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Christliche Verdammung

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Mit dem Untergang des Römischen Reichs und der Verbreitung des Christentums im Abendland nimmt die theologische Verdammung der Selbsttötung zum Selbstmord ihren Lauf, und das nicht nur im Sinn des wörtlichen Gebrauchs.

Die Bibel konnte für diese Art des Kreuzzugs jedoch nicht zitiert werden. An keiner Stelle des heiligen Buchs findet sich eine Verurteilung der Tat oder der Täter. Im Gegenteil, an sechs Stellen im Alten Testament und an einer Stelle im Neuen Testament wird von mehreren Selbsttötungen berichtet:

1. Die Selbsttötung des Abimelech, Buch der Richter, 9. Buch, Vers 52–54. Abimelech will seine Ehre gerettet wissen, seine Ehre als Mann und Krieger. Es heißt:

„52 Abimelech rückte an die Burg heran und eröffnete den Kampf gegen sie. Als er sich dem Burgtor näherte, um es in Brand zu stecken,

53 warf eine Frau Abimelech einen Mühlstein auf den Kopf und zerschmetterte ihm den Schädel.

54 Da rief er seinen Waffenträger und sagte zu ihm: Schnell, zieh dein Schwert und töte mich! Man soll nicht von mir sagen: Eine Frau hat ihn umgebracht. Der junge Mann durchbohrte ihn und er starb.“

2. Die Selbsttötung des Simson, Buch der Richter, 16. Buch, Vers 25–31. Simson opfert sich für sein Volk. Es steht geschrieben:

„25 Als sie guter Dinge waren, sagten sie: Ruft Simson her, wir wollen unseren Spaß mit ihm treiben. Und sie ließen Simson aus dem Gefängnis holen, damit er ihr Spaßmacher sei. Sie stellten ihn zwischen die Säulen.

26 Simson aber sagte zu dem Jungen, der ihn an der Hand führte: Lass mich los, ich will die Säulen betasten, von denen das Haus getragen wird, und mich daranlehnen.

27 Das Haus war voll von Männern und Frauen; alle Fürsten der Philister waren da und auf dem Flachdach saßen etwa dreitausend Männer und Frauen. Sie alle wollten Simson als Spaßmacher sehen.

28 Simson aber rief zum Herrn und sagte: Herr und Gott, denk doch an mich und gib mir nur noch dieses eine Mal die Kraft, mein Gott, damit ich an den Philistern Rache nehmen kann, wenigstens für eines von meinen beiden Augen.

29 Dann packte Simson die beiden Mittelsäulen, von denen das Haus getragen wurde, und stemmte sich gegen sie, gegen die eine mit der rechten Hand und gegen die andere mit der linken.

30 Er sagte: So mag ich denn zusammen mit den Philistern sterben. Er streckte sich mit aller Kraft und das Haus stürzte über den Fürsten und über allen Leuten, die darin waren, zusammen. So war die Zahl derer, die er bei seinem Tod tötete, größer als die, die er während seines Lebens getötet hatte.

31 Seine Brüder und die ganze Familie seines Vaters kamen herab; sie holten ihn, brachten ihn heim und begruben ihn zwischen Zora und Eschatol im Grab seines Vaters Manoach. Simson war zwanzig Jahre lang Richter in Israel.“

In Vers 31 steht geschrieben, wie Simson mit allen Ehren im Kreis seiner Familie im Grab seines Vaters beigesetzt wird. Von den Kirchenvätern des Mittelalters wurde dem „Selbstmörder“ eine normale Bestattung versagt. Dazu später mehr.

3. Die Selbsttötung des Saul, erstes Buch Samuel, Kapitel 31, Vers 2–4:

„2 Die Philister verfolgten Saul und seine Söhne und erschlugen Sauls Söhne Jonatan, Abinadab und Malkischua.

3 Um Saul selbst entstand ein schwerer Kampf. Die Bogenschützen hatten ihn getroffen und er war sehr schwer verwundet.

4 Da sagte Saul zu seinem Waffenträger: Zieh dein Schwert und durchbohre mich damit! Sonst kommen diese Unbeschnittenen, durchbohren mich und treiben ihren Mutwillen mit mir. Der Waffenträger wollte es nicht tun; denn er hatte große Angst. Da nahm Saul selbst das Schwert und stürzte sich hinein.“

4. Auch Sauls Waffenträger bringt sich mit dem eigenen Schwert um, erstes Buch Samuel, Kapitel 31, Vers 5:

„5 Als der Waffenträger sah, dass Saul tot war, stürzte auch er sich in sein Schwert und starb zusammen mit Saul.“

5. Ahitofel, einer der Ratgeber von König David, tötet sich selbst, nachdem seinen Umsturzpläne gescheitert waren. Im zweiten Buch Samuel, Kapitel 17, Vers 23, heißt es:

„23 Als Ahitofel sah, dass sein Rat nicht ausgeführt wurde, sattelte er seinen Esel, brach auf und kehrte in seine Heimatstadt zurück. Dann bestellte er sein Haus und erhängte sich. So starb er und man begrub ihn im Grab seines Vaters.“

Auch diesem „Selbstmörder“ in der Bibel wird eine ehrenvolle Bestattung zuteil.

6. Simri bringt sich um. Das erste Buch der Könige erzählt in Kapitel 16, Vers 15–18, folgende Begebenheit:

„15 Im siebenundzwanzigsten Jahr des Königs Asa von Juda war Simri sieben Tage König in Tirza. Das Volk belagerte damals Gibbeton, das den Philistern gehörte.

16 Als das Kriegsvolk während der Belagerung hörte, dass Simri eine Verschwörung angezettelt und den König erschlagen hatte, rief ganz Israel Omri, den Befehlshaber des Heeres, noch am gleichen Tag im Lager zum König von Israel aus.

17 Omri zog nun mit ganz Israel von Gibbeton hinauf und schloss Tirza ein.

18 Als Simri sah, dass die Stadt genommen war, zog er sich in den Wohnturm des königlichen Palastes zurück, steckte den Palast über sich in Brand und fand den Tod.“

Der einzige Bericht über einen Selbstmord im Neuen Testament bezieht sich auf den Jünger und späteren Verräter Jesu, Judas. Dazu heißt es im Evangelium des Matthäus, Kapitel 27, Vers 3–5:

„3 Als nun Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass Jesus zum Tod verurteilt war, reute ihn seine Tat. Er brachte den Hohenpriestern und den Ältesten die dreißig Silberstücke zurück

4 und sagte: Ich habe gesündigt, ich habe euch einen unschuldigen Menschen ausgeliefert. Sie antworteten: Was geht das uns an? Das ist deine Sache.

5 Da warf er die Silberstücke in den Tempel; dann ging er weg und erhängte sich.“ 29

Auch an dieser Stelle in der Bibel wird selbst Judas für seinen Selbstmord nicht verurteilt.

Aber was Matthäus und die anderen Schreiber des Neuen Testaments versäumt haben, holte Kirchenvater Augustinus nach. Er machte aus Judas in wenigen Sätzen vom Verräter zum Verbrecher im doppelten Sinn. Wobei sein „Selbstmord“ als Verbrechen noch schwerer zu bewerten ist als sein Verrat. Augustinus schreibt:

„(…) wenn wir schon die Tat des Judas mit Recht verabscheuen und die Wahrheit über ihn urteilt, daß er durch seinen Tod am Stricke das Verbrechen des frevelhaften Verrates eher gesteigert als gesühnt hat, weil er an der Barmherzigkeit Gottes verzweifelnd, sich einer unheilvollen Reue überließ und sich so die Möglichkeit einer heilsamen Reue versperrte, um wieviel mehr muß man sich vor dem Selbstmord hüten, wenn man keinen Anlaß hat, irgend etwas durch eine solche selbst vollzogene Strafe zu sühnen! Judas nämlich hat, da er Selbstmord beging, zwar einen verbrecherischen Menschen getötet, aber er hat dadurch gleichwohl sein Leben geendet, schuldbeladen nicht nur mit Christi Tod, sondern auch mit dem eigenen Tod, weil er dem Tode anheimfiel zwar wegen seines Verbrechens, aber eben durch ein neues Verbrechen von seiner Seite.“ 30

Augustinus stellt fest, dass an keiner Stelle der Bibel dem Menschen das Recht auf Selbsttötung ausdrücklich eingeräumt wird. Er schreibt: „Keine Schriftstelle gewährt den Christen das Recht des freiwilligen Todes, in welcher Lage immer sie sich finden.

Denn nicht umsonst kann man in den heiligen und kanonischen Büchern nirgends ein göttliches Gebot noch auch die Erlaubnis ausgesprochen finden, sich selbst das Leben zu nehmen, um das unsterbliche Leben zu erlangen oder irgend ein Übel zu meiden oder zu beseitigen.“31

Im weiteren Text bezieht sich Augustinus ausdrücklich auf das 5. Gebot, das seiner Meinung nach nur wie folgt verstanden werden kann: „Vielmehr ist das Verbot hierher zu beziehen: ,Du sollst nicht töten.‘ (…) Weder einen andern noch dich sollst du töten. Denn wer sich selbst tötet, tötet eben auch einen Menschen.“ 32

Wer sich selbst tötet – aus welchem Motiv auch immer –, macht sich also laut Augustinus nach dem 5. Gebot vor Gott strafbar. Er begeht eine Todsünde. Und wie vorher schon klar gesagt, steht er mit dem Mörder auf einer Stufe.

Augustinus liefert das Gedankengut, aus dem Philosophen, Kirchenlehrer, Päpste und Konzile in den nächsten Jahrhunderten den Selbstmörder zu einem Schwerverbrecher machen, der sich an Gott, an der Gesellschaft und an sich selbst vergeht.

So wie Aristoteles und Augustinus spricht sich auch Thomas von Aquin (1225–1274), Dominikanermönch,Theologe und Philosoph, in aller Schärfe gegen den Selbstmord aus. In seiner „Summa Theologica“ schreibt er: „Von Natur aus liebt jedes Lebewesen sich selbst und strebt danach, sein Leben zu erhalten – außer dem Selbstmörder, der sich deshalb versündigt. (…) Der Mensch ist ein Teil der Gemeinschaft, und folglich gehört das, was er ist, der Gemeinschaft. Mithin begeht derjenige, der sich umbringt, gegenüber der Gemeinschaft ein Unrecht. Da der Mensch sein Leben als Geschenk von Gott empfängt und nur dieser über Leben und Tod entscheiden darf, versündigt sich der Selbstmörder gegen Gott.“

Auf den Synoden und Konzilen wurden immer weitere Kirchengesetze gegen Selbstmord und Selbstmörder festgeschrieben: Auf dem zweiten Konzil 533 in Orleans wurde der Selbstmord als schlimmstes aller Verbrechen verurteilt. Auf dem Konzil von Toledo 693 wurde beschlossen, dass Selbstmörder auch posthum exkommuniziert werden.

Der Priester und große Philosoph Giordano Bruno (1548–1600), selbst von der Inquisition der Ketzerei und Magie für schuldig befunden und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, bezeichnete Selbstmörder als die „Märtyrer Satans“.

Die weltlichen Strafgesetze lehnten sich im Mittelalter wiederum eng an die kirchlichen Vorgaben an. Kriege und Seuchen forderten in einem mittelalterlichen Europa ihren Tribut. Umso mehr war es ein Verbrechen an der Allgemeinheit, sich selbst zu töten. In den totalitären Staaten war dem einfachen Bürger fast jede Art der Selbstbestimmung genommen. Das bezog sich natürlich auch auf das Recht, sich selbst zu töten. Da waren sich Staat und Kirche einig.

Selbstmörder haben mit ihrem Verbrechen eine Sühne unmöglich werden lassen. Sie wurden exkommuniziert, hatten kein Anrecht auf ein kirchliches Begräbnis innerhalb der Friedhofmauern. Die Leichen wurden zum Galgen geschleppt, an den Füßen aufgehängt und zur öffentlichen Schändung und Schmähung freigegeben. Der Selbstmörder wurde posthum enteignet. Der Selbstmordversuch wurde, wenn gescheitert, vor Gericht gebracht. Der Angeklagte wurde dann nicht selten mit dem Tod bestraft. Wenn er Glück hatte, kam er „nur“ ins Zuchthaus oder wurde des Landes verwiesen.

Von einem Fall steht geschrieben, dass der Selbstmörder drei Tage hängen gelassen wurde, sein Leichnam wurde aus dem Fenster gestürzt, dann bekam er 25 Stockstreiche, wurde in acht Teile zerschnitten, jeder Teil wurde in Stroh gewickelt und verbrannt. 33

Über eine Selbstmörderbestattung im Jahr 1608 in Knetzgau, Unterfranken:

„Eine 60jährige hatte sich erhängt. Die Erhängte wurde vom Strick geschnitten und oben vom Boden des Hauses in die Gasse geworfen. Dort blieb sie von Donnerstag früh bis Samstag spät Abend im November liegen. Später wurde sie fernab der Gemeinde vergraben. Hunde haben sie daraufhin ausgescharrt. Weil alle umliegenden Gemeinden sich weigerten, die Frau zu begraben, ließ der Freund der Erhängten ein Fass bringen, in das er den Leichnam ferschte, das Fass verschloss und in die Wasser des Mains warf.“ 34

Kirche, Staat und Gesellschaft ließen jahrhundertelang rohen Sadismus walten, wenn es um die Verurteilung und Behandlung eines Menschen ging, der sich selbst getötet oder dieses versucht hatte. Das Gedankengut, aus dem dieses abartige Verhalten erwuchs, war eine Mischung aus vorgegebener Moral von rigider, kirchlicher wie weltlicher Obrigkeit auf der einen Seite und aus Furcht und Unwissenheit des einfachen Volkes auf der anderen Seite. Eine verderbte Mixtur aus Glaube, Gesetz und Aberglaube. Das zeigen auch die Eintragungen im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“. Unter dem Stichwort „Selbstmörder“ steht:

„Die christliche Kirche, besonders Augustinus, bekämpften den Selbstmord, stellen ihn dem Morde gleich und stempeln ihn so zur Todsünde. Der Einfluß der Kirche machte sich nach und nach sowohl im Recht als auch in der Auffassung des Volkes geltend: Der Selbstmörder wird als Verbrecher behandelt, die Strafe wird am Leichnam vollzogen; er gerät in die Klasse der vorzeitig oder auf gewaltsame Art Verstorbenen, wird zum bösartigen Wiedergänger und darum mit allerlei Abwehrriten umgeben. (…)

Die Veranlassung zum Selbstmord wird schon von Augustin und Luther dem Teufel zugeschrieben. Auch nach dem (…) Volksglauben hilft der Teufel dabei; teuflisch ist wohl auch die schöne Musik, die einer zu hören glaubt, wenn er sich umbringen will. Gewisse Leute sind zum Selbstmord prädestiniert: Wer zwei Haarwirbel hat. (…)

Groß ist die Scheu vor der Leiche eines Selbstmörders. Früher wurde, wer einen Erhängten vom Strick losmachte, unehrlich. Man wagte die Leiche nicht zu berühren. Man gibt dem Gehängten eine Ohrfeige, bevor man ihn abschneidet, sonst dreht er einem den Hals um. Auch die Gegenstände, die zum Selbstmord dienten oder zum Begräbnis gebraucht werden, erhalten etwas Gefährliches, müssen beseitigt werden. Der Baum, woran sich einer hängte, verdorrt, der Balken muß ersetzt oder vernichtet werden. Bahre und Grabladen werden entzweigesägt und aufs Grab gelegt. Strick, Messer, ein Stück vom Balken müssen ihm mitgegeben werden. Auch Geld erhält er mit, damit er nicht zurückkehre. Seine Habe behält etwas Unheimliches an sich; wer in seinem Bett schläft, wird geplagt; sein Bild schwitzt am Tage des Selbstmords. (…)

Weil der Selbstmörder als Wiedergänger gefürchtet wird, werden allerlei Abwehrmittel angewandt. In früherer Zeit suchte man den Toten durch Vernichtung, Entfernung oder andere an oder mit der Leiche vollzogene Maßnahmen unschädlich zu machen. Meist wurde es von Gerichts wegen als Strafe dem Toten auferlegt und als bloße Entehrung ausgelegt.

Im 16. Jahrhundert wurden Selbstmörder verbrannt. (…) Früher, schon im 14. Jahrhundert, ließ man die Leiche ‚rinnen‘, das heißt, sie wurde in ein Faß verschlossen und in ein fließendes Wasser geworfen. Die Gefahr wurde dadurch weggeschwemmt. (…) Seltener war Versenken in einem Sumpf (…) oder begraben an eine Flutgrenze am Strande. Der Tote wurde auch unschädlich gemacht durch Pfählen oder Köpfen. Beim Wegschaffen der Leiche war oft üblich, sie auf einer Kuhhaut zu schleifen. (…) Die Leichen wurden bis in neuere Zeit nicht durch die Tür hinausgetragen, sondern durch ein Loch in der Wand, durchs Fenster, durchs Dach oder unter der Schwelle durch hinausgeschafft. (…) Sie dürfen nicht durchs Friedhofstor geführt werden, sondern müssen verkehrt über die Mauer gehoben werden. Man führt sie auf Nebenwegen. Sie werden mit dem Gesicht nach unten in den Sarg gelegt; man trägt die Leiche mit dem Kopf voraus. Türschlösser werden verändert, Schwellen entfernt, Türen versetzt. Die Leiche wird nicht gewaschen und bekommt keine besonderen Kleider. (…)

Die Kirche strafte den Selbstmörder, indem sie ihre Teilnahme am Begräbnis verweigerte; Glockenläuten und Gesang fielen weg. Werden Selbstmörder mit kirchlichen Ehren bestattet, so kommen sie wieder. Begräbniszeiten waren Nacht, früher Morgen oder später Abend.

Kirchlicher Einfluß bestimmte auch den Begräbnisort; die Kirche verweigerte das Begräbnis in geweihter Erde, der weltliche Richter gebot Verscharren unter dem Galgen oder auf dem Schindanger, ‚Eselsbegräbnis’. Als gefährliche Wiedergänger wurden sie auch auf Kreuzwegen mit einem Pfahl durch den Leib verscharrt oder auch an der Gemeindegrenze, oder man wählte einen abgelegenen, wüsten Ort. Auf dem Friedhof duldete man sie nur ungern und gezwungen; man glaubte, die anderen Toten würfen sie wieder hinaus. Und wenn man sie aufnahm, so wies man ihnen eine besondere Ecke an der Mauer oder unter der Dachtraufe an. In Schottland gab man ihnen einen Platz, von wo sie nicht aufs Meer sehen konnten, weil das dem Fischfang geschadet hätte (…). Man will nicht neben einem Selbstmörder begraben werden; sein Grab wird nicht gepflegt, und es spukt an diesen Orten. Auch die Stelle, wo der Selbstmord geschehen, ist verflucht, bleibt unfruchtbar. (…)

Der Selbstmörder wird zum Wiedergänger, meist gefährlicher Art. Drum heißt es, die Leiche oder nur die Schuhe bleiben lange unverwest. Er muß schweben, als Spuk umgehen bis zur Zeit, wo sein natürlicher Tod erfolgt wäre. Die Seele eines Erhängten kommt weder in den Himmel noch in die Hölle; der Teufel erwischt sie nämlich nicht, weil er beim Munde auf sie lauert und sie durch den After entweicht. Der Selbstmörder schaut auch seinem eigenen Begräbnis zu; er muß Friedhofswache halten, bis der nächste kommt. Er spukt in seinem Hause, am Ort, wo man ihn verscharrt hat, oder am Ort, wo er die Tat begangen hat. Er verlegt anderen Toten den Weg zum Friedhof. Er muß wandern, ohne Ruhe zu finden; (…) Der Selbstmörder als Wiedergänger kann die Angehörigen plagen, ihnen Unglück schicken. Oft verwandeln sie sich in gespenstische Tiere oder andere Wesen; in Pommern gelten sie als die Hunde des Wôd; sie gehen als kopflose Gespenster, als Hunde, Ziegenböcke oder Irrlichter um. Sie spuken besonders in der Adventszeit.“ 35

Ein Spiegelbild der damaligen Zeit auch in Bezug auf den Selbstmörder lieferte Dante Alighieri (1265–1321) mit seiner „Divina Commedia“.

Dantes „Göttliche Komödie“ erzählt in der Ichform eine Reise durch die drei Reiche der jenseitigen Welt. Das erste ist die Hölle. Das Reich Satans öffnet sich als gewaltiger, unterirdischer Trichter, der bis zum Mittelpunkt der Erde reicht. Die Hölle ist nach unten hin in neun Kreise unterteilt, die sich immer enger ziehen. Je tiefer die Reise führt, desto schwerer sind die Verbrechen und Sünden derer, die hier eingeschlossen sind. Die, die aktiv und bewusst gesündigt haben, finden sich in den drei untersten, dem siebten, achten und neunten Kreis.

Der siebte Kreis ist noch einmal in drei Stufen unterteilt. In der obersten Stufe, in einer von blutigen Wassern durchströmten, schrecklichen Schlucht, leiden die Tyrannen, Mörder und Straßenräuber. In der zweiten Stufe führt der Weg durch den finsteren Wald der Selbstmörder. In der untersten Stufe werden die Sodomiten und Gotteslästerer in einer von feurigem Regen überströmten Wüste gequält.

Dante stuft die Selbstmörder also noch unterhalb der Mörder ein. Sie verdienen die größeren Qualen, weil sie gegen das Naturgesetz der Selbsterhaltung und damit gegen eines der obersten Gebote Gottes gehandelt haben.

Ihre Seelen, die sie durch Gewalt gegen sich selbst widernatürlich vom Körper freigesetzt haben, sind zu Bäumen und Sträuchern geworden, an deren Blättern sich Harpyien36 weiden. Die Seele des Selbstmörders wird nie wieder mit ihrem Leib vereint sein – „denn was man selbst sich nahm, darf man nicht haben“. Sprich, was der Mensch sich genommen hat, wird Gott ihm nicht zurückgeben.

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