Читать книгу Die Frau des Scharfrichters - Klaus Melcher - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеDer Nebel, der die ganze Nacht die Stadt eingehüllt hatte, begann sich langsam aufzulösen.
Erst gab er die Turmspitze der Marktkirche frei, ließ die Wetterfahne golden glänzen, während das Dach des Kirchenschiffs mit seinen gnomengesichtigen Wasserspeiern
noch von Nebelfahnen gespenstisch umweht wurde.
Zögernd, als trauten sie dem Frieden noch nicht, traten die ersten Dienstmägde und Bürgersfrauen auf die Straße, schleppten ihre Eimer die Gassen entlang zum Marktplatz. Hier trafen sie sich am Marktbrunnen, jeden Tag, warteten bis sie an der Reihe waren und ihre Eimer füllen konnten.
Einige wenige fanden noch den Weg in die Marktkirche, nur zu einem schnellen Gebet, zu einem kurzen Niederknien vor dem Altar, bevor sie wieder nach ihren Eimern griffen, ein paar Worte mit der Nachbarin wechselten und dann nach Hause eilten.
Eigentlich hätten sie auf dem Marktplatz noch einige wenige Augenblicke verharren sollen, denn gerade neuem Leben. Die Sonne kam hinter dem Kirchturm vor, wanderte höher und tauchten die Marktsäule, Zeichen des ganzen Bürgerstolzes, in ihr noch fahles Licht, und plötzlich erstrahlte der Helm des Roland golden und verkündete: ‚Heute ist Markttag, und es herrscht Marktfriede in der ganzen Stadt! Wehe dem, der ihn bricht!’
Das war der Augenblick, in dem jedem Bürger, der Zeuge dieses Schauspiels wurde, das Herz aufging und er sich voller Stolz zu seiner Stadt bekannte.
Auch für die Torwachen begannen die Markttage früher als gewöhnlich.
Aus allen Richtungen rumpelten die Bauern der Umgebung mit ihren Karren herbei, beladen mit Feldfrüchten, mit Eiern und Wildhonig, mit derb gewebten Stoffen und Geräten, die die Bauern aus einfachen Mitteln herstellen konnten und auf dem Markt feilbieten wollten.
Angebunden mit einem Strick folgten den Karren vereinzelt eine Ziege oder ein Schaf, die in der Stadt an einen Metzger verkauft werden sollten. Gerne hätten die Bauern die Tiere selbst geschlachtet und das Fleisch auf dem Markt verkauft, doch die Marktordnung verbot ihnen den Handel mit frischem Fleisch. Und die Torwachen achteten schon bei der Einreise darauf, dass das Verbot eingehalten wurde.
Niemand, der verbotene Waren oder eine Waffe bei sich führte, durfte das Tor passieren.
Wie auf einer unsichtbaren Spur zogen die aus dem Norden kommenden Bauern die Nikolaistraße entlang und vereinigten sich mit dem Zug derer, die durch das Marientor im Süden die Stadt erreichten. Sie alle strebten den Bauernmarkt an, der etwas abseits des Hauptmarktes lag, von ihm durch eine schmale Durchfahrt zwischen Stapelhaus und Rathaus getrennt.
Während die Bauern ihre einfachen Stände aufbauten, erwachte auch das Leben auf dem Hauptmarkt. Von überallher kamen die Händler mit ihren Fuhrwerken, die die Nacht in einem der Wirtshäuser verbracht hatten.
Ihnen wurden die Standplätze in der Mitte des Platzes zugewiesen, die das Geviert zwischen Kirche und Stapelhaus im Osten und dem Rathaus mit öffentlicher Waage im Westen und den reichen Handelshäusern im Norden und Süden bildeten. Hier stellten die Herren der Stadt ihren Reichtum zur Schau, die Tuchhändler, die Fernhändler, die von ihrem Comptoir aus den Handel in die ganze Welt dirigierten, Segelschiffe mit Salz nach Bergen schickten und mit Hering beladen zurückkamen, Kaufmannszüge, die in Nowgorod Salz gegen Pelze tauschten, Gewürzhändler, deren Verbindung bis nach Indien und China reichte, Tuchhändler, die die feinsten Stoffe aus Venedig und Genua bezogen.
Ihre Häuser waren aus Stein gemauert, waren mit Ziegeln gedeckt, hatten aufwändig gestaltete Fassaden – und echtes Glas vor den Fenstern, nicht Horn oder gar nur Tierfelle.
Wer hier wohnte, herrschte in der Stadt, und er achtete sorgfältig darauf, dass niemand ihm seine Macht streitig machte. Er hatte sie von seinem Vater geerbt und der von seinem Vater. Mit allen Mitteln wurde sie verteidigt, gegen das gemeine Volk, gegen Emporkömmlinge, gegen die Kaufleute der Südseite – und gegen den Machtanspruch des Fürstbischofs von Würzburg.
Die meisten Häuser, die den Markplatz umgaben, waren von breiten Arkaden gesäumt, unter denen die Handelsherren während der Marktzeiten einige Stände aufgebaut hatten und ihre Waren anpriesen. Hier wurden die kleineren Kunden bedient, die nicht für würdig erachtet wurden, in die weiten Hallen vorzudringen, die sich im Innern anschlossen. Oder mit denen der Kaufmann gar in dem Comptoir im ersten Stockwerk verhandelte.
Das Treiben auf dem Marktplatz und unter den Arkaden nahm zu, die Händler feilschten mit den Kunden, die ersten Kaufleute hatten sich mit ihren Besuchern in die hinteren oder oberen Räume zurückgezogen, als plötzlich ein Raunen durch die Marktgassen ging. Niemand konnte später sagen, von wo es ausgegangen war. Plötzlich war es da, ganz leise, wie hinter vorgehaltener Hand, wurde lauter, immer noch unverständlich, denn nicht zu glauben war, was die Menschen hörten:
In der Unterstadt hatten die Nachtwächter einen Toten gefunden!
Das Gerücht, denn um ein solches musste es sich handeln, ergriff jeden, egal ob er auf dem Hauptmarkt war oder auf dem Bauernmarkt, verbreitete sich in Windeseile, bis es die eichenen Tore des Rathauses erreicht hatte und in die Schreibstube schwappte. Dort erfuhr es Heinrich, der Stadtschreiber, ein Mann von Mitte dreißig, der sich in seinem Amt behaglich eingerichtet hatte und sich ein kleines Zubrot mit Schreibarbeiten aller Art verdiente, so dass er seine Frau und seine fünf Kinder zwar nicht im Luxus, aber doch zufrieden stellend ernähren und kleiden konnte.
Wenn auch nicht offiziell, so doch dem Ansehen der einfachen Bürger nach war er einer der wichtigsten Männer in der Stadt. Der Weg zum Bürgermeister führte über ihn, er entschied, wer vorgelassen und wer abgewiesen wurde, welches Gesuch dem Bürgermeister vorgelegt wurde. Er wusste alles, und er gab bereitwillig Auskunft über die Beschlüsse des Rates, und so manchem Bürger war eine frühe Auskunft eine gewisse Summe Geldes wert.
Heinrich eilte in das Zimmer des Bürgermeisters, der sich hinter einigen Folianten verschanzt hatte, und erstattete atemlos Meldung.
Was jetzt geschah, war reine Routine: die Stadtbüttel wurden vom Markt, ihrem eigentlichen Betätigungsfeld an diesem Vormittag, abgerufen, nur auf dem Bauernmarkt verblieben zwei, um die Anwesenheit der Obrigkeit zu demonstrieren.
Fünf Gruppen von jeweils zwei Bütteln wurden durch die Stadt geschickt, besuchten jedes Wirtshaus, jede Schänke.
Im „Hirschen“ wurden sie fündig.
„Ich habe mich schon gewundert“, sagte der Wirt, „der Oskar ist heute nicht auf den Markt gefahren. Den hat er bisher noch nie versäumt. Mein Knecht hat dem Pferd Hafer und Wasser gegeben, als Oskar sich bei Schlag neun immer noch nicht um Pferd und Ladung gekümmert hatte. Das war schon sonderbar.“
Natürlich war der Wirt bereit, den Toten zu identifizieren.
Wenn einer den Kaufmann Oskar erkennen könnte, dann wäre es er, schließlich schliefe er immer in seinem Wirtshaus, wenn er in der Stadt wäre.
Nachdem sich der Wirt seinen Umhang umgeworfen hatte, machten sich die drei Männer auf den Weg zum Gefängnisturm, in den man den Toten gelegt hatte.
In der Mauerstraße, die direkt unterhalb der Stadtmauer lag, hatte sich der Nebel noch nicht verzogen. Hier blieb er immer am längsten, blieb manchmal den halben Tag über, auch wenn die ganze Stadt und das Umland schon nebelfrei waren, als schämte sich dieser Teil der Stadt seiner Armut.
Und Recht hätte er gehabt.
Wie zerzauste Schwalbennester klebten die meist hölzernen Bruchbuden an der Mauer, zusammengezimmert aus Brettern und Balken, die die Eigentümer irgendwo zusammengesammelt oder gestohlen hatten.
Nur wenige Häuser gab es hier, ebenfalls an die Stadtmauer geschmiegt, die die Bezeichnung Haus einigermaßen verdienten. Auch sie waren schäbig, in verwahrlostem Zustand, überall notdürftig geflickt, mit löchrigem Dach, mit leeren Fensteröffnungen. Nur Gertraudes Bordell passte nicht in dieses Bild von Elend und Verfall.
Es war nicht protzig wie die Patrizierhäuser am Markt, verzichtete auf aufwändigen Zierrat an der Fassade, auf eine reich geschnitzte Eingangstür in einem marmornen Portal mit kunstvollen Steinmetzarbeiten. Nur ein Relief zierte das Portal: Eva lehnte sich verführerisch an einen Baum, lächelte geheimnisvoll und reichte Adam den Apfel. Unter ihrem Fuß wand sich vergeblich eine Schlange.
Und um ihren Besuchern den Eintritt in das Paradies zu erleichtern, hatte sie auf die Gasse im Bereich ihres Hauses Trittsteine setzen lassen, denn es gab hier unterhalb der Stadtmauer nicht einmal eine Gosse, die die Fäkalien aufnahm und zum Stadtgraben führte. Auf ganzer Breite schwamm die stinkende Brühe die Gasse hinab. Hier und dort verstopfte Unrat, den die Bewohner auf die Straße geworfen hatten, die Kloake und sie drang in Häuser und Höfe der Bedauernswerten.
Dazwischen wühlten Schweine, scharrten einige Hühner, spielten kleine Kinder und pfiffen Ratten.
Es war ein Ort zum Erbarmen.
Hier wohnten nur die Ärmsten der Stadt, die gesellschaftlich Geächteten, die Ausgestoßenen, die Kranken und Gebrechlichen, die keine Familie hatten und die man nirgends mehr aufnehmen wollte, denen die Türen des Hospitals verschlossen blieben.
Solange sie noch einen Funken Stolz hatten und nicht dauernd auf Almosen angewiesen waren, verbargen sie sich in ihren armseligen Verschlägen vor den Blicken ihrer Mitmenschen. Hatten sie aber auch ihre letzte Arbeit verloren, die eigentlich niemand mehr verrichten wollte, dann saßen sie inmitten des Unrats auf der Straße, verdreckt und stinkend wie die Gasse, voller offener Wunden und eiternder Geschwüre, die die Lumpen nur notdürftig bedeckten.
Und hier lebte der, der wichtig für die Stadt war wie kaum ein anderer, den man aber mied wie einen Aussätzigen, Wolfram der Scharfrichter.
Schon in vierter Generation versah er dieses Amt.
Nur sehr widerwillig hatte er die Ausbildung begonnen, hatte sich nicht damit abfinden wollen, sein Leben lang ausgestoßen zu sein, abseits zu wohnen, an einem eigenen Tisch im Wirtshaus sitzen zu müssen, aus seinem eigenen Becher zu trinken, weil man die Verunreinigung des Bechers nicht würde wegwaschen können.
„Sieh es doch mal von der guten Seite“, hatte sein Vater gesagt, „wer hat schon seinen eigenen Tisch? Wer wird so sehr gebraucht wie der Scharfrichter?“
„Aber keiner will mit mir reden“, hatte er eingewandt.
„Warte es nur ab“, hatte sein Vater geantwortet und ihm zum ersten Mal liebevoll die Hand auf die Schulter gelegt, „irgendwann spricht jeder mit dir, auch wenn er es eigentlich nicht will.“
Und dann hatte er ganz behutsam begonnen, ihn mit den Aufgaben und Tätigkeiten des Scharfrichters vertraut zu machen. Schon da hatte sich Wolfram vorgenommen, es mit seinem erstgeborenen Sohn ebenso zu handhaben.
Nur der zeigte trotz all seiner Bemühungen keine Bereitschaft, diesen Beruf zu erlernen, obgleich er wusste, dass er als Sohn eines Scharfrichters nie einen ehrlichen Beruf würde ergreifen können. Vielleicht würde er Abdecker werden können, wenn er besonderes Glück hatte, Bader oder Müller, würde die Tochter eines Abdeckers, Baders oder Müllers heiraten können, aber dafür brauchte er schon sehr viel Glück.
Trotzdem kehrte er seinem Vaterhaus den Rücken, und so hatten es alle seine Geschwister getan, obgleich oder vielleicht gerade weil ihr Vater es inzwischen zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht hatte.
Da der bisherige Heymlichkeitenfeger gestorben war und die Stadt niemanden, selbst unter den Armen nicht, gefunden hatte, der dieses Amt übernehmen wollte, hatte man es dem Scharfrichter angetragen. Auch wenn diese Arbeit scheußlich war, stinkend und ehrlos, hatte er sie angenommen, um sich ein Zubrot zu verdienen, denn die Zeiten waren für den Henker erschreckend schlecht geworden. Die Stadtwachen waren verstärkt worden, kein Bürger durfte nach Eintritt der Dunkelheit ohne Handlampe auf die Gassen und Straßen gehen, und traf man jemanden ohne Licht in der Öffentlichkeit an, drohten ihm empfindliche Geldstrafen.
Es gab kaum noch hochnotpeinliche Befragungen. Wer klug war und sich die Schmerzen ersparen wollte, gestand schon bei der Territion, noch bevor das Verhör begann, und die Folterinstrumente verrosteten fast an den Wänden oder wurden von Spinnweben überzogen.
Eine einzige Hinrichtung hatte es in den letzten drei Jahren gegeben, eine Hinrichtung mit dem Schwert, die er nach allen Regeln der Kunst durchgeführt hatte.
Mitten auf dem Markt hatte man das Schafott aufgebaut, ein Podest von etwa zehn Ellen im Geviert, zu dem sieben Stufen herauf führten. In der Mitte stand der Klotz, über den der Verurteile seinen Kopf legen musste, den der Scharfrichter mit einem meisterlichen Hieb vom Körper trennte. Wie hatten die mehr als tausend Zuschauer seine Arbeit bewundert, dieses leise Sirren des Schwertes, das trotzdem bis in den letzten Winkel des Marktplatzes zu hören war. Noch Tage später bewunderte man ihn deswegen.
Nur zehn Gulden, die übliche Gebühr für eine Hinrichtung mit dem Schwert, hatte er dafür bekommen, eine Missachtung seiner Kunst.
Die wenigen und erheblich billigeren Leibesstrafen gegen Diebe und Betrüger konnten ihn nicht ernähren.
Wenn man auch seine Dienste als Scharfrichter kaum noch brauchte, beim Leeren der Gruben riss man sich um ihn. In jedem Haus oder Hof waren die Gruben irgendwann voll und mussten geleert werden, und auch die Gosse konnte nicht immer auf den nächsten Regen warten, um gereinigt zu werden.
So rief die Stadt oder der Hausbesitzer nach dem Heymlichkeitenfeger, und der schob seinen zweirädrigen Karren durch die Gassen, stieg in die Gruben, füllte die Eimer mit Fäkalien und ließ sie von seinem Gehilfen hochziehen, um sie in den großen Kübel auf dem Karren zu entleeren.
Mit seiner stinkenden Fracht zog er am späten Abend oder in den frühen Morgenstunden durch die Gassen, passierte das Nicolaitor, bevor es für die Bürger geschlossen oder die Landbevölkerung geöffnet wurde, denn ihnen sollten der Anblick und der Gestank erspart bleiben, stemmte sich in das Geschirr, als der Karren auf dem abschüssigen Weg an Fahrt aufnahm.
Wenn er endlich den Fluss erreicht hatte, ein ausreichendes Stück Weges ihn von der Stadt trennte, zog er den Karren auf der kleinen Furt in den Fluss und kippte vorsichtig den Kübel aus, so dass sich sein Inhalt in den Fluss ergoss, wo er sich mit der Brühe der Gerber und Färber der Stadt vereinigte.
Das war das Unangenehmste an seiner Arbeit.
Hier stank es nicht nur nach den Fäkalien, die er herbeibrachte, watete er nicht nur in den Haaren, Fleisch- und Fettresten, die die Gerber von den Tierhäuten schabten und in den Kanal oben nahe der Stadtmauer warfen. Hier stand er in dem Wasser, das die unterschiedlichsten Farben annahm und nach der ekelhaften Lohe stank, die ihm die Haut an den Beinen wegätzte. Bis zu den Knien waren sie mit Furunkeln und Schwären übersät, die, kaum waren sie verheilt, wieder aufbrachen.
Dann opferte er etwas von seiner Salbe, die er unter der Hand für teures Geld verkaufte, und nach wenigen Tagen hatte er keine Schmerzen mehr. Bis er wieder in den Fluss musste.
Vielleicht hätte er diese Tätigkeit aufgegeben, nachdem auch seine dritte Frau im Kindbett gestorben war und zwei Wochen später die Kleine ihr gefolgt war, noch bevor sie das Sakrament der Taufe empfangen hatte.
Alle Kinder seiner verstorbenen Frauen hatten das Haus verlassen, der Älteste war beim Müller in die Lehre gegangen, der Jüngere beim Abdecker, und die Tochter hatte einen ordentlichen Färber geheiratet.
Er lebte jetzt wieder allein, hätte sich eingeschränkt, für ihn allein hätte gereicht, was er als Scharfrichter verdiente.
Doch dann hätte er einsam in seinem düsteren Haus gesessen, das einzige Vergnügen wäre der gelegentliche Besuch des Wirtshauses gewesen. Dort hätte er abseits an seinem eigenen Tisch gesessen, hätte, wie sein Vater ihm erzählt hatte, aus seinem eigenen Becher getrunken. Aber er konnte sich darüber nicht freuen. Und so unterblieben die Wirtshausbesuche mit der Zeit.
Einen Besuch des Bordells konnte er sich nicht leisten, auch nicht den eines Badehauses. Und selbst wenn er das Geld gehabt hätte, man hätte ihn dort nicht geduldet. Nicht einmal an einem so verrufenen Ort.
So blieb ihm als einziger Zeitvertreib, wenn die Abende immer länger wurden, den schmalen Gang, der sein Haus mit dem Gefängnisturm verband, entlang zu gehen, die wenigen ausgetretenen Stufen zum Befragungskeller hinab zu steigen.
Dann saß er dort auf dem Befragungsstuhl, betrachtete die Figuren, die das flackernde Licht der Fackel auf die grob behauenen Steine zeichnete, fuhr mit den Fingern über die
verschiedenen Folterinstrumente, drehte an der Daumenschraube, prüfte die Elastizität der Peitsche, ließ einen Spannhebel an der Streckbank zurückschnellen. Dann träumte er sich zurück in eine Zeit, von der ihm sein Lehrmeister erzählt hatte, von einer Zeit, in der noch Gottesurteile über Leben und Tod des Beschuldigten entschieden, in der der Scharfrichter nur der weltliche Arm Gottes war.
Ja, so hätte sich Wolfram gern gefühlt, als weltlicher Arm Gottes, dessen einzige Aufgabe es wäre, Gottes Urteil auszuführen.
Laut und dumpf wurde an die schwere hölzerne Tür des Turmes geklopft.
Nachdem sich Wolfram überzeugt hatte, dass der Wirt vom „Hirschen“ und zwei städtische Büttel vor der Tür standen, öffnete er.
„Kommt“, sagte er und ging einen schmalen, leicht abschüssigen gemauerten Gang entlang. Beinahe wäre der Wirt auf dem unebenen steinernen Boden ausgerutscht, der immer feuchter wurde, je tiefer sie in den Keller vordrangen. Dort, wo es am kältesten war, wurden die Toten gelagert, die innerhalb der Stadt Opfer eines Verbrechens geworden waren. Hier lagen sie, bis sie identifiziert waren und die Ermittlungen abgeschlossen waren und man den Prozess beginnen konnte.
Noch drei ausgetretene Stufen, und die vier Männer standen vor einer schweren, mit Eisen beschlagenen Tür.
Wolfram zog einen Schlüssel hervor und schloss rasselnd die Tür auf.
Feuchte, modrige Luft schlug ihnen entgegen. Die Männer wagten kaum zu atmen, zu oft hatte man schon gehört, dass faules Gas, das sich in toten Körper bildete, Besitz von den Gesunden ergriff.
Angewidert warf der Wirt einen flüchtigen Blick auf den Toten. Ja, sagte er, es handle sich um seinen Schlafgast, der immer, wenn er in der Stadt wäre, bei ihm einen Schlafplatz miete. Er hätte sich schon gewundert, dass er nicht früh am Morgen sein Pferd versorgt hätte, wie es gewöhnlich seine Art wäre. Nein, er könnte auch nicht sagen, mit wem er sich getroffen hätte. Hier in der Wirtsstube jedenfalls wäre ihm nichts aufgefallen. Er könnte sich allerdings denken, dass er eine der Huren aufgesucht hätte. Man sollte vielleicht einmal dort nachfragen.
Die Befragung der Huren ergab, dass er Gertraudes letzter Gast gewesen war, dass er sie völlig unversehrt nach Mitternacht verlassen hätte und dass sie, nachdem seine Laterne in dem Nebel verschwunden wäre, die Tür verschlossen und sich zu Bett begeben hätte.
Weiter könnte sie nichts sagen.
Alle Nachforschungen des Gerichts liefen ins Leere.
Der Besuch bei der Hure schien tatsächlich der einzige Kontakt an dem Abend gewesen zu sein, die Begegnung mit dem Mörder reiner Zufall.