Читать книгу Sarah oder der Wendekreis der Jungfrau - Klaus E. Kofler - Страница 7
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Nun, wenn ich schon da war, dann konnte ich auch gleich versuchen das Kopfweh hier mit einem sogenannten "Heil-Bier" oder auch "Reparaturseidl" genannt loszuwerden.
"Ein Bier bitte“, rief ich der ältlichen Wirtin zu, sie lächelte mich verstehend, wissend an.
Ich setzte mich mit einem nur gemurmelten "gestatten", zu einem etwas älteren Herrn an dessen Tisch.
"Bitteschön, wenn's sein muß - Ich bin der Ernst, aber das heißt nicht, dass ich auch immer ernst bin." Eine Antwort über die ich erst nachdenken musste.
"Harvey, auch angenehm", etwas verlegen doch vorwitzig meine Ansage, ich setzte mich zu ihm.
"Ah, Harvey, angenehm... lüpfen wir noch einen", war seine fragende Erwiderung, er lachte leise. Seine Mundwinkel zuckten. Mein Einstieg war wohl gelungen.
Er kannte den Film: "Mein Freund Harvey" mit James Steward in der Hauptrolle, in dem ein lebensgroßer imaginärer Hase ihm beim Trinken beobachtete und mit ihm diskutierte.
"Nenn mich trotzdem Joe, das ist leichter zu merken", nickte ich ihm zu.
Eine Weile saßen wir einander schweigend gegenüber. Robert hatte es sich unter meinem Sessel gemütlich gemacht, er fühlte sich sichtlich wohl in der Kneipe.
Bewundernd beobachtete ich einen an der Theke stehenden Gast, der sich mithilfe seines Schals das Glas mit einem Viertel Schnaps zügig zum Mund zog, um ja nichts auszuschütten, weil seine Hände so zitterten.
Ich musterte heimlich den vor sich hinschmunzelnden Gesellen neben mir, der genüsslich an seinem Getränk nuckelte:
“Althippie, Trinker - weil mich seine etwas geröteten Augen hin und wieder freundlich anlächelten, Hutgröße 52, tippte ich, ohne seine langen Haare. Aber gepflegt, ein leichter Buckel, als hätte er an seinem Leben schon schwer getragen, das kleine Bäuchlein zeugte von leichter Wohlstandsverwahrlosung, die Kleidung leger aber ein wenig nach Rauch und Moder duftend, die Zähne sahen aus, als hätte ein Zahnarzt gute Arbeit geleistet, sie schienen jünger als er, die Zigarette zitterte ein wenig, wenn sie sich dem Aschenbecher näherte, alles in allem eine durchaus interessante Erscheinung an diesem Morgen ohne sonstige Motivation.
Normalerweise sitze ich ja lieber alleine, "Small-Talk" ist nicht meines, ich lausche lieber, anstatt mich für die Sorgen meiner Mittrinker zu begeistern, aber alle anderen Tische waren belegt gewesen. Das Bier langte schäumend an, ich nahm einen angemessenen Schluck und seufzte wohlig.
Die dringend gebrauchten Elektrolyte breiteten sich in meinem Körper aus und die notwendige Beruhigung meiner Nerven setzte langsam ein: "Hey Joe, hier bist du daheim", flüsterte es in mir.
"Bist du von dieser vergangenen Nacht übrig geblieben, oder hat dich der scheinheilige Sonntag in die offenen Arme dieser Lokalität getrieben ?"
Ich zuckte nur mit der Schulter: "Wahrscheinlich hatte ich dasselbe Problem wie du, oder?"
Er sah mir lange in die Augen, bevor er mir antwortete und die Antwort hatte es in sich, ich begann ihn mit etwas mehr Neugierde zu betrachten.
"Weißt du… oft ist alles ganz anders, als man meint, oft ist es alles ganz anders, als es scheint – der Vorhang hebt sich nicht gleich und auch nicht ganz."
"Zwei große Calmus bitte“, rief ich der Wirtin hinter der Theke zu.
"Ich lade dich ein," sagte Ernst, in vollem Ernst. "Du bist ein ganz sympathischer Bursche, redest wenigstens keinen Schwachsinn, das gefällt mir.
Wir prosteten einander zu, seine Augen lächelten etwas schräg zu mir herüber, ich grinste zurück und ahnte, dass dies wohl noch ein launiger Tag würde.
Als hätte er meine Gedanken erraten meinte er:
“Haben sie die heutige Schlagzeile in der Runenzeitung gelesen?“.
Ich erstarrte: “Nein, solchen Schrott lese ich prinzipiell nicht, die Moritaten-News - und Sie lesen das hoffentlich auch nur unter dem Motto: Unterhaltung.“
"Leider lesen die Leute diesen gedruckten Unsinn, als ob es sich um die Verkündung der Wahrheit handelt – glauben darf man denen nichts…"
Ich nickte zustimmend, wir gossen den Inhalt der Gläser in unsere Kehlen, lächelten einander zu.
“Noch zwei Calmus bitte!“ Ich bestellte quasi aus Verlegenheit. "Diesmal zahle ich !" Die Gläser kamen und wir ließen den Inhalt hinutergbrennen, ein „ahh“ entwich gleichzeitig unseren Kehlen.
“Wie streunen sie durch ihr Leben, junger Freund?“, torkelte es aus seinem Mund, der Nachschub an Alkohol machte sich bemerkbar.
“Ich streune nicht, ich bin nur etwas…ach, ich weiß nicht, was ich eigentlich bin. Ich arbeite… ich meine, ich hab' einen Job."
Ernst verzog sein Gesicht, nickte leise, trank den Rest aus dem Glas, nickte wieder.
"Ja, wir sind alle nur Gefangene unserer Umstände, der sogenannten 'Gegebenheiten', die uns begleiten, eingekerkert wie in eine Zwangsjacke !"
Ich sah ihn erstaunt an. Das war kein "normaler" Betrunkener.
"Was machst denn du… so früh hier in der Kneipe ?"
Der Kellner stellte neuerlich zwei Calmus auf den kleinen Tisch. Robert, unter meinem Sessel bekam wieder ein "Leckerli", wie Marcello es nannte, so wurden wir alle ruhiggestellt - Fressen und Saufen.
“Ich mache alles oder auch nichts und denke nach, was ich machen könnte, wenn ich was machen wollte… ich bin ja in Pension, ich muss gar nix mehr“.
“Erträgst du die Welt im nüchternen Zustand, als Versuch und Irrtum?“ fragte ich. (Klugscheissen konnte schließlich auch ich - ich hoffte es war Kant Emmanuel, mit dem "Versuch und Irrtum", ich wollte mich ja nicht blamieren!)
“Meine Nüchternheit ist nicht mit Alkohol zu besänftigen. Das Schaukelpferd der uns zu lenken Versuchenden und zum Galoppieren zwingenden macht mich schwindeln.
Wie zur Bestätigung schaukelte sein Kopf nach links und dann nach rechts und retour.
"Außerdem ist die Wirklichkeit eine Illusion, hervorgerufen durch Mangel an Alkohol! Irisches Sprichwort", er grinste ein schiefes Grinsen.
“Ich verrate dir ein Geheimnis, das jeder kennt, so gerne in Anspruch nimmt, und so oft schiefgeht; es gibt nur die Liebe, die das Leben erträglich macht!
Er zündete sich wieder eine Zigarette an.
Wenn er gerade nicht rauchte, klopften seine Finger leise irgendwelche Rhythmen auf die Tischplatte. War er nur nervös, oder war es gar ein Leiden das ihn plagte ?
"Und was hast du gemacht, als du noch arbeiten musstest – oder bist du… reich, hast du geerbt oder…was ?
Er redete weiter, als ob er meine Frage nicht gehört hätte.
“Männer können mit Liebe nicht umgehen. Frauen haben sie im Patriarchat zu Helden erziehen müssen. Und Helden sind vorprogrammierte Verlierer.
In der Waagschale zwischen Liebe und Hass pendeln sie zu Letzterem. Das Patriarchat hat leider noch nicht ausgedient. Sonst lebten wir wahrscheinlich in einer friedlicheren Welt“.
"Zwei Calmus bitte!“ schrie ich. Das würden die letzten zwei sein, ich war jetzt bereits ziemlich erheitert.
Ich schaute seinen Rauchschwaden zu und dachte über diesen Schwachsinn nach:
“Was ist denn für dich Liebe?“, fragte ich vorwitzig und begann zu bereuen, dass ich nichts gefrühstückt hatte.
“Liebe ist nur ein Wort, lieber Joe. Deine Antwort wirst du irgendwann selbst finden. Meine wäre: Sex ist das Karussell, das dich am Anfang schwindeln lässt. Aber irgendwann steigst du aus. Im Schwindel des Ausstiegs taumelst du, hältst eine Hand, die dich den Boden unter den Füßen wiederfinden lässt. Und du entdeckst die Zärtlichkeit, den Feind der Gier.
Du wirfst deinen Egoismus über die Reling deines überfüllten Seelenschiffes und näherst dich dem Menschen, der in dir wohnt.
Dem richtigen Menschen, dem, von dem du meinst, dass er wahrhaftig sein könnte, you know?“.
Das wortballastige Geschwätz begann mich zu nerven. Fuck you. Was wollte dieser alte Sack? Mir, der ich soviel erlebt hatte, die Welt erklären?
“Noch eine Runde, die Herren?“, Marcello fragte eher nur rein rhetorisch, er sah auch, dass die beiden Gäste bereits genug intus hatten.
“Zeitig betrunken ist man den ganzen Tag voran“, meinte der alte Herr und ich, in meinem aufgewärmten Dusel, konnte ihm nur mehr zustimmen, ich nickte lächelnd:
“Täglich betrunken ist auch ein geregeltes Leben!“.
“Na junger Mann, du kennst wohl auch den Almanach der Trinksprüche aus dem 18.Jahrhundert!“.
Er lachte wohlwollend und bestellte ohne mit der Wimper zu zucken noch zwei Biere: "Zum Schwemmen und Spülen, für die Nieren, die mögen das…geht auf mich!"
“Du liest wohl viel“, fragte ich etwas verschämt und blickte in seine blassblauen müden Augen.
“Ja, ich habe viel gelesen. Lesen kann dich in den Himmel des Erlebens donnern oder auch dein restliches Leben blitzartig zerstören."
Langsam wurde er mir ein bisschen zuviel, zuviel der Schwafelei, auch der abgehobenen Weisheit, die er zur Schau trug. Ich hatte auch schon wirklich genügend Alkohol im übernachtigen Kopf, es wurde genug.
"Ich glaube ich muss nach Hause, meine Frau wartet sicher auch schon mit dem Essen auf mich und wenn ich zu spät komme, gibt’s Haue !"
Ein kurzer Augenblick aufkommender Ernsthaftigkeit.
Er grinste etwas resignierend, deutete auf eine dicke Aktentasche, die neben ihm auf der kleinen Bank lag.
"Ja, das kenne ich alles, ich hatte ja auch mal ein… nein, ich hatte kein 'normales Leben' – das war jetzt ein akuter Irrtum."
Er nahm die abgewetzte Aktentasche zur Hand und entnahm ihr, wichtig darin kramend, ein Bündel Papiere, offensichtlich ein Manuskript.
"Liest du auch manchmal Bücher oder schaust du nur in die Glotze, wenn du abends nach Hause kommst ?"
Ich bejahte heftig, früher hatte ich viel gelesen, die russischen Schriftsteller genauso wie die deutschen Klassiker, auch italienische Literatur, aber in letzter Zeit war das Lesen etwas ins Hintertreffen geraten.
"Nimm das und und lies, junger Freund… lies diesen Scheiss, das ist mein Leben in Worte gefasst… mein Leben, und es wurde schon wieder abgelehnt… von der Intelligentia, der Verlagsmafia.
Er machte eine kleine Pause, sah mich prüfend an, ob ich denn nach seinem Angebot noch würdig genug aus den Augen schaute… Ganz traute er mir wohl doch noch immer nicht über den Weg.
"Das sind die Fuß- und Fingerabdrücke meines Lebens - wenn wir einander wiedersehen sollten, wirst du mich mit anderen Augen sehen! Falls wir einander wiedersehen – ich werde demnächst erst mal auf eine Reise gehen.“
Ich wusste, ehrlich gesagt nicht, was ich an dieser Stelle noch hätte sagen sollen. Etwas beschämt nahm ich den Stoß Papiere entgegen, lächelte ihn mit gemischten Gefühlen an. Ja, es war durchaus eine Ehre, wenn einem jemand "sein Leben" in Buchform in die Hände legt. Ich wusste nur nicht, was ich letztendlich damit machen sollte…
"Ich komme ja eigentlich doch recht häufig hierher, weil halt auch viele Freunde da sind… aber dich habe ich hier noch nie gesehen…"
"ich bin hier auch nur eher zufällig hereingeschneit, auf dem Weg meine Frustration zu besaufen, aber es wollte mir beim besten Willen nicht gelingen – Du hast mir da jetzt erheblich weitergeholfen !"
Ich lächelte, was hätte ich auch sonst tun können.
Robert ließ ein freudiges "Wuff" hören, als er kapierte, dass Herrchen sich nun endlich wieder auf den Rückweg machen wollte.
Ernst beugte sich zu Robert, kraulte ihn hinter den Ohren, Robert schnurrte fast wie eine Katze.
“Danke für das Vertrauen und bis bald mal, hoffentlich“, sagte ich noch höflich, lächelte freundlich, zahlte, winkte den restlichen Gästen zu, man kannte einander ja, zumindest vom Sehen.
Es war Robert, der mich schnurstracks und in erhöhtem Tempo nach Hause führte oder besser, er zog mich hinter sich her.
Nach dem großartigen Essen, das "Blunz`ngröstl schmiegte sich zärtlich und wohlwollend in meinen Magen, legte ich mich dann auch endlich auf ein Schläfchen hin.
Als ich am frühen Abend wieder erwachte, saß meine Frau vorm Fernseher, Robert schlief in seinem Körbchen, alles war in Ordnung, alles in der Reihe, alles wieder ganz "normal", so wie es sich an einem Sonntagabend gehörte.
Und so nahm ich denn, neugierig wie ich eben bin, den Stoß Papiere zur Hand, trank einen steifen Kaffee, zündete mir eine Zigarette an und begann etwas gelangweilt, dann aber doch nicht ohne Neugierde, Ernsts Manuskript zu lesen. Mal sehen, was dieser Verrückte zu sagen hatte.