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3. Von Elba nach Paris

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„MONSIEUR, MEIN BRUDER,

Sie werden im Laufe des vergangenen Monats von meiner Landung in Frankreich und meiner Ankunft in Paris sowie der Flucht der Bourbonen erfahren haben. Ihre Majestät sollte sich daher über die wahre Natur dieser Ereignisse völlig im Klaren sein. Sie sind das Werk einer unwiderstehlichen Macht des einmütigen Willens einer großen Nation, die sich ihrer Pflichten und Rechte bewusst ist. Eine ihm aufgezwungene Dynastie konnte das französische Volk nicht länger akzeptieren. Die Bourbonen lehnten die nationalen Gefühle und Gewohnheiten ab, so dass Frankreich gezwungen war, die Bourbonen abzuschaffen. Die Öffentlichkeit rief nach einem Befreier. Die Hoffnung, mich zum größten Opfer machen zu können, war vergeblich. Ich bin zurückgekehrt und von der Stelle, wo mein Fuß zuerst das Land berührt hat, wurde ich von der Zuneigung meiner Untertanen in das Herz meiner Hauptstadt getragen.

Diese große Zuneigung durch die Wahrung eines ehrenvollen Friedens zu belohnen, ist meine erste und tiefste Sorge. Die Wiederherstellung des kaiserlichen Throns war für das Glück Frankreichs unabdingbar und ich hoffe zuversichtlich, dass dies auch den Frieden für ganz Europa bedeutet.“

Napoleon am 4. April 1815 an Kaiser Franz I. von Österreich.19

Am 7. März 1815 erreichte den Vertreter Großbritanniens am Wiener Kongress, Arthur Wellesley, eine dringliche Nachricht des britischen Konsuls in Genua. Napoleon Bonaparte habe vor zehn Tagen die Insel Elba mit seinem gesamten Gefolge verlassen und nehme voraussichtlich Kurs auf die französische Küste. Für den seit knapp einem Jahr in den Herzogstand erhobenen Heerführer und Diplomaten war die Flucht des gestürzten Kaisers aus seinem Exil keine wirkliche Überraschung. Als britischer Botschafter in Paris hatte er im zurückliegenden Winter selbst erlebt, wie wenig Anhänglichkeit sich das restituierte Bourbonenregime in Frankreich erworben hatte. Die meisten Franzosen sahen in dem fettleibigen König und dem alten Lilienbanner über den Tuilerien nur die Symbole ihrer nationalen Demütigung. Sie waren der bittere Preis, den Frankreich für den Frieden und das rasche Ende der militärischen Besetzung ihres Landes hatte zahlen müssen. Da beide Ziele inzwischen erreicht waren, begann in der Erinnerung vieler der Glanz des napoleonischen Imperiums, das doch angeblich nur durch Verrat gefallen war, umso heller zu erstrahlen.

Dabei verfolgte Ludwig XVIII., der Bruder des 1793 guillotinierten Königs, durchaus nicht das Ziel, das Ancien Régime mit seinen verhassten Adelsprivilegien zurückzubringen. Von seiner berüchtigten „Veroner Erklärung“ von 1795 und der darin angekündigten Verfolgung der Königsmörder war jetzt keine Rede mehr. In seinen ersten Entscheidungen zeigte der Monarch, der fast 20 Jahre im britischen Exil zubringen musste, ein erstaunliches Fingerspitzengefühl. Sogar die politische Charta hatte er akzeptiert, die noch vor seiner Ankunft in Paris von einem provisorischen Senat unter Federführung des neuen Außenministers Charles Maurice Talleyrand erlassen worden war. Damit war Frankreich offiziell zu einer konstitutionellen Monarchie geworden.20

In der Praxis setzte sich die erste Kammer allerdings allein aus dem engen Kreis der Pairs zusammen, die der Monarch selbst bestimmen konnte, während das Deputiertenhaus wegen des hohen Zensus nur dem wohlhabenden Bürgertum zugänglich war. Der politisch eher desinteressierte König hatte die Staatsgeschäfte bald seinen Ministern überlassen und schien auch gegenüber den Vertretern der auswärtigen Mächte viel zu nachgiebig gewesen zu sein. Ein arbeitsfähiges Kabinett, das eine gemeinsame Politik formulieren konnte, existierte nicht. Die Bevölkerung schien angesichts der neuen Verhältnisse längst resigniert zu haben, doch den rasch wachsenden Einfluss der verhassten Exilanten und Kleriker am Hof registrierte man überall mit hilfloser Wut. Die Armee wiederum stand schmollend im Abseits und wartete insgeheim auf das Signal zum großen Umsturz.21

Dass der Korse in seinem ehemaligen Kaiserreich immer noch auf starken Zuspruch rechnen konnte, war seinen Widersachern in Wien durchaus bewusst gewesen. Mancher sah die tiefe Kluft zwischen Bonapartisten und Royalisten sogar als Vorteil. So hatte der preußische General August Graf Neidhardt von Gneisenau noch am 18. Februar 1815 in einem Brief an Oberst Carl von Clausewitz erwogen, Frankreich durch einen Bürgerkrieg zu schwächen, indem man Napoleon zur Flucht von Elba verhelfe.22 Dies blieb jedoch die isolierte Meinung einiger Preußen, die glaubten, dass ihre Rechnung mit Frankreich noch längst nicht beglichen war. Für Österreich und Großbritannien war dagegen von Anfang an die gefährliche Nähe der Insel zum europäischen Festland der heftigste Kritikpunkt am Vertrag von Fontainebleau gewesen, den der russische Zar Alexander I. im April 1814 mit Napoleon ausgehandelt hatte. Es hatten daher sogar schon Überlegungen in Wien die Runde gemacht, den Korsen in ein neues Exil auf St. Helena zu verlegen,23 zumal Ludwig XVIII. die vertraglich vereinbarten Zahlung von jährlich 2 Mio. Franc an den Korsen beharrlich verweigert hatte. Eine gewagte Provokation, deren Folgen niemand einschätzen konnte.

Auch wenn alle Verantwortlichen in Paris und Wien ahnten, dass sich die gespannte Lage in irgendeiner Form entladen musste, so hatte doch kaum jemand in Europa mit dem raschen und unblutigen Siegeszug des Korsen durch halb Frankreich gerechnet. Seine Hoffnungen hatte der Korse auf die Armee und vor allem auf die gewöhnlichen Soldaten gestützt, als er am 1. März 1815 bei Cannes mit nur 1100 Mann französischen Boden betrat. Napoleons Botschaft an sie war unmissverständlich: Soldaten, wir wurden nicht besiegt. „Zwei Männer aus unseren Reihen haben unseren Ruhm verraten, ihr Land, ihren Kaiser und Wohltäter.“ Gemeint waren die Marschälle Augerau und Marmont, die er ausdrücklich von seiner allgemeinen Amnestie ausnahm.24 Die Geschichtsklitterung seiner ersten Abdankung traf tatsächlich den Nerv der meisten Franzosen. In kaum drei Wochen zerrann die brüchige Autorität der Bourbonen. Das Heer ging dem König schneller von der Fahne, als selbst die größten Skeptiker befürchtet hatten. Es war wohl Ludwigs größter Fehler gewesen, sich nicht die Armee und vor allem die unteren Dienstgrade verpflichtet zu haben. Später resümierte Napoleon, dass er seinen spektakulären Erfolg nur den Bewohnern der Städte und Dörfer sowie den Soldaten und jüngeren Offizieren zu verdanken hatte. „Auf sie allein konnte ich mich verlassen. Sämtliche Generale dagegen, die ich auf meiner Reise traf, zögerten oder verhielten sich sogar unhöflich, selbst wenn sie mir nicht feindlich gesonnen waren. Aber die Begeisterung ihrer Soldaten zwang sie, mich passieren zu lassen.“25

Lyon fiel am 10. März und Marschall Michael Ney, der dem König in unbedachter Großmäuligkeit versprochen hatte, ihm „Bonaparte“ in einem eisernen Käfig zu überbringen, lief nur vier Tage später bei Lonsle-Saulnier (bei Besançon) mit allen seinen Truppen zu Napoleon über.26 Der König solle keine Truppen mehr schicken, der Kaiser habe jetzt genug, spotteten bereits die Bonapartisten in Paris, während Napoleon wie in früheren Tagen wieder seine Dekrete im ganzen Land verbreiten ließ. Überall sollte das Lilienbanner durch die Trikolore ersetzt werden und der Kaiser machte auch unmissverständlich klar, dass er die Marschälle Oudinout, Marmont und Gouvion Saint Cyr weiterhin als Verräter ansah.27

In der Nacht zum 20. März musste Ludwig XVIII., kaum elf Monate nach seiner Ankunft im Lande, mit seinem Gefolge erneut Paris verlassen und jenseits der französischen Grenzen in Gent Asyl suchen. Nur 18 Stunden später erreichte Napoleon die Hauptstadt und wurde am Abend im Triumph von seinen Anhängern in den Tuilerienpalast getragen. Bis dahin hatte seine auf nunmehr 40.000 Mann angewachsene Armee nicht einen einzigen Schuss abfeuern müssen.

Dass trotz aller Euphorie über den Triumphzug des Kaisers, der so sehr an seine früheren glänzenden Erfolge erinnerte, Napoleon das Land nicht mehr wie ein Autokrat regieren konnte, war selbst den Militärs klar. Als Oberst Charles de La Bédoyère am 7. März als einer der ersten Kommandeure der Armee in Grenoble die Seiten gewechselt hatte, war er dem Ankömmling aus Elba mit der Mahnung begegnet: „Sir, die Franzosen werden für Ihre Majestät alles tun, aber Ihre Majestät müssen auch alles für Sie tun: keinen Ehrgeiz mehr und keinen Despotismus. Wir wollen frei und glücklich sein.“28 Napoleon schien auf derartige Erwartungen einzugehen. Den Lyoner Behörden hatte er nur vier Tage später am 11. März versprochen, eine unverletzliche Verfassung zu verabschieden, die das gemeinsame Werk des Volkes wie auch des Kaisers sein sollte.29 Die Botschaft eines neuen konstitutionellen Kaisertums war ebenso sehr auch an das Ausland gerichtet. Von Frankreich ginge zukünftig keine Gefahr mehr aus.

Für die alliierten Mächte jenseits des Rheins war jedoch auch ein nicht mehr unbeschränkt herrschender Napoleon ein gefährlicher Störfaktor, der ihr so mühsam konstruiertes kontinentales Gleichgewicht dauerhaft bedrohte. Keiner der in Wien versammelten Monarchen und Diplomaten, die der Korse fast anderthalb Jahrzehnte lang erpresst, getäuscht und gedemütigt hatte, glaubte noch ernsthaft daran, dass ein erneuertes französisches Kaisertum unter Napoleon die Grenzen von 1792 akzeptieren und den Frieden in Europa wahren würde.

Schon der vorzeitige Alleingang von Joachim Murat, Napoleons Schwager und von ihm einst zum König von Neapel und Sizilien gemacht, schien der schlagende Beweis, dass dem Korsen nicht getraut werden durfte. Dabei war der Vormarsch der neapolitanischen Armee auf Bologna keineswegs mit dem Korsen abgestimmt. Zudem lehnte der Kaiser jede Unterstützung durch seinen einstigen besten Kavallerieführer auch aus prinzipiellen Erwägungen ab. Hatte doch Murat, der Sohn eines südfranzösischen Schankwirtes, im Januar 1814 überraschend die Seiten gewechselt, um seinen Thron zu retten. Nachdem seine mittelmäßigen Truppen am 2. Mai 1815 bei Tolentino den Österreichern unterlegen waren und ihm die Mehrheit seiner Soldaten nun offen von der Fahne ging, floh Murat mit einem Schiff nach Toulon. Seine wiederholten Angebote, wieder ein Kommando in der kaiserlichen Kavallerie zu übernehmen, ließ Napoleon jedoch unbeantwortet. So verbrachte Murat die Wochen bis zur zweiten Abdankung des Kaisers untätig in Lyon und kehrte nach Italien zurück, wo er schließlich im Oktober 1815 als Freischärler vor einem österreichischen Erschießungskommando endete.30

Abenteurer und Aufsteiger wie Napoleon oder Murat waren nun Figuren der Vergangenheit, notorische Störenfriede in einer Welt, die sich nach Ruhe und Ordnung sehnte. Hinter den traditionellen realpolitischen Erwägungen der in Wien versammelten Potentaten tauchte nun als völlig neuer Gedanke die Idee Europas als einer höheren Einheit auf. So sprach etwa Zar Alexander I. in seiner Adresse an seine Truppen von „der Menschheit und den Rechten Europas“, die sie nun erneut mit ihren Waffen verteidigen müssten, und auch sein Standesgenosse, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, sah jetzt Europa als Ganzes vom Korsen bedroht.31 Erstmals wurde damit der Kontinent, der bis dahin nur die Bühne dynastischer Rivalitäten und nicht mehr als ein geografischer Begriff gewesen war, zur maßgeblichen Bezugsgröße politischen Handelns erhoben. Die Idee, dass der europäische Friede nunmehr durch eine neue und innige Einvernehmlichkeit der europäischen Souveräne gefestigt werden müsse, manifestierte sich schließlich im Herbst 1815 in den Artikeln der „Heiligen Allianz“. Für „Übermenschen“ wie Napoleon war hier kein Platz mehr.

Die Bestrebungen vor allem des Zaren, aus dem alten Konzert rivalisierender Mächte eine Familie der Fürsten zu machen, hatten jedoch nicht verhindern können, dass sich während des Winters die Fronten in Wien zwischen Russland und Österreich bis hin zu offenen Kriegsdrohungen und geheimen Allianzen verhärtet hatten. Doch nach der Landung des Korsen in Südfrankreich war der Zwist sofort begraben worden und die Siegermächte von 1814 hatten sich erneut auf eine einheitliche Strategie geeinigt. Napoleon dürfe keine Zeit gelassen werden, Frankreichs immer noch gewaltige Ressourcen vollständig zu mobilisieren. Schon am 13. März 1815 hatten die verbündeten Monarchen Napoleon zum Gesetzlosen erklärt und zwei Wochen später erneuerten Österreich, Russland, Großbritannien und Preußen den Vertrag von Chaumont aus dem Vorjahr. Darin verpflichteten sich die vier Mächte noch einmal, keine separaten Verhandlungen mit dem Korsen zu führen und jeweils 150.000 Mann für einen neuen Feldzug zu mobilisieren. Zu einem vereinbarten Zeitpunkt sollten diese Heere gleichzeitig, aber an verschieden Punkten, die französischen Grenzen überschreiten und konzentrisch auf Paris marschieren.

Mehrere Schreiben, die Napoleon an den russischen Zaren sowie an seinen Schwiegervater, den österreichischen Kaiser, geschickt hatte, blieben ohne Antwort. Die Kuriere wurden nicht einmal über die Grenze gelassen. Selbst eine Kopie des geheimen antirussischen Bündnisses, das Österreich, Großbritannien und Frankreich erst im Januar gegen Russlands Ambitionen auf ganz Polen geschlossen hatten, vermochte Alexander I. nicht umzustimmen. In der ersten Aprilwoche schwand für Napoleon die letzte Hoffnung, einen Krieg noch vermeiden zu können. Keiner seiner Minister glaubte angesichts der gemeinsamen Front der Gegner noch an einen Erfolg des restituierten Kaisertums.32

Spätestens im Sommer drohte Frankreich eine neuerliche Invasion von mehr als 800.000 Mann, denen der Kaiser vorerst kaum mehr als 100.000 Soldaten entgegenstellen konnte. Ein Dekret vom 9. April rief daher alle noch geduldet oder unerlaubt von der Armee abwesenden Soldaten, dies war immerhin mehr als die Hälfte, zu den Fahnen zurück. Zur Überraschung von Kriegsminister Louis-Nicolas Davout folgten dem Aufruf trotz seiner Schockwirkung im Lande bis zum 10. Juni mehr als 80.000 Soldaten.33 Als Freiwillige ließen sich jedoch nur 15.000 Mann mobilisieren. Drastischere Maßnahmen waren nötig. Noch einmal wurde der Geist von 1792 beschworen, Lazare Carnot, der Vater der Levée en masse zum Innenminister ernannt. In weiteren Dekreten befahl Napoleon die Aufstellung von 326 Bataillonen der mobilen Nationalgarde. Tatsächlich hatten sich bis zum 15. Juni von den aufgerufenen 230.000 Dienstpflichtigen immerhin 150.000 in den Depots eingefunden. Wer kam, tat es so gut wie freiwillig, und so fand der Diensteifer der Gardisten auch die Anerkennung mancher Generale. Die zehn Bataillone der Nationalgarde aus Nancy seien ausgezeichnet, schrieb General Maurice Gérard, der Befehlshaber des IV. Armeekorps, am 10. Juni an General Dominique Vandamme. In höchstens drei Wochen gäbe es keinen Unterschied mehr zwischen ihnen und den Regulären.34 Aus den noch dienstfähigen 25.000 Veteranen, die trotz ihres Alters von mehr als 40 Jahren dem kaiserlichen Aufruf vom 18. Mai gefolgt waren, bildete das Kriegsministerium insgesamt 56 Infanteriebataillone und 25 Batterien zur Verteidigung der Festungen und anderer wichtiger Geländepunkte. Dazu kamen vielfach noch die örtlichen Nationalgarden, wie etwa die 18.000 freiwilligen Arbeiter aus dem Pariser Faubourg, aus denen 24 Scharfschützenbataillone zur grenznahen Verteidigung gebildet wurden. Andere Städte, wie etwa Lyon, folgten dem ermutigenden Beispiel. Aus dem Departement Aisne meldeten sich 18.000 Mann aller Kategorien und der Präfekt schrieb an Kriegsminister Davout, dass er nicht zögern werde, so viele Soldaten zu stellen, wie es Waffen gebe. Landesweit bezifferte sich die Stärke der Reservearmee schließlich auf 196.000 Mann.

Napoleons Behauptung in seinen Memoiren, er habe somit zum 1. Juni 559.000 Mann unter Waffen gehabt, stimmt allerdings nur bedingt. Tatsächlich bewaffnen konnte er vorerst nur wenig mehr als die 217.000 Soldaten seiner Feldarmee. Zwar waren die Bataillone, die unter Ludwig XVIII. aktiven Dienst geleistet hatte, ausreichend ausgerüstet. Doch für die Neuaufstellung gab es kaum 200.000 Musketen in den Depots, die zu einem Drittel auch noch reparaturbedürftig waren. Es fehlten Schuhe, Uniformen, Pferde und Munition für die Artillerie, deren Bedarf auf immerhin 600.000 Ladungen geschätzt wurde.35

Gestützt auf 50 Mio. Franc, die der bourbonische Finanzminister, Baron Joseph Dominique Louis, zu Börsenspekulationen zur Seite geschafft hatte und die nach seiner Flucht in der Staatskasse gefunden worden waren, erweckte Napoleon die französische Kriegswirtschaft wieder zum Leben. Allein für die Ausrüstung der 150.000 mobilen Nationalgardisten veranschlagte das Kriegsministerium Kosten von 24 Mio. Franc. Zwar kamen Steuererhöhungen mit Rücksicht auf die öffentliche Stimmung nicht infrage, doch schließlich stimmte der Kaiser der Idee einer Zwangsanleihe zu, für deren Sicherheit mit den staatlichen Wäldern garantiert wurde. Jeder Franzose wurde verpflichtet, einen Anteil zu zeichnen, der sich nach seinem Grundbesitz und seinem Steueraufkommen bemaß. Das verschaffte der Staatskasse noch einmal 150 Mio. Franc.36 Im Mai arbeitete bereits ein Großteil der Wirtschaft des Landes für die Armee, allein das Hauptarsenal von Vincennes (bei Paris) produzierte innerhalb nur zweier Monate zwölf Mio. Musketenpatronen. Monatlich verließen jetzt 20.000 Musketen die staatlichen Manufakturen und private Unternehmen setzten ebenso viele ausgeschossene Exemplare wieder instand. Im Ausland beschaffte Gewehre gelangten auf abenteuerlichen Wegen ins Land. Einzig der Bestand der Feld- und Festungsartillerie war mit fast 14.000 Geschützen zufriedenstellend. Neu eingerichtete Pariser Werkstätten produzierten jetzt täglich 1250 Uniformen, während Zehntausende von Arbeitern die heruntergekommenen Grenzbefestigungen ausbesserten. Der Bestand an Pferden für die Kavallerie, die Artillerie und den Tross erhöhte sich durch ein Bündel von Maßnahmen, wozu auch die Einziehung der Gendarmeriepferde gegen eine Entschädigung zählte, auf gut 40.000 Tiere.

Bereits am 26. März hatte Napoleon die Neuordnung der Armee in acht Armeekorps befohlen. Anfangs nur mit zwei Bataillonen je Regiment versehen, waren es tatsächlich kaum mehr als Beobachtungskorps, die sich entlang der Grenze von Lille bis zu den Alpen und den Pyrenäen verteilten. Ende Mai, nachdem die Auffüllung der Regimenter mit den Rückkehrern, den Freiwilligen und Teilen der mobilen Nationalgarde abgeschlossen war, bildete der Kaiser aus dem I., II., III., IV. und VI. Armeekorps sowie der Garde mit insgesamt 124.000 Mann die Armée du Nord, aus dem V. Armeekorps des Generals Jean Rapp bei Strassburg die Rheinarmee. Mit 23.000 Mann war es numerisch etwa so stark wie das Korps des Marschalls Louis Suchet, das, um Lyon gruppiert, die Übergänge über die Alpen decken sollte. Der Sohn eines Lyonäser Seidenfabrikanten galt als einer der brillantesten Truppenführer des Kaiserreiches. Es wären für ihn wohl durchaus wirkungsvollere Positionen in Betracht gekommen, hätte der Marschall nach der Flucht des Königs nicht ganze zwei Tage gezögert, die Festung Strassburg an die Bonapartisten übergeben. Zu Suchets Unterstützung waren noch zwei kleinere Korps (Var und Jura) von zusammen 20.000 Mann gebildet worden. Die Deckung der Pyrenäen übernahm das in zwei Gruppen aufgeteilte VIII. Korps. Zusammen mit der Westarmee von General Lamarque absorbierten diese Formationen mehr als ein Drittel des gesamten Feldheeres. Von diesen insgesamt 85.000 Soldaten stammte allerdings bereits ein Drittel der Mannschaften aus der mobilen Nationalgarde. Während diese Kräfte sich zunächst defensiv verhalten sollten, war Napoleon entschlossen, mit seiner Hauptarmee die Entscheidung in Belgien zu suchen.

Selbst heute noch erscheint sein Entschluss zur Offensive, der schließlich die Hälfte seiner Soldaten das Leben kosten sollte, als konsequent und folgerichtig. Die Option des Abwartens, um den Gegner kommen zu lassen, hätte nur zu einer Wiederholung des Feldzuges von 1814 geführt, zu politischen Intrigen und neuerlichem Verrat. Allein der Angriff und rasche Siege boten dem Kaiser die Chance auf ein politisches Überleben. Napoleon handelte also keineswegs wie ein Spieler. Viele Fakten sprachen für ihn. Belgien hatte zuvor zwei Jahrzehnte lang zu Frankreich gehört. Vor allem in den frankophonen Gebieten haderte seine Bevölkerung mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses. Man wollte nicht Teil der Niederlande sein und Napoleon durfte daher auf seinem Weg nach Brüssel mit erheblichen Sympathien rechnen. Zwar standen die beiden feindlichen Armeen in Belgien unter dem Befehl von Wellington und Blücher, die zusammengenommen beinahe die doppelte Übermacht gegen den Korsen in die Waagschale werfen konnten. Doch die zwei nach Napoleon renommiertesten Feldherren ihrer Epoche verfügten inzwischen nicht mehr über ihre hervorragenden Armeen aus dem Vorjahr. Beide Aufgebote waren in ihrer Zusammensetzung sehr heterogen und ihre Soldaten besaßen im Gegensatz zu ihren französischen Gegnern nur zum Teil Kampferfahrung. Von den 15.000 britischen Fußsoldaten hatte die Hälfte sogar noch nie auf einen Feind geschossen.37 Viele niederländische Soldaten wiederum waren vor weniger als einem Jahr noch unter den kaiserlichen Adlern marschiert.

Gelang es Napoleon tatsächlich, seine beiden Gegner zu spalten und anschließend einzeln zu schlagen, so wäre es ein Paukenschlag, dessen politische Folgen die militärischen noch weit überboten. Für Napoleon hätte es die Stabilisierung seiner Herrschaft bedeutet, für die Alliierten dagegen eine ernste Koalitionskrise. Zudem hätte er Zeit gefunden, durch härtere Rekrutierungsmaßnahmen seine militärische Machtbasis zu erweitern und zu festigen. Noch vor dem 15. Juni hatten sich in den Depots bereits 50.000 Konskribierte des Jahrganges 1815 eingefunden. Auch die personellen Ressourcen besonders der westlichen Departements waren noch längst nicht ausgeschöpft. Es schien also keineswegs ausgeschlossen, bis zum Herbst eine Armee von 800.000 Mann aufzustellen und auszurüsten. Nur in Belgien gab es eine militärische Chance und Napoleon griff nach ihr mit aller Konsequenz.

Die Schlacht

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