Читать книгу Die neue Zeit - Klaus Henning - Страница 6
ОглавлениеBalthasar
Balthasar dachte an die lange Geschichte, auf die sie schon in ihrer Entwicklung zurückblicken konnten. Sie begann vor 4000 Jahren und sorgte für die unterschiedlichsten Ausprägungen seiner Art. Sie hatten ihr Aussehen im Laufe der Jahrtausende und Jahrhunderte verändert, hatten sehr verschiedene Einflüsse erfahren. Heute war sein Volk eines der größten auf der Welt. Sie hatten sich durchgesetzt, waren standhaft und stark und hatten sich immer angepasst, um nicht in eine evolutionäre Sackgasse zu geraten. Und das war nicht einfach gewesen, da es durchaus Konkurrenz gab. Immerhin gab es Entwicklungen, die dafür gesorgt hatten, dass sich ganz neue Ethnien den kulturellen Umständen entsprechend ausgebildet hatten und es nur mit gewissem Aufwand möglich war, die Kommunikation aufrecht zu erhalten. Diese Besonderheiten zeigten aber auch die Vielfalt von Entwicklungen im Kontext der Bedingungen eben dieser. Sie waren allesamt physisch in der Welt präsent und allerorten wahrnehmbar. Während er im Kopf diese Gedanken entwickelte, prüfte er die heutige Post. Balthasar hatte heute Morgen die Nachricht bekommen, dass wieder einmal eine Sitzung anstand. Er gehörte dem Ältestenrat seines Volkes an. Diese Sitzungen fanden regelmäßig statt und hatten das Ziel, alle Vorkommnisse zu besprechen und diese zu überdenken. Gleichzeitig war man dazu übergegangen, die Vorgänge zu archivieren. Auf diese Weise konnten auch alle anderen nachvollziehen, wie einzelne Entscheidungen zustande gekommen waren. Die Offenheit, mit der dies betrieben wurde, hatte das Vertrauen der Bevölkerung in den Rat gestärkt. Es gab hier zwar durchaus eine lebendige Diskussionskultur, jedoch auch die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen. Wenn man Balthasar sah, fiel sofort seine symmetrische Gestalt auf, die ihn auch sehr stolz machte. Er betonte beim Sprechen stets den Buchstaben „B“, er dachte, er könnte so seine Bedeutung noch hervorheben, da sein Name mit B begann. Auf diese Weise entstand in seinem Sprachmuster ein komisches Gefälle von dem fast spuckend ausgesprochenen „B“ bis zu den nachfolgenden Buchstaben. Man konnte meinen, dass er andeuten wollte, dass Balthasar zuerst da war und dann erst der Rest der Welt. Diese Überhöhung wies den Weg zu seinem Charakter. Balthasar war eitel und hielt sich für sehr schlau. Er war der Meinung, dass der Ratsvorsitz ihm allein zustand, seine arrogante Art war für viele im Rat ein rotes Tuch. Seine Sprache wirkte künstlich, er versuchte sich in komplizierten Redewendungen, um Eindruck zu machen, verlor hier jedoch manchmal selbst die Übersicht und dies führte zu den komischsten Sprachgebilden, was bei den Anderen Schadenfreude auslöste, die sie jedoch nicht offen zeigten. Im Allgemeinen war sein Sprachtalent aber gewaltig. Er wurde von den anderen auch deshalb geachtet, weil er die größten Visionen entwickeln konnte, die in ihrer Klarheit und Tiefe von den anderen nicht erreicht wurden. Seine Beiträge zu ihrer Gemeinschaft nahmen einen besonders großen Raum ein. Er war aber auch manchmal sehr aggressiv und selbstsüchtig. Nichtsdestotrotz wirkten die anderen regulierend auf ihn und alle waren einstimmig der Meinung, dass die Beiträge von Balthasar seine besonderen persönlichen Ausprägungen mehr als ausglichen. Balthasar war derjenige im Rat, der die meisten Veränderungen angestoßen hatte, oftmals jedoch mussten die anderen zusammenarbeiten, um allzu einschneidende Vorschläge abzumildern. Immerhin schienen Balthasar diese gelegentlichen Situationen, er gegen alle, nicht besonders zu tangieren. Er erhob zwar oftmals Widerspruch, aber in der jeweils folgenden Diskussion verzichtete er letztlich auf eine finale Konfrontation. Er befürchtete einen Autoritätsverlust einhergehend mit einer Minderung seiner Einflussmöglichkeiten. Trotzdem stellten ihn solche Prozesse nicht zufrieden, da sein Blick immer auf die Zukunft gerichtet war und er Veränderungen in den Mittelpunkt seiner Zufriedenheit stellte. Für ihn waren genau diese unsteten, unter Anpassungs- und Steuerungsdruck befindlichen Veränderungsprozesse die Würze des Lebens. Und er war in einem bestimmten Umfang rücksichtslos, wobei er dies erkannte, es aber für unabdingbar hielt, um für seine Familie Vorteile zu erreichen und um seinen Willen zu bekommen. Andererseits fand er, dass er auch für sein Volk wichtige Dienste verrichtete. Waren die anderen gebunden durch ihre Nähe zu den Traditionen und den meist daran hängenden starren Ritualen, begriff er sich eher als konventionslosen Freigeist. Er fand, dass er so sehr viel weiter über den Tellerrand schauen konnte als die anderen. Das er mehr in der Zukunft lesen konnte als die anderen und dass er offener und vorbehaltloser auch schwierige Entwicklungen begleiten konnte. Tatsächlich war er derjenige, der sich mit Abstand vor den anderen auch eher einer Ungewissheit stellen konnte. Er war mit sich zufrieden, wenngleich man manchmal die Wahl seiner Mittel verurteilen konnte.