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Оглавление1. Emma der Wolf muss heimkehren
Jeder im Zelt spürte sofort, es musste etwas Schreckliches passiert sein. In Sekunden waren alle um Emma der Wolf und seinen Onkel versammelt. Keiner wagte zu fragen, bis dann Emma der Wolf mit zittriger Stimme begann: »Onkel, was ist geschehen? Erzähle, was ist passiert? Ist etwas mit Urgroßmutter? Was ist mit meinen Eltern?«
Sein Onkel rang immer noch nach Luft. Langsam begann er zu sprechen: »Junger Wolf, bitte komm so schnell wie möglich nach Hause.«
Danach musste er wieder nach Luft schnappen, denn seine Stimme zitterte und überschlug sich. Jeder in der Gruppe bemerkte sofort, dass der Onkel von Emma der Wolf noch gar nicht mitbekommen hatte, was hier in den letzten Tagen geschehen war, geschweige denn von der großen Preisverleihung etwas gehört hatte. Wie konnte er auch? Er war wohl Tag und Nacht nur gelaufen.
Erneut setzte er an und begann zu erzählen: »Junger Wolf, dein Vater ist schwer verletzt. Er kann auch nicht laufen. Er und der Rat der Alten haben mich beauftragt, dich zu holen. Von Holunderfee weiß ich, dass ihr noch hier bei der Olympiade seid.«
»Aber Onkel, bitte berichte doch, was zu Hause geschehen ist!« Und sein Onkel, der wieder einigermaßen zu Luft gekommen war, begann: »Vor etwa zwei Wochen war eine recht große Rotte von Wildschweinen in der Nähe unseres Rudeldorfes gesichtet worden. Zuerst beobachteten wir sie in der Hoffnung, sie würde weiterziehen, was sie ja auch normalerweise tut. Diese Rotte jedoch zog nicht weiter. Sie blieb über Tage in gefährlicher Nähe zu unserem Dorf. Also mussten wir sie vertreiben. Wir planten einen Scheinangriff, um sie zu erschrecken. Dann wäre sie geflüchtet und alles wäre erledigt gewesen.«
Alle in der Gruppe hörten gespannt zu, keiner regte sich. Jeder wartete auf die Fortsetzung der dramatischen Geschichte.
»Aber es kam anders«, fuhr der Onkel fort. »Einige kräftige Keiler setzten zum Angriff an, anstatt fortzulaufen. Genau in dem Moment, als dein Vater, unser Wolf, jemandem zu Hilfe kommen wollte, schlug ein Keiler mit seinen Hauern zu und verletzte ihn schwer. Zum Glück zog sich die Wildschweinhorde danach zurück und wir konnten deinen Vater schnell nach Hause bringen. Ein Bein ist gebrochen und er wird wohl eine ganze Zeit nicht laufen können. Außerdem hat er heftige Schmerzen und auch viel Blut verloren.«
Insgeheim war jeder in der Gruppe froh, dass nichts Schlimmeres passiert war. Es war zwar eine schwere Verletzung, jedoch keine lebensgefährliche. Nur die Älteren der Gruppe erkannten die Tragweite dieses Unfalls. Würde sein Vater jemals wieder richtig laufen können? Könnte er dann noch weiter Leitwolf sein?
Nach Sekunden der Anspannung ergriff der Leitwolf das Wort: »Emma der Wolf, wenn du möchtest, brechen wir sofort auf. In fünfzehn Minuten haben wir das Zelt abgebaut und alle Sachen verpackt. Wenn wir uns beeilen, sind wir in drei Tagen zu Hause und du bei Holunderfee. Von dort aus kannst du dann mit deinem Onkel schnell weiter zu deinem Vater. Ich werde noch zwei kräftige Wölfe abstellen, die euch auf eurem Weg begleiten.«
»Danke dir, guter Wolf«, sagte Emma der Wolf. »Ja, so machen wir es. Ich werde mich nur noch ganz schnell bei meinen Freunden, den anderen Sportlern, verabschieden. So hatten wir es gestern verabredet.«
Während einige aus der Gruppe das Zelt abbauten und andere die Sachen zusammenpackten und Müll wegräumten, waren zwei Wölfe der Abschlussklasse eingeteilt, den Onkel mit frischer, heißer Kaninchenbrühe und kräftigem Brot zu versorgen. Viel Zeit, sich zu erholen, hatte er ja nicht.
Etwa zwanzig Minuten später kehrte Emma der Wolf zurück. In der Gruppe lachte man wieder, man freute sich auf zu Hause und das war auch gut so. Alles war gepackt, man konnte gleich aufbrechen.
Nur Bärenkennerin war nicht so richtig zum Lachen zumute. Ihr Weg führte sie in eine andere Richtung zurück zu ihrem Rudel, etwa zwei Tagesreisen vom Olympiadorf entfernt. Sie musste Emma der Wolf und die beiden Wolfsbrüder zurücklassen. Die beiden Wolfsbrüder nämlich, die sie ja mit ins Rudel von Holunderfee gebracht hatte, wollten auf keinen Fall zurück. Dort im Rudel von Bärenkennerin hatten sie keine Familie mehr. Und da Emma der Wolf ihnen einen Platz in seinem Rudel versprochen hatte, wollten sie unbedingt bei ihm bleiben.
Als sie sich verabschiedeten, überreichte Bärenkennerin Emma der Wolf ein Lederhalsband mit einer weißen Bärenkralle. Dabei sagte sie leise zu ihm: »Mein guter, mein lieber Emma der Wolf, diese alte Bärenkralle soll dich immer beschützen. Bitte nimm sie. Ich habe sie vor langer Zeit von meinem Großvater geschenkt bekommen.« Voller Stolz hängte er sich das Amulett um den Hals und drückte Bärenkennerin ganz fest.
Einen Augenblick später war Stille eingekehrt. Die Gruppe war auf dem Rückweg. Alle liefen in der Ordnung und Reihenfolge, wie sie der Leitwolf vorgegeben hatte. Sie kamen gut voran und erreichten tatsächlich im Laufe des dritten Tages ihr Rudeldorf. Während Emma der Wolf, sein Onkel und die beiden Wolfsbrüder unverzüglich zu Holunderfee gingen, versuchte der Leitwolf den Vorsitzenden des Rates der Alten zu treffen. Ihm wollte er zuerst von den großen Erfolgen bei der Olympiade berichten, dann aber auch mitteilen, dass Emma der Wolf am nächsten Tag unbedingt nach Hause müsse, da sein Vater schwer verletzt sei.
»Haben wir also keine Zeit, ein großes Fest zu feiern und ihm dabei zu danken für die große Ehre, die er uns und unserem Rudel erwiesen hat?«, fragte der Vorsitzende. Und mit traurigen Augen fügte er hinzu: »Aber ich verstehe auch, er muss so schnell wie möglich zu seiner Familie zurück. Außerdem, in solch einer Situation wird sein Rudel ihn dringend brauchen.«
In diesen traurigen Moment hinein fragte der Leitwolf: »Können wir ihm nicht wenigstens einen Abschied bereiten, wie er ihn noch nie erlebt hat?«
Da glänzten die Augen des Vorsitzenden wieder und er sagte: »Richtig, Leitwolf, das ist es. Bitte lass uns sofort an die Arbeit gehen und alles vorbereiten.«
Obwohl es für Wölfe nachts sicherer ist, entschied Emma der Wolf, schon am späten Vormittag des folgenden Tages aufzubrechen. Er wollte Zeit gewinnen. Sie würden sich halt auf ihrem Weg vorsichtiger bewegen müssen. Dann gingen sie schlafen. Sie brauchten Kraft für den zweiten Teil der Reise.
Holunderfee allerdings ging nicht schlafen. Sie verschwand sofort in ihrer Kräuterkammer und mischte Salben und Säfte für den Vater, die seine Schmerzen lindern und seine Verletzungen heilen helfen sollten. Als sie dann spät in der Nacht ebenfalls zu Bett ging, standen die Arzneien wohl verpackt in der Küche zum Mitnehmen bereit.