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Waterloo – der vereinnahmte Sieg

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„Um Mitternacht in Waterloo, von der Verfolgung zurückkommend, die ich mit der preußischen Armee bis vor Genappe fortgesetzt hatte, sagte ich dem Herzog (von Wellington, KJB), der Feldmarschall (von Blücher, KJB) werde die Schlacht „Belle Alliance“ benennen. Er gab mir keine Antwort darauf und ich bemerkte sogleich, dass er nicht die Absicht hatte, ihr diesen Namen zu geben. Ob er nun fürchtete, sich selbst oder seiner Armee etwas dadurch zu vergeben, ich weiß es nicht…“

Friedrich Karl Freiherr v. Müffling genannt Weiß, Aus meinem Leben1

Den Namen des Ortes kenne er zwar nicht, schrieb Fähnrich Charles Short von den Coldstream Guards am 19. Juni 1815 aus dem belgischen Nivelles an seine Mutter in England, „aber Du wirst ihn sicherlich aus der Zeitung erfahren und Europa wird sich an ihn erinnern, solange Europa Europa ist.“2

Wenn auch geografisch alles andere als korrekt, trägt inzwischen das Schlachtfeld, auf dem der Herzog von Wellington und der preußische Feldmarschall Fürst Blücher von Wahlstatt gemeinsam ihren korsischen Widersacher bezwangen, den Namen „Waterloo“.

Wie die meisten Überlebenden des zehnstündigen mörderischen Schlagabtausches zweifelte der junge Short keinen Augenblick daran, dass er und seine Kameraden am Vortag an einem weltgeschichtlichen Ereignis teilgenommen hatten. Nicht nur der Großteil der französischen Armee war an diesem Sonntagabend untergegangen, auch die wohl herausragende Persönlichkeit ihrer Epoche, Napoleon Bonaparte, war für immer von der Bühne der Geschichte abgetreten.

Mehr als acht Stunden hatte eine britisch-niederländisch-deutsche Armee unter dem Befehl des Herzogs von Wellington den nur wenig koordinierten, aber wuchtigen Schlägen der kaiserlichen Streitmacht standgehalten, hatte das endlose Bombardement aus mehr als 200 französischen Geschützen ertragen, ehe am frühen Abend das Erscheinen von 40.000 Preußen in der rechten Flanke der Franzosen die Schlacht entschied.

Auch wenn die zu Tode erschöpften Soldaten der beiden siegreichen Armeen, betäubt vom stundenlangen Geschützlärm und durstig von dem Geschmack des Schwarzpulvers in ihren Mündern, für die nächsten Stunden zunächst damit beschäftigt waren, auf dem von mehr als 40.000 Toten und Verwundeten bedeckten Schlachtfeld Trinkwasser, Verpflegung und wohl auch Beute zu finden, so stand für die meisten doch zweifelsfrei fest, dass sie sich nunmehr auf historischem Boden bewegten.

Keiner der beteiligten Soldaten konnte in dieser Nacht oder an den noch folgenden Tagen überblicken, dass mit „Waterloo“ unwiderruflich die lange Epoche der Revolutionskriege zu Ende gegangen war, die Europa ein Vierteljahrhundert lang bis in die Weiten Russlands in Flammen gesetzt hatten. Wenige ahnten vielleicht, dass nunmehr Großbritanniens hundertjährige Weltherrschaft beginnen würde. Wohl aber hatte sie alle die unmittelbare Erfahrung der so plötzlichen und vollkommenen Wende des Schicksals erschüttert. Schien das militärische Genie Napoleon noch kurz vor 19 Uhr unmittelbar vor dem erhofften Sieg gestanden zu haben, so strömte seine Armee nur wenige Minuten später bereits in voller Auflösung zurück auf ihre Ausgangsposition bei Belle Alliance und sogar noch weiter nach Genappe. In einer gewaltigen Arena von etwa anderthalb Kilometern Breite und vier Kilometern Länge hatte sich in den Abendstunden des 18. Juni 1815 in bestürzender Schnelligkeit ein Drama vollendet, das die Ereignisse der großen Schlacht von Leipzig nur 21 Monate zuvor weit in den Schatten stellte.

Obwohl von den etwa 180.000 Kämpfern bei Waterloo beinahe die Hälfte Deutsche aus Preußen, Braunschweig, Nassau und dem Königreich Hannover waren, spielte die Schlacht im nationalen Erinnerungskanon nie eine herausragende Rolle. Es mag damit zu tun haben, dass sich einzig in Preußen Blüchers redlich gemeinter Vorschlag durchsetzen konnte, die Schlacht nach dem Farmhaus „La Belle Alliance“ zu benennen, wo er am Abend mit Wellington zusammengetroffen war. Selbst in den anderen beteiligten deutschen Staaten war auf zahlreichen Denkmälern und Erinnerungsmedaillen von Anfang an der Name jener Ortschaft etwa sechs Kilometer nördlich des Schlachtfeldes vermerkt, wo Wellington jeweils in der Nacht davor und danach sein Quartier genommen hatte.

Mit dem Namen Waterloo aber war die große Schlacht vor den Toren Brüssels unwiderruflich zu einem Sieg Wellingtons und seiner britischen Soldaten gestempelt. Kein Brite des heraufziehenden Viktorianischen Zeitalters zweifelte denn auch daran, dass der Herzog die Schlacht nur mit einem kleinen Kern von entschlossenen „Rotröcken“ gewonnen hatte, assistiert lediglich von seinen niederländischen und deutschen Hilfstruppen. Die preußischen Veteranen konnten es verschmerzen, hatten sie doch mit Leipzig einen eigenen Gedenkort, der nicht der Willkür der Belgier, Briten oder Franzosen unterlag.3 Nach den Einigungskriegen 1864–1871 verdrängten dann endgültig neue spektakuläre Siege wie der von Sedan das Gedenken an Waterloo. Im prosperierenden Wilhelminischen Reich hatte schließlich das einst verbündete England anstelle von Frankreich die Rolle des großen Rivalen übernommen. Da passte es durchaus ins Bild, dass die „perfiden Vettern“ jenseits des Ärmelkanals die Leistungen der Preußen und der anderen deutschen Kontingente gegen Napoleon immer noch herunterzuspielen pflegten.

Kupferstich von 1816: „Vue de la ferme de la Belle Alliance. Dessinée deuxjours après la Bataille de Watterloo ou du Mont St. Jean“ (aus: François-Thomas Delbare, Brüssel 1816).

In Großbritannien war der Name der Schlacht und die Erinnerung an die darin erbrachten Opfer sogleich so allgegenwärtig, dass 1819 ein Aufsehen erregendes Massaker an Demonstranten für eine Wahlrechtsreform auf dem St. Peters Field bei Manchester im ganzen Land bald nur noch unter dem Namen „Peterloo“ kursierte. Zwei Jahre früher war in London bereits die Waterloo-Brücke eröffnet worden und Dutzende von Straßen und Plätzen im gesamten Königreich wurden nach Wellingtons größtem Sieg umbenannt. Aus britischer Sicht hatte der Herzog bei Waterloo nur vollendet, was Admiral Nelson ein Jahrzehnt zuvor bei Trafalgar begonnen hatte.4 Über den französischen Furor und das militärische Genie des Korsen hatten britische Disziplin, Ausdauer und Beharrungsvermögen die Oberhand behalten. Es waren zugleich auch schon die Tugenden des neuen Industriezeitalters.

An der entscheidenden Rolle Wellingtons in der Schlacht hat im Kern auch die neuere Historiografie festgehalten, obwohl der Herzog selbst sich stets geweigert hatte, in die schon bald geführte Debatte über die Ursachen des Sieges einzugreifen. Aus seiner Feder existiert lediglich der noch am späten Abend des 18. Juni verfasste Bericht an den britischen Kriegsminister, den Earl of Bathurst. Zwar werden inzwischen von fast allen Autoren die Versäumnisse des Herzogs eingeräumt. Selbst ein Hagiograf wie Jac Weller lässt seiner Analyse der Führungsleistung Wellingtons bei Waterloo immerhin ein Kapitel über Wellington’s Mistakes folgen, aber nur, um darin jeden jemals erhobenen Vorwurf gegen seinen Helden zu widerlegen.5

Sogar bei deutschen Autoren wie dem Napoleon-Biografen Johannes Willms hat sich die Auffassung gehalten, dass Waterloo der Sieg Wellingtons gewesen sei.6

Es erstaunt, dass trotz des Cultural Turn in der Militärgeschichte auch in jüngeren Publikationen zur Schlacht das Geschehen immer noch gern im Lichte der großen Entschlüsse betrachtet wird. Das gilt auch für die ansonsten wohl lesenswerteste Darstellung der Schlacht aus der Feder des Belgiers Jacques Logie. Dabei hatte spätestens in den 1970er-Jahren John Keegans bahnbrechende Studie The Face of Battle (dt. „Die Schlacht“) das Erleben der einfachen Soldaten bei Waterloo in den Blick gerückt und nebenher die schon von Stendhal in der „Kartause von Parma“ gestellte Frage aufgeworfen, ob sich aus der begrenzten Perspektive der Beteiligten überhaupt jemals ein konsistentes Bild der Abläufe des 18. Juni rekonstruieren lässt. Keegan schöpfte dabei aus einem großen Fundes von Erlebnisberichten von Offizieren aller Dienstgrade und auch der einfachen Soldaten. Schließlich war Waterloo auch die erste Schlacht in der europäischen Geschichte, die zum Objekt eines aufwendigen Oral-History-Projekts wurde. Nur zwei Dekaden nach dem Sturz Napoleons hatte der britische Hauptmann William Siborne, der selbst nicht an der Schlacht teilgenommen hatte, Hunderte von Überlebenden nach ihren Erfahrungen von Waterloo befragt und einen Korpus von etwa 500 Erlebnisberichten und Beiträgen zusammengebracht.7

Spätestens seit der Veröffentlichung eines Teils dieser Sammlung als Waterloo-Letters im Jahre 1891 durch Sibornes Sohn, Generalmajor Herbert Siborne, haben die meisten Autoren, die seither über Waterloo schrieben, auf den eindrucksvollen Bestand zurückgegriffen und damit fraglos ihren Darstellungen größere Anschaulichkeit und Lebendigkeit verliehen.

Doch nach wie vor geht es in allen Büchern über Waterloo um die großen Entscheidungen. Das Kämpfen und Leiden der Soldaten bleiben schmückendes Beiwerk. Darüber stehen turmhoch weiterhin das „strategische Genie“ und das Charisma Napoleons oder auf der Gegenseite Wellingtons taktisches Geschick und seine außergewöhnliche Kaltblütigkeit.8 Auch Sergej Bondartschuks Film „Waterloo“ aus dem Jahre 1970 schildert die große Schlacht konsequent als Duell der beiden Feldherren, während Blüchers Preußen darin lediglich als Fußnote in Erscheinung treten.9

Gewiss prägten die großen Entschlüsse und Irrtümer den Feldzug von 1815, lenkten die Kämpfe in bestimmte Räume, zersplitterten Truppen oder massierten sie. Versäumnisse und Missgriffe scheint es aber auf beiden Seiten gegeben zu haben. Wellington etwa verschlief praktisch den ersten Tag des Feldzuges und hätte die wichtige Kreuzung von Quatre Bras am Abend des 15. Juni beinahe unbesetzt gelassen, während Blücher einen Tag später nicht in der Lage war, mit 80.000 Preußen das Schlachtfeld von Ligny gegen 60.000 Franzosen zu behaupten. Napoleon wiederum verpasste am Vormittag des 17. Juni die einmalige Gelegenheit, Wellingtons noch unvollständige Armee isoliert bei Quatre Bras zu schlagen. Man könnte am Ende einer langen Aufrechnung vielleicht sogar von einem Patt der Fehler und Versäumnisse sprechen.

Allen zuvor versäumten Chancen zum Trotz hatte Napoleon am Mittag des 18. Juni immerhin fünf Stunden Zeit, um mit seiner vergleichsweise erfahrenen, homogenen und gut ausgebildeten Armee, unterstützt von fast 250 Geschützen, Wellingtons bunt gemischte Truppe zu schlagen, ehe nur ein einziger Preuße einen Schuss abgeben konnte. Strategisch hatte er den Feldzug zu diesem Zeitpunkt gewonnen, um ihn in den folgenden acht Stunden taktisch zu verlieren. Warum aber misslang der Angriff des Korps d’Erlon mit fast 20.000 Mann gegen Wellingtons nur halb so starken linken Flügel? Warum blieb Gut Goumont in englischer Hand und weshalb dauert es mehr als sechs Stunden, bis das schwach besetzte Farmhaus La Haye Sainte endlich von den Franzosen erobert wurde? Und schließlich: Weshalb scheiterte ausgerechnet Napoleons Elite am Ende der Schlacht, geführt von den besten Generalen der Armee, in beinahe kläglichster Form?

Nicht der scheinbar verblassende Genius des Korsen oder die angeblichen oder echten Fehler seiner Marschälle haben offenbar Frankreich 1815 in die Niederlage gestürzt. Es waren eher die zahllosen blutigen Duelle auf Kompanie- und Bataillonsebene, die vielen kleinen Entscheidungen, wie sie John Keegan in seinem Buch so exzellent beschrieben hat, die sich schließlich zum großen Untergang einer ganzen Armee aufsummierten.10 Das scheint wohl die wahre Geschichte von Waterloo zu sein.

Die Schlacht

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