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Kapitel 6

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Der Marktplatz war ein großer rechteckiger Platz, umgeben vom den steinernen aufwändig gestalteten Häusern der Patrizier auf der Sonnenseite und den einfacheren der wohlhabenden Händler auf der Schattenseite. Die Stirnseite beherrschte der gewaltige Bau der Kirche mit seinem Turm, der alle Gebäude der Stadt überragte.

Gegenüber zeugten das Rathaus und das Stapelhaus vom Reichtum der Stadt.

Auch wenn die Patrizier auf die Händler herabsahen und peinlich genau darauf achteten, dass sie sich nicht Rechte herausnahmen, die ihnen nicht zustanden, so lebte man hier doch weitgehend in Eintracht. Man wusste, wo man stand, auch wenn man es inzwischen zu Wohlstand gebracht hatte, der sich durchaus mit dem einzelner Patrizier messen konnte.

Nur wenige rüttelten an der alten Ordnung, im Verborgenen nur, aber deshalb waren die Spitzen nicht weniger ärgerlich. Da gab es den Tuchhändler, der sein Haus gegenüber dem des Gewürzhändlers hatte.

Jeden Morgen, wenn der seinen Laden öffnete, sah er zu ihm hinüber.

Wenn er ihn unter den Arkaden seines Hauses entdeckte, wartete er einen Augenblick, bis die Gehilfen die Verkaufstische aus dem Innern des Hauses herausgeschleppt und mit Gewürzen aus aller Welt beladen hatten.

Dann trat er zwei, drei Schritte vor, machte eine weit ausholende, fast devote Verbeugung.

Natürlich wusste der Gewürzhändler, dass der Tuchhändler ihn ärgern wollte, doch er konnte es nicht ändern. Er musste diesen Spott ertragen, das hatte man ihm im Rat gesagt. Der Tuchhändler war nun einmal ein höflicher Mensch, der wusste, wie man einem Patrizier zu begegnen hatte.

Wenn dann die Frau des Gewürzhändlers heraustrat, für die die Gehilfen extra einen Gang zwischen den Auslagen gelassen hatte, damit sie unbelästigt auf den Markplatz treten konnte, dann schien sich der Tuchhändler förmlich zu überschlagen.

Noch einen Schritt weiter trat er hervor, setzte sein rechtes Knie auf den Boden und rief: „Euch, edle Frau, entbiete ich meinen untertänigen Gruß!“, verharrte einen Augenblick in dieser Pose, bevor er sich wieder aufrichtete, den Straßenstaub von seinem Knie abklopfte, sich umdrehte und in seinem dunklen Laden verschwand.

Nie würde er dem Gewürzhändler verzeihen, dass er sich dagegen gestemmt hatte, dass er sein Haus auf der Südseite bauen konnte. Er hatte Geld, genug Geld, um ein Haus zu bauen, das den Vergleich mit den Häusern der Patrizier nicht scheuen musste, das so manches sogar in den Schatten stellen würde.

Aber der Gewürzhändler hatte darauf bestanden, dass man unter Seinesgleichen blieb, wie er sich ausdrückte.

Von da an war das Tischtuch zwischen ihnen zerschnitten.

Der Gewürzhändler, vor allem seine prunksüchtige Frau, kaufte kein Tuch mehr bei ihm, nahm zwei Tagesreisen in Kauf, um bei dem nächsten Händler von Rang die Tuche für ihr neues Kleid zu kaufen, und kam doch mit schlechteren zurück, die sie noch dazu teurer bezahlen musste.

Und die Frau des Tuchhändlers kaufte ihre Gewürze beim Nachbarn, auch wenn die Auswahl geringer war. Obgleich jeder wusste, dass sie nichts kaufen würde, prüfte sie seine Auslagen genau und fragte nach dem Preis. Noch bevor der Gehilfe antworten konnte, rümpfte sie die Nase und sagte so laut, dass alle Umstehenden es hören konnten: „Das ist doch nicht Euer Ernst!“, und ging.

Wenn die beiden Frauen zu gleicher Zeit den Marktplatz betraten, herrschte sogleich gespannte Aufmerksamkeit bei den Marktbesuchern und Marktbeschickern, gleichgültig, ob es sich um Bauern, kleinen Händler oder Handwerker handelte.

An diesem Tag aber hatte die Frau des Gewürzhändlers es wirklich übertrieben.

Sie hatte sich ein Kleid schneidern lassen, das alles, was sie bisher getragen hatte, in den Schatten stellte.

Dunkelrot war der kostbare Stoff, reich verziert mit goldenen Stickereien. Unterhalb der Brust war es geschnürt, und als betonte das nicht schon genug die Figur der Trägerin, hatte das Kleid ein Dekolleté, das nicht nur die Männer, die ihre Waren feilboten, in Aufregung versetzte.

Noch nie zuvor hatte man Ähnliches gesehen.

Selbstbewusst, als wäre sie die Königin, schritt sie die Arkaden der Kaufleute ab, nickte hin und wieder jemandem huldvoll zu, wechselte zur anderen Seite und ging an den Häuser der niederen Kollegen vorbei, als lohnte sich im Grunde gar nicht, ihre Auslagen zu betrachten.

Gerade wollte die Frau des Gewürzhändlers am Rathaus vorbei auf die Sonnenseite des Marktplatzes zurückkehren, da entstand irgendwo hinten, wohl am gegenüberliegenden Ende, Unruhe. Schnell bildete sich eine Traube von Menschen, die immer mehr anschwoll, und bald war der Wagen, auf dem der Bäcker seine Brote feilbot, von Menschen umzingelt, die aufgeregt, und wie es schien, feindselig durcheinander schrieen.

Schon sah man die ersten Frauen auf den Bäcker einschlagen und ihn mit seinen Broten bewerfen, da kamen die Marktbüttel.

Widerwillig räumten die Umstehenden den beiden Männern eine Gasse, die sie gleich wieder schlossen, als die Büttel den Bäckerwagen erreicht hatten. Zu fragen brauchten sie nicht nach dem Grund für die Aufregung, die Szene sprach für sich. Immer wieder kam es vor, dass Bäcker sehr sparsam abwogen, obgleich sie wissen mussten, dass sie für ihren Betrug empfindlich bestraft wurden.

Nachdem sich die Menge murrend beruhigt hatte, nahmen sie den Bäcker mit seinem Karren in ihre Mitte und machten Anstalten, mit ihm fortzugehen. Bereitwillig machten die Frauen Platz, ließen die Büttel und den Wagen passieren und schlossen sich ihnen an. Eine eigenartige Prozession begab sich auf der Mittelgasse zwischen den Ständen zum Rathaus und wandte sich dann dem Stapelhaus zu.

An der rechten Ecke, dort wo sich die öffentliche Waage und die offizielle Elle befanden, machte der Zug halt. Unter allgemeinem Gelächter und Spott wurde der Bäcker gewogen. Fast einhundert und vierzig Nürnberger Pfund brachte er auf die Waage, und schon rechneten das einige besonders Eifrige in Brote um:

Einhundert und vierzig Pfund Bäcker, das Brot zu vier Pfund, dann musste man den Bäcker mit fünfunddreißig Broten aufwiegen.

Erst als der Stadtschreiber das Ergebnis bestätigt hatte, setzte die Prozession ihren Weg fort.

An der Rückseite des Stapelhauses floss der Stadtkanal vorbei, der oberhalb der Stadtmauer von der Seuse abgezweigt wurde und die Stadt, vor allem aber die Gerber und Färber mit Wasser versorgte, um dann, außerhalb der Stadt, in das Flüsschen zurück geleitet zu werden.

Hier hatte man eine Art Brunnen gebaut, in dem sich das Wasser sammelte und aus dem das Vieh getränkt wurde. So blieben die städtischen Brunnen vor Verunreinigungen weitgehend geschützt.

Etwa einen Schritt entfernt vom Beckenrand hatte man den Stamm einer kräftigen Eiche in den Boden gerammt und auf seinem abgesägten freien Ende einen beweglichen Balken befestigt. Er konnte sowohl nach links und rechts als auch nach oben und unten geneigt werden.

An dem einen freien Ende des Balkens war ein eigentümlicher hölzerner Verschlag befestigt, einem Vogelkäfig ähnlich.

An dem anderen Ende hing ein aus Weiden geflochtener Korb.

Der Bäcker wurde zu dem Käfig geführt und unter dem Gejohle der Menge hineingesperrt.

Laut verkündete der Stadtschreiber, wie viele Brote in die andere Waagschale getürmt werden mussten, und dann drehten die Büttel die Waage so, dass der Käfig über dem Brunnen hing.

Noch über dem Wasser, sichtbar für alle, beschwerten die Büttel den Korb zusätzlich mit ihrem Gewicht.

Dann ließen sie ihn los, und schon senkte sich der Korb mit dem Bäcker, erst langsam, dann verschwand er mit einem lauten Klatschen in dem Brunnen.

Begeistert klatschten die Umstehenden in die Hände, riefen sich etwas zu, schienen dieses Fest zu genießen.

Aber es war noch nicht zu Ende.

Einer der Büttel beschwerte noch einmal den Brotkorb mit seinem eigenen Gewicht, und langsam tauchte der Korb mit dem Bäcker wieder auf.

Pitschnass, hustend und um Luft ringend, mit wirren Haaren, die am ganzen Gesicht klebten, mit irrem Blick hockte er auf dem Boden des Korbes.

Es war ein Anblick, der eigentlich jeden rühren musste, aber das Volk wollte mehr, forderte die Fortsetzung der Zeremonie, und die Büttel machten nicht den Eindruck, als wollten sie Milde walten lassen und sich gegen das Volksbegehren wenden.

„Wie viele Brote muss ich drauflegen?“, fragte einer der Büttel, so laut, dass jeder in der Runde es vernehmen konnte.

Der Bäcker schwieg, sei es, weil er nicht antworten wollte oder weil er die Frage gar nicht verstanden hatte.

Ein Brot legte der Büttel statt seiner in den Korb.

Wieder senkte sich die Waage, wurde nach einem endlos scheinenden Augenblick wieder hochgezogen.

Aus allen Körperöffnungen lief das Wasser, aus Mund und Nase, Augen und Ohren, ja selbst den durch die Kleidung verborgenen.

Wieder fragte der Büttel: „Wie viele Brote muss ich drauflegen?“

Als der Bäcker, unfähig zu antworten, schwieg, legte der Büttel das zweite Brot in den Korb.

Einen Augenblick pendelte der Waagebalken, bevor der Bäcker ganz langsam in die Höhe gehoben wurde.

Dort blieb er, nass und frierend, dem Spott ausgeliefert.

Langsam löste sich die Menschenmenge auf. Es gab nichts mehr zu sehen, nur ab und zu fühlte sich jemand besonders stark und nahm eins der Brote aus dem Korb und freute sich, wenn der Bäcker wieder im Wasser zu versinken drohte. Gerade rechtzeitig legte er das Brot in den Korb zurück, und der Bäcker wurde unter Gelächter wieder emporgehoben.

Erst als die Bauern aus der Umgebung und kleinen Händler ihre Pferde tränken wollten, fand dieses Spiel sein Ende.

Es wurde schon dunkel, als einer der beiden Büttel kam, die Waage wieder über den Brunnenrand zog und den Käfig aufschloss. Nass, durchgefroren, gedemütigt kroch der Bäcker durch das enge Türchen, reckte sich, als er wieder festen Boden unter seinen Füßen hatte, und stellte schmerzhaft fest, dass die lange Gefangenschaft in dem engen Käfig seine Glieder hatte erstarren lassen.

Wie gerädert kam er sich vor. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, wie das wäre, nur einmal hatte er dem Rädern eines Straßenräubers beigewohnt, aber so ungefähr musste sich der Mann gefühlt haben, dachte er.

Mühsam schleppte er sich nach Hause.

Er wählte nicht den direkten Weg, sondern nahm den kürzesten zur Stadtmauer. Dort würde er niemandem begegnen, der ihn kannte, und das Gesindel würde ihn nicht erkennen, nicht jedenfalls in diesem Aufzug.

Unerkannt gelangte er zum Judenviertel.

Drei Gassen hatte man den Juden zugewiesen, um sich anzusiedeln, und hatte das Geviert mit einer hohen Mauer umgeben. Hier lebten sie, arbeiteten sie, feierten sie ihre Feste, starben sie und wurden sie begraben.

In fast allen Städten Europas gab es diese Ghettos, als müsste man sich vor einander schützen.

Das Tor war schon verschlossen, wurde aber noch einmal von dem Wächter geöffnet, als ein später Heimkehrer oder Besucher Einlass begehrte.

Sicher, dachte der Bäcker, war es ein Besucher, denn für einen Bewohner des Ghettos war er zu vornehm gekleidet. Er hätte ohne weiteres als Patrizier durchgehen können, hätte er nicht einen Judenhut getragen. Selbst in der Dunkelheit war er an seiner gelben Farbe deutlich zu erkennen und an der albernen Form, wie er meinte.

Anfangs hatte er sich darüber belacht, hatte nicht verstehen können, wie sich erwachsene Männer einen Hut aufsetzen konnten, der aussah wie ein umgedrehter Trichter mit einem Knauf am Ende. Dann sah er immer mehr Männer mit dieser Kopfbedeckung.

War das die neuste Mode?

Er hörte sich um, und endlich erfuhr er im Wirtshaus: Diesen Hut hatten die Juden zu tragen, damit man sie erkannte. Und noch etwas erfuhr er: Sie hatten einen eigenen Wohnbezirk zugewiesen bekommen. Dort hatten sie zu leben und ihren Geschäften nachzugehen.

Nur einer war von diesem Gesetz ausgenommen, konnte sich kleiden wie jeder andere, konnte in seinem vornehmen Haus am Marktplatz wohnen, völlig unbehelligt,

der Salomon.

Es gab kaum einen Patrizier oder Kaufmann, dem Salomon nicht Geld geliehen hatte, kaum einen Handwerksmeister, der sich nicht von ihm Geld geborgt hatte. Selbst der Bürgermeister und die Herren vom Rat waren seine Schuldner.

Und als man ihm das Angebot machte, ihn von dieser Kleidervorschrift auszunehmen, verzichtete er großzügig darauf, trug den Judenhut wie eine Auszeichnung, ging in das Ghetto und schenkte der Gemeinde das Geld für eine Mikwe und eine neue Synagoge.

Als das Tor geöffnet wurde und der warme Schein der Laternen und Fackeln nach draußen fiel, hätte der Bäcker seine ganze Barschaft hergegeben, hätte er eintreten können. Stattdessen drückte er sich in eine finstere Ecke, um ja nicht entdeckt zu werden.

Währenddessen war es noch dunkler geworden, und der Bäcker musste sich beeilen, nach Hause zu kommen. Eine Laterne, wie es Vorschrift war, führte er nicht mit. Schließlich hatte er am Morgen noch nicht ahnen können, dass er sie am Abend brauchen würde.

Jetzt wollte er nur noch seine Ruhe! Trockene Kleidung anziehen, sich vor dem Feuer wärmen, etwas essen, von seiner Frau verwöhnen lassen.

Schon als er das Haus betrat, wusste er, dass daraus nichts werden würde.

Seine Frau war bei ihrer Arbeit nie leise, jetzt polterte sie. Im Umgang mit den Kindern konnte sie schon manchmal recht laut werden, jetzt schimpfte sie ohne Unterlass.

„Kommst du endlich?“, rief sie ihm zu, noch bevor er die Küche betreten hatte.

„In der ganzen Stadt hast du uns blamiert! Wenn du dich zum Narren machst, kann es mir ja gleich sein, aber mich hast du auch mit hineingezogen. Mit den Fingern zeigen die Leute auf mich. Musstest du Brote so klein machen, dass man das sofort merkt?“

Ohne ein Wort zu sagen, ging der Bäcker so, wie er war, nass und frierend, in die Backstube.

„Das ist wieder typisch für dich! Sagst nichts dazu, lässt alles über dich ergehen!“

Erst wollte er erwidern, sie würde es sowieso nicht gelten lassen, würde ihn sofort unterbrechen, würde nur noch mehr schimpfen, bis die Nachbarn es hören würden, und das wollte er ganz bestimmt nicht. Aber er tat es nicht, es würde zu nichts führen.

Sorgfältig verschloss er die Tür, sah nach dem Mehl, wischte noch einmal über die Tischplatte, stellte einen Schemel davor und sah prüfend an die Decke.

Nachdem er eine Weile so gesessen hatte, fast stumpfsinnig vor sich hin brütend, erhob er sich langsam, schlurfte auf die alte Truhe am Ende seiner Backstube zu, in der er allerlei Werkzeug verwahrte, das er nicht regelmäßig gebrauchte, und entnahm ihr einen kräftigen Strick.

Als seine Frau, ärgerlich darüber, dass er sich wieder der Diskussion entzogen hatte, und das bereits die halbe Nacht, sich endlich Zugang zur Backstube verschafft hatte, hing er an der Decke neben dem Tisch.

Einen Augenblick stand sie da wie erstarrt, unfähig, sich zu bewegen und etwas zu denken.

In ihren Ohren rauschte es, schien die Glocke der Markkirche zu läuten, vermischten sich mit dem Rauschen und der Totenglocke.

Was zum Teufel hatte ihren Mann zu dieser unseligen Tat gebracht? Warum hatte er ihr das angetan?

Völlig apathisch setze sie sich auf den Schemel und schloss die Augen.

Weinen würde sie nicht. Dafür gab es keinen Grund.

Sich bedauern würde sie. Dafür gab es viele Gründe.

Und plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Konnte es sein, dass ihr Mann sich auf diese Art an ihr gerächt hatte?

Die Frau des Scharfrichters

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