Christine Lavant, Rose Ausländer, Paul Celan und Gottfried Benn (erst später hab ich von seiner Nazivergangenheit erfahren, aber wortgewaltig war er, der dicke Pathologe aus der Morgue).
Schon lauschte ich früh des Morgens den Vögeln und tatsächlich riefen sie mir zu:
„Mithuit, mithuit, miteinander, huit huit, zueinander“.
Ich hab das gehört und verstanden wie Franz von Assisi, ich schwöre!
Mir war mulmig zumute und ich dachte schon, ich gehöre in die Psychiatrie.
Ich habe es aber bis heute Niemandem erzählt.
Du bist der Erste.
Ich bin ja nicht so blöd mich hier zu blamieren.
Es war ein früher Morgen in der Osterwoche, in der die Glocken nach Rom flogen wie üblich
(wahrscheinlich mit Brian Air),
um dann am Ostersamstag zurückkehrend die Auferstehung zu verkünden: "Ding dong, ding dong! Weiht eure Schinken, laßt das Brot segnen, kocht die Eier hart, rubbelt den Kren, Gott ist auferstanden. Die Abmagerungskur sei beendet! Der Ramadan der Christen!"
Im Hof vor mir standen die Bäume schon im Saft.
Ich konnte nicht mehr schlafen vor Glück, weil ich Ferien hatte und stand um fünf Uhr morgens im sanften Frühlicht am Fenster und lauschte ins hellwerdende Grün.
Wir wohnten in einem Nazibau, hundert Meter im Quadrat, mit einer großen mittigen Wiese und vielen Bäumen und Sträuchern.
Eine Trauerweide stand genau vor meinem Fenster. An ihren langen Zweigen schwang man sich wie Tarzan durch die Lüfte.
Wunderschön
Romantisch
Herzerwärmend
Nervenkitzelnd
Der Vierkanthof war nur ein Stockwerk hoch. Eine durchdachte Architektur, so schwer es mir fällt den Nazis etwas Positives abzugewinnen, aber auch die Autobahn war eine gute Idee.
"Dass dir nur ja nichts entgegenkommt!“,
stand da ungeschrieben. Das nur so nebenbei. (Ich will ja hier nicht politisch werden).
Die Morgensonne stieg schon langsam über die gegenüberliegende Häuserfront. Das Kreuz des dahinterliegenden Kirchturms zeichnete sich scharf am Horizont ab. Es roch nach Frühling.
Es zwitscherte um mich herum.
Und so kam es wie schon erwähnt: Die Sprache der Vögel wurden von mir entziffert!
Sie sprachen einen erschreckenden Text, den ich verdrängt habe.
Da wusste ich: "Ich bin ein Teil des Ganzen“.
Nie wieder habe ich sie verstanden. So oft ich es auch versuchte. Manche Dinge passieren eben nur einmal.
Wenn man es versäumt, hat man wahrlich Pech gehabt.
Und nichts gehört!
Wer nicht aufmerksam ist, den strafen die Götter.
Die Tage stehlen sich
in meine Zeitlosigkeit
Gesichtergirlanden
Wortspiele der Verständigung
so vertraut
dass sie mir fremd wurden
Sirenenton des Kinderkreisels
du trägst mich fort
fort fort
welche Welten
zwischen
mir
und
mir
als ob ich
tausendfach beäugt
zu einem Staubkorn wachse
verblüht das Gestern
Sirenenton des bunten Kreisels
es kreischt in meinen Ohren
nimmermehr
nimmermehr
nevermore
Chinaski, 1971
Es war nicht ein Postsack, den ich mir umhängte wie Chinaski, dem alter Ego von Charles Bukowski, sondern meinen Gitarrensack, als ich wie jeden Samstag in die Straßenbahn stieg um zum Auftritt zu gondeln.
Meine Aknepickel hatten sich in rosige Gesichtshaut verwandelt.
Mein Mund zuckte etwas zynisch vor sich hin.
Altersweisheit schien sich langsam einzuschleichen.
Ich fuhr mir mit den Fingern lässig durch meine dunkelbraunen langen Haare. Der kurze "Niki“ Pullover bedeckte vorsichtig meinen flachen Bauch.
Die Wrangler Jeans seufzten störrisch bei jeder Bewegung, die Stiefeletten knarrten selbstsicher bei jedem Schritt.
"Eggenberg, einfach“,
löste ich meine Karte beim Chauffeur. Ich nahm Platz und blickte aus dem schmutzigen Fenster der Tram.
Ratternd ging es die Allee entlang, vorbei am Bahnhof, die Menschen hasteten zu ihren Zügen, die damals pünktlich verkehrten.
Vorbei am Simmering-Pauker Werk, in dem die Sklaven des Kapitalismus im Akkord ihren später zu versaufenden Lohn erschwitzten,
vorbei an Kreuzungen, an denen Mütter hektisch ihre Kinderwägen über den Schutzweg schoben um ihrem besoffen heimkehrenden Alten noch rechtzeitig Bier und Essen vorsetzen zu können und um mit blauem Auge -
"ich liebe ihn trotzdem“ -
der Nachbarin von ihrer glücklichen Ehe vorzuweinen.
Solche banalen Klischees wanderten durch meine Neuronen. Zum Erwachsensein braucht es halt einen längeren Schienenstrang als den Weg der 7erLinie.
Die Tram tuckerte gemächlich vorbei an Gastgärten, Sexshops und Kino:
"Schulmädchenreport“ konnte ich noch am Plakat entziffern. Diese ersten billigen Sexstreifen waren damals der Renner. Kein junger Mann ging ohne ein Taschentuch ins Kino.
Klingelnd und quietschend nahm sie schließlich die Kurve in die Straße meines Vergnügens und der Geldeinnahmen.
Ich spielte im "Gentleman-Keller“, und der Gentleman, der in diesem Keller abstieg, war noch nicht erfunden. Über ausgetretene Stufen tappte man hinab in die muffige Höhle der Wochenendunterhaltung. "Wochenend und Sonnenschein und du und ich im Wald allein.....", das war Vorkriegszeit. Das hier war kein Ablenkungsmanöver vor vorhersehbarem Unheil. Lockere Wohlfühlzeit war angebrochen. Der Sozialismus hatte den roten Teppich auch für die unteren Schichten ausgerollt.
Zukunkftsängste fortgewischt.
"Komm mit herein, ich stell dich vor!"
Der Chef ein pockennarbiger Fünfziger, sein Ehegespons eine übertrieben gestylte Blume aus dem Untergrund.
Auch die Ladys, die dieses Etablissement frequentierten, waren zwar jung und schön, aber Vorstadt halt, nett und sicher nicht bescheuert, sondern lebenserfahren weil ohne Matura.
Die Jungs kräftig gebaut und testosteronschwanger. Vom Mechaniker bis zum Friseur, vom Tischler bis zu Maler, gestylt wie eben vor dem "Saturday night fever“. Alles erste Sahne.
Mit leichtem Stich.
Charles stieg die obenerwähnte Treppe in den nach abgestandenem Rauch und verdunstetem Alkohol duftenden Keller hinab und begrüßte seine Mannen.
"Good morning Chinaski“ ,
schallte es ihm entgegen.
"Möge die Übung gelingen!“
Er schlenderte zur Bar:
“N' Abend Chef, n`Abend Chefin. Wie ist das werte Empfinden? Wollen wir die Sau rauslassen? Ein Viertel vom Besten. Danke herzlich!“
"Spielt bitte nicht wieder so laut“, tönte die Chefin, "leise und unterhaltsam ist das Zauberwort!“
“More feeling, more Schilling, knarrte Chinaski,
“solange ihr hört, was die Leute bestellen, ist es leise genug. Rock and roll ist kein Bridgeabend“.
Das erste Viertel vom sauren Weißwein hob die Stimmung nicht nur beim Stimmen der Gitarre.
Von langsamem Genießen war da zwar nicht die Rede, aber der Saft musste runter. Die Seele des Vorabends wollte geweckt werden.
Ich sah ganz nett aus, damals.
Mit Roy Black oder Paul Newman konnte ich nicht konkurrieren, aber schöner als Charles oder Kreisky war ich allemal und Saufen vertrug ich wie kein Zweiter.
Als hätte mir der liebe Gott vorsichtshalber gleich eine zweite Leber eingebaut. Ich wurde auch nie richtig betrunken im Sinne von Schwanken und Kotzen.
Nein, einfach nur bewusst unbewusst.
Ich soff, als würde ich mir damit meinen Lebensunterhalt verdienen.
Ein dezentes Schwirren in Kopf und Genitalgegend
eine Leichtigkeit des Seins
wunderbar erträglich
ein Sehen und Erkennen
das sofort in das Vergessen abtauchte,
ein Wissen, ohne etwas wirklich zu wissen.
Hätte es damals Absinth gegeben, ich wäre Baudelaire geworden, oder Rimbeaud, oder Blaise Cendrar, so wurde ich einfach nur Chinaski ohne Postsack, aber mit Eiern wie zwei gefüllte Postsäcke.
Meine Band war gut. Wir spielten alles nach, was im Radio zu hören war, und ich schwöre:
"Junge komm bald wieder“ ließen wir aus.
Unser Sänger war sehr gut und "hübsch das Äußere“: Schwarze Haare, blaue Augen, schlank und rank, immer ein smartes Lächeln um den weichen Mund.
Die meisten Mädchen gehörten sofort ihm. Er sang "Unchained Melody“ in der Originaltonart C.
Außerdem wusste er genau, wie man eine Zigarette zu halten hatte um cool zu wirken (das Wort gab es damals nicht!).
Noch dazu studierte er Psychologie ohne großes Aufheben darob zu machen, aber man sah es ihm einfach an.
Jeder Satz ein Schwert.
Wenn er dann sang, wurde aus dem Schwert ein Schokoriegel.
Und Frauen lieben Schokolade. Seltsamerweise war ich ihm nicht neidig.
"Ernst, weißt du, wie unendlich mich dein Solipsismus nervt?“
starrte er mich an und nahm einen Zug aus seiner Zigarette, die er immer etwas steif zwischen Mittel- und Ringfinger hielt..
“Erklär Solipsismus“, antwortete ich etwas verletzt.
“Frag mich doch, wie es mir geht?“
"Wie geht es dir?“. „Gut“.
“Siehst du, und schon bist du aus diesem Gefängnis deines Kopfes entlassen!“.
“Ähhh......wie geht es mir?“ fragte ich verzweifelt.
“Frag dich doch selbst du Solipsist!
Du kapierst doch gar nichts“. So quälte er mich mit seinen Weisheiten. Aber er meinte es nie bösartig. Und ich bewunderte ihn ob seiner Denkkraft.
Später durchschaute ich dann sein System und wir wurden richtige Freunde. Ich der zu pflügende Boden, er der darüberstreichende Wind der Weisheit.
Ich das Papier und er der Stift.
Schließlich wurde er Psychologe und arbeitete für die Caritas. Wurde Ehemann und Vater und ging am Sonntag zur Kirche. Seine Frau mußte ihm beim Geschlechtsverkehr immer schmutzige Worte ins Ohr flüstern, damit er kam. Manchmal schliefen sie einfach eine Nacht nicht durch, um richtig geil zu werden. Seltsam und unergründlich sind die Wege des Herrn....
Sein Hirn machte ihm schließlich wohl Schwierigkeiten und so flüchtete er in den sicheren Schoß der katholischen Kirche.
Dass er so gut sang, erfüllte mich mit Freude. Wenn er sang, schaltete er Gott sei Dank sein übereifriges Hirn aus.
Die erwähnte "Unchained melody“ tönte aus den Boxen und da, plötzlich, sah Chinaski aus seinen leicht blutunterlaufenen Augen eine Erscheinung:
Die Venus in der Muschel.
Ein Regenbogen im Winter.
Ein Sonnenstrahl durch bleigefütterte Kirchenfenster und ein Choral erscholl:
“Meerstern ich dich grüße!“
Unglaublich! Eine junge Maid im Dirndlkleid.
Im Gentleman-Keller!
Eine Verirrung für ihn erdacht? Irrungen und Wirrungen. Gott oder Teufel schicken mir eine Versuchung? Und es war eine!
Mephisto lachte im Hintergrund.
Glaub mir, ich hätte meine Seele sofort dem Teufel verkauft und den Vertrag unterschrieben!
Die Brüste bebten (ojojoi) aus dem Mieder, der Gang gazellengleich, die Augen schwarzbraun wie italienischer Espresso, ein leichter Anflug von Schnurrbart auf der Oberlippe. Schwarzes lockiges Haar, Beine so lang wie das Nibelungenepos, Rasse bis zum Ausrasten.
Natürlich dachte ich:
"Der Mann mit der Schokolade wird das Rennen machen“. Nein! Sie lächelte mir zu!
Ich sehe mich noch brabbelnd in der Pause vor ihr sitzen, in diesen Ausschnitt starrend, ihre Hand haltend, und ihren braunzärtlichen Blick auf mir ruhend.
"Äh, gefällt dir die Musik?“ Ein leichtes Nicken.
"Ähh,tolle Atmosphäre hier, was?“.
Ein schmunzelndes Nicken.
"Ähhhh, kommst du des Öfteren her...?“, meine hilflosen Ergüsse.
“Ja, darum bin ich auch heute da, hast du mich vorher nicht bemerkt?“, meinte sie gestreng.
“Leider nein, ich muss wohl blind gewesen sein...“, meinte ich, „blah, bla, bla“... und mein Mund und mein Hirn gehörten einem Anderen.
Fragt mich nicht warum....ich war aufgelöst wie Samarin in kaltem Wasser. Ich redete mich um Kopf und Kragen um diese Frau für mich zu gewinnen. Sie hatte mich natürlich schon längst durchschaut. Frauen wissen immer genau, mit wem sie es zu tun haben. Männer schwatzen, Frauen spüren. "Mach dir keine sinnlose Mühe, ich mag dich einfach", flüsterte sie und ihre durchdringenden dunklen Augen legten sich auf meine Seele.
Chinaski hätte sich auf der Toilette einen blasen lassen, aber ich machte einen unwiederbringlichen Fehler:
Ich war nicht nur ein Idiot, ich war ein unverbesserlicher Dummkopf. Verliebt ohne es zu genießen. Zu zerstreut und unsicher um diese Wärme annehmen zu können......
Demnächst in diesem Theater.....
Blues 1959
Seltsam, wie sich die Entwicklung vom Genuss eines gut belegten Wurstbrotes beim Lesen in die plötzliche orgiastische Erfahrung des ersten Orgasmus wandelt.
Ein schwüler Sommer.
Mein fünfjähriger Bruder und ich tummelten uns nackt in unserem Kinderzimmer. Der Sommer war heiss. Purzelbäume und Verstecksuche. Jubel und Trubel. Das Schrankbett war heruntergelassen und wir krochen zwischen den Stützbeinen des Bettes über den Teppich und blödelten herum.
Ich klemmte mich durch das enge Quadrat der Querstreben und blieb beinahe stecken.
Durch die plötzlich aufkeimende Angst steckenzubleiben und die Reibung des Teppichbodens geschah es:
Ich bekam einen Orgasmus!
Natürlich ohne Samenflüssigkeit, dazu war ich noch zu jung.
Ein unglaubliches Gefühl, vor allem, weil ich ja nicht wusste, woher diese Wonne rührte. Ich wurde beinahe bewusstlos vor Genuss.
Der Psychiater Wilhelm Reich hatte ja schon mit elf Jahren seine Haushälterin gevögelt, und man kann ja nachlesen, was sich daraus entwickelte.....
Ich starrte meinen Bruder an, der mich erstaunt betrachtete. Ich schwieg, noch erregt, und zog mich, noch innerlich vibrierend, an.
Ich legte mich sofort auf das Bett und nahm ein Buch zur Hand und bestellte bei meiner Mutter das obligate Wurstbrot (Die Zigarette danach kam erst später).
Hier kann ich endlich eine Behauptung aufstellen, die mir Niemand, kein Priester und nicht einmal ein Psychiater, widerlegen kann:
“Durch die Enge des Geburtstunnels gezwängt, die Reibung des jungen Penis im Geburtskanal, das Licht am Ende des Tunnels erblickend, erfährt er den ersten Orgasmus. Er beginnt zu schreien. Nicht vor Angst, vor Genuss!“
Zugegeben, eine etwas naive These, aber durchaus gefällig.
Oder?
Wie dies bei Mädchen aussieht, kann ich hier natürlich nicht erklären, das sollen sie sich selbst ausdenken.
Wenn ich Angst vor dem Sterben habe, und das habe ich inzwischen häufig, denk ich mich zurück in die Zeit vor der Geburt.
Ich kann nur sagen: War nicht unangenehm.
Wenn das Licht ausgeht, wird es wohl wieder so sein:
Warm
dunkel
hungerfrei
durstfrei,
politikbefreit
ohne Prüfungsängste und ohne Gier, Hass, Wollust und Neid.