Читать книгу Die Frau des Scharfrichters - Klaus Melcher - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеDas Volk hatte sich gerade wieder beruhigt. Immer wieder neue Gerüchte und Verdächtigungen, die die ersten Wochen die Runde durch jedes Wirtshaus, durch jede Gaststube, selbst durch die Zunftstuben und die Stuben der Kaufmannsgilde machten, verebbten langsam.
Die große Sensation, die alle erwarteten, war ausgeblieben, es gab keinen Angeklagten, keine hochnotpeinliche Befragung, keinen Prozess, keine Hinrichtung.
Der Mörder blieb unentdeckt, und das war das einzig Unbehagliche, er lebte unter Umständen noch hier, mitten unter ihnen.
Das Leben in Sülsheim ging wieder seinen gemächlichen Gang, die kleinen alltäglichen Sorgen bestimmten wieder den Tagesablauf. Feuerholz für den Winter musste eingefahren werden, die Kloake war schon wieder voll, das Schwein musste geschlachtet werden, der Schmied verprügelte wieder seine Frau, auf dem Markt hatte man Klothilde, die Frau des Bäckers Harald dabei ertappt, dass sie einen Fisch angefasst hatte, um seine Frische zu prüfen. Erst als der Marktbüttel kam, war sie widerwillig bereit, den Fisch zu nehmen und die Strafe von dreißig Pfennigen zu zahlen.
Und dann plötzlich war alles anders. Der Fisch war nicht mehr wichtig, der kleine Dieb, der eine Brezel gestohlen hatte, das stinkende Fleisch des Metzgers Hagen und der Kaufmann, der falsch wog. Das, worüber man sich eben noch aufregte, hatte auf einmal jede Bedeutung verloren.
Mathilde, die Frau des Schmieds Wolfhard, hatte ihren Mann umgebracht.
Vergiftet hatte diese zierliche Frau ihn, diesen Hünen von Mann, der eine ausgewachsene Ratte mit bloßen Händen zerquetschte, der mit einem einzigen Hammerschlag ein Eisen so dünn wie ein Schwert schmiedete.
David hatte sich gegen Goliath erhoben und gesiegt.
Auch wenn viele – zumindest die meisten Frauen – volles Verständnis für Mathilde hatten, sich eher wunderten, dass sie ihr Leiden nicht früher schon beendet hatte, denn dass der Schmied seine Frau aufs Schwerste misshandelte, war stadtbekannt, so ging diese – letzte – Konsequenz doch zu weit.
Mathilde wurde, kaum wurde die Tat ruchbar, verhaftet und in den Turm gebracht und der Obhut des Scharfrichters übergeben.
Das Verließ lag ebenerdig im Gefängnisturm, oberhalb des Befragungskellers. Der kalte feuchte Raum verfügte nur über ein winziges vergittertes Fenster kurz unterhalb der Decke, durch das kaum Tageslicht drang. In die rauen Steinwände waren kurz über dem Boden und etwa in Halshöhe Eisenringe eingelassen waren, an die die Malefikanten angekettet werden konnten.
Den Boden bedeckte lediglich eine sparsame Aufschüttung aus schimmligem Stroh, das den Inhaftierten als Lager diente. In der Ecke gleich neben der Tür stand der Abtritt, ein aus rohen Brettern gezimmerter Kasten, in dem der Kübel für die Fäkalien stand.
Nachdem Mathilde schreiend auf die Straße gelaufen war, sich selbst bezichtigt hatte, ihren Mann getötet zu haben, hatten Nachbarn erst sie zu beruhigen versucht, doch später, als sie – wie in Verwirrung – darauf bestanden hatte, nach den Wachen gerufen.
Sie fanden den Schmied in der Schmiede vor dem Schmiedefeuer, zusammengebrochen vor dem Amboss. Seine Augen waren weit aus den Augenhöhlen getreten, wie ungläubig, dass ihm der schwere Hammer aus den Händen geglitten war.
Widerstandslos, fast freudig hatte Mathilde sich binden und in die Gerichtslaube abführen lassen, hatte dort vor dem Schreiber ihren Giftmord aus freien Stücken gestanden und war anschließend in den Turm gebracht worden. Das ging so schnell, dass kaum jemand in der Stadt Zeuge des Transports wurde.
Wolfram sah durch das Guckloch in der Tür.
Die Frau war schön, sehr schön sogar, trotz ihres wirren Haares und des sackähnlichen Büßerhemdes, das sie gegen ihr Kleid hatte tauschen müssen. Sie hockte auf einem Haufen Stroh, den die Wachen in einer Ecke des Verlieses zusammengekramt hatten, an Händen und Füßen an eiserne Ketten gelegt, und murmelte unverständliche Worte, verfluchte im nächsten Augenblick ihren Mann und lachte wie irre.
Als er aufschloss, kroch sie in panischem Schrecken ganz dicht an die Mauer, als wäre sie eins mit ihr, und verbarg ihr Gesicht zwischen ihren Knien.
„Ich bringe dir Brot und Wasser“, sagte er ruhig.
Sie blickte aus verquollenen Augen auf, als verstünde sie ihn nicht, sagte nichts.
Ganz langsam, als wollte er sie nicht erschrecken, setzte er sich ihr gegenüber und sah sie an.
Er konnte es nicht fassen. Diese Frau sollte eine Mörderin sein? Sollte das heimtückischste Verbrechen begangen haben, dessen eine Frau fähig war?
„Warum?“, fragte er kaum hörbar nach einer Weile.
Sie sah ihn lange an, schwieg.
Er ließ ihr Zeit, es gab niemanden, der auf ihn wartete. Er hätte auch die ganze Nacht hier bleiben können.
„Warum?“, fragte er noch einmal, jetzt ein wenig lauter.
Da hellte sich ihr Gesicht etwas auf.
„Ich habe es nicht mehr ausgehalten“, flüsterte sie. „Er hat mich gequält, immer wieder hat er mich geschlagen, mit der Faust, mit einem Knüppel, mit der Peitsche, ist über mich hergefallen, wenn ich ihm nicht zu Willen war.
Ich konnte es nicht mehr ertragen.“
„War er das?“ Wolfram zeigte auf die blauen Flecken in ihrem Gesicht.
Sie nickte.
„Hast du schon gestanden?“
„Ja“, antwortete sie, „aber der Richter ist nicht in der Stadt. Ich muss wohl noch ein wenig warten.“
Sie lachte bitter und rieb sich die Handgelenke, als sich die Fesseln etwas verschoben hatten.
„Warte“, forderte er sie auf und trat einen Schritt auf sie zu, um ihr die Handfesseln abzunehmen. Schützend hielt sie die Hände vor das Gesicht, beugte sich vor und stöhnte leise auf.
Der Scharfrichter kannte dieses Stöhnen. Immer wieder hatte er es nach der Folter gehört, wenn seine Malefikanten ein wenig verschnaufen konnten, bis die nächste Tortur begann.
„Zeig mir deine Wunden!“, sagte er.
Mathilde hatte alle Scham abgelegt. Dass es unzüchtig war, sich vor einem Mann zu entblößen, störte sie nicht. Nichts störte sie mehr. Sie hatte nichts zu erwarten, keine Gnade, aber auch keine Folter, wenn sie auch vor dem Gericht gestand.
Sie ließ das Hemd, das man ihr gelassen hatte, hinab gleiten.
„Mein Gott!“, entfuhr es dem Scharfrichter.
Ihr Oberkörper war übersät mit Striemen und blauen Flecken, blutverkrusteten Wunden, als wäre die Frau auf einer Streckbank über den gespickten Hasen gezogen worden und hätten sich dessen Dorne in ihr Fleisch gebohrt.
Vorsichtig befühlte er eine der Wunden, und Mathilde unterdrückte nur mühsam einen Schmerzensschrei.
„War er das?“
Sie nickte, zog das Hemd wieder hoch.
Einen Augenblick schien er noch zu überlegen, dann befreite er sie auch von den Fußfesseln.
Sie würde nicht zu fliehen versuchen.
Was hatte diese Frau durchgemacht?
Noch nie hatte der Scharfrichter so viel Verständnis für einen Mörder gehabt wie jetzt.
Das lag ganz sicher nicht daran, dass diese Frau trotz der vielen Verletzungen immer noch schön war. Es waren die unzähligen Wunden, die dieser geschundene Körper hatte ertragen müssen.
Wenn er unter der Folter ein Geständnis erzwingen musste, dann fügte er dem Malefikanten auch Schmerzen zu, unerträgliche sogar. Das ließ sich nun mal nicht vermeiden, aber er achtete darauf, dass möglichst kein Blut floss und wenn es doch mal passierte, versorgte er anschließend die Wunde. Und er unterbrach die peinliche Befragung immer wieder, damit sich der Malefikant etwas erholen konnte. Die Pein, die er eben erlitten hatte, würde in seinem Gedächtnis bleiben, und sich vermischen mit der Aussicht auf die bevorstehende. Er brauchte keine Steigerung.
Nie hatte der Scharfrichter die äußerste Tortur anwenden müssen, und darauf war er nicht zu Unrecht stolz.
Die ganze Nacht ging ihm die Frau nicht aus dem Kopf, sah er den geschunden Körper, wurde sein Verständnis für sie größer. Er sah sich ihre Wunden salben, ihre unzähligen blauen Flecken mit einem feuchten Tuch kühlen.
Aber was wäre damit geholfen, wenn er das machen würde?
Ihre Schmerzen würde er lindern, aber wenn es zum Prozess kam, würde niemand mehr sehen, welches Martyrium Mathilde durchgemacht hatte, würden ihre Richter kein Verständnis für ihre Tat haben. Sie würden sie verurteilen wie eine gewöhnliche Mörderin.
Aber würden sie das nicht sowieso tun?
Eine Frau, die ihren Mann umbrachte, war schuldig, mochte sie auch noch so viele verständliche Gründe haben.
Sie würde ertränkt oder lebendig begraben werden, das war die übliche Strafe.
Doch jetzt würde sich das Gericht mit dieser Strafe nicht zufrieden geben. Es würde die berechtigte Forderung des Volkes erfüllen und ein deutliches Zeichen setzen. Sie würde auf dem Scheiterhaufen brennen.
Natürlich war es Unsinn, aber er hörte schon, wie die Tribüne auf dem Marktplatz gezimmert wurde, auf der Richter und die Schöffen, der Bürgermeister und die Ratsherren dem Schauspiel beiwohnen würden, er hörte, wie Reisig und Holzscheite herbeigekarrt und aufgeschichtet wurden, er hatte den Geruch nach Gebäck und Limonade in der Nase.
Und nach verbranntem Fleisch.
Es würde ein Volksfest werden, und alles Volk würde auf den Marktplatz strömen, einige schon Tage zuvor, um sich einen guten Platz zu sichern.
Großmütig würden die Kaufleute, deren Häuser den Marktplatz einrahmten, ihre Fensterplätze Freunden und Verwandten überlassen.
Vielleicht würde man den Scheiterhaufen auch auf dem Feuerfeld vor der Stadt errichten, aus Angst vor einer Feuersbrunst. Ganz sicher sogar, dann konnte der Haufen um ein Vielfaches größer sein, und der Feuerschein wäre noch meilenweit bis in das letzte Dorf sichtbar. Als deutliches Fanal.
Es war schon spät in der Nacht, und er hatte immer noch nicht geschlafen, da hielt es ihn nicht mehr auf seinem Lager.
Er betrat einen kleinen Raum, den er vor Jahren zwischen Haus und Stall angebaut hatte und der ihm als seine geheime Küche diente, entnahm einem der Regale einen Tiegel mit einer weißen Salbe, die er selbst gemischt hatte und die bisher immer gewirkt hatte, legte sich seinen Umhang an und ging die wenigen Schritte zum Turm.
Als er die Zellentür aufschloss, zuckte die Gefangene zusammen und sah ihn aus schreckensweiten Augen an.
„Sei ruhig“, besänftigte er sie. „Ich will nur nach deinen Wunden sehen.“
Als sie noch zögerte, fügte er leise hinzu: „Nachher wird es dir besser gehen.“
Er trat vor sie, half ihr, sich aufzurichten und sich das Hemd über den Kopf zu ziehen.
Der Anblick ihres ganzen Körpers war noch erschreckender als das, was er bisher gesehen hatte.
In aller Ruhe breitete er das Hemd auf dem Stroh aus.
„Leg dich hin“, sagte er, „erst auf den Bauch.“
Dann begann er ganz vorsichtig, ihren Rücken zu salben, ihren Po und die Oberschenkel.
„Kannst du dich umdrehen?“, fragte er, als er mit seiner Arbeit fertig war.
Unter Schmerzen folgte sie seiner Aufforderung.
Er hätte nicht sagen können, was schlimmer aussah, Rücken oder Brust und Bauch.
Er griff in den Tiegel, der schon zur Hälfte geleert war, verrieb die Salbe zwischen seinen Händen, bis sie geschmeidig und warm war, und strich sie ganz sanft auf Mathildes Körper. Um die heilende Wirkung zu verstärken, hätte er sie einmassieren müssen, aber er wusste, das würde ihr unerträgliche Schmerzen bereiten, und so ließ er es.
Wieder half er ihr aufzustehen, hielt sie leicht an den Schultern, als sie zu straucheln drohte, und gab ihr das Hemd zurück.
„Morgen komme ich wieder“, verabschiedete er sich und ging.
Natürlich komme ich morgen wieder, was soll ich sonst wohl machen, schalt er sich. Schließlich war er für die Gefangene verantwortlich, und dazu gehörte auch, dass er sie versorgte, egal, was ihr geschehen würde.
So einfach war das.
War es das?
Als er vor seiner Hütte stand, wäre er am liebsten gleich wieder umgekehrt.
Aber es gab keine Rechtfertigung dafür. Er hatte schon mehr getan, als seine Pflicht war.
Er öffnete die Tür und trat in die stickige Küche. Das Feuer im Ofen war fast erloschen, ein etwas größeres Scheit glomm noch und verströmte kaum Wärme.
Er sah sie vor sich, wie sie, festgebunden an den Pfahl, mitten in den Flammen stand, mit schmerzverzerrtem Gesicht, schreiend, wie die Flammen immer höher loderten, bis sie schließlich über ihr zusammenschlugen.
Wenn der Scheiterhaufen zusammengefallen war und nur noch einige wenige Scheite glühten, dann endlich hatte sie es überstanden. Nichts wäre von ihr übrig, Reste einiger weniger Knochen vielleicht.
Und er sah sich – wenn sie Glück haben würde - , wie er hinter ihr stand, als müsste er noch etwas richten, wie er in einem geeigneten Augenblick seinen Dolch ihr von hinten ins Herz stieß, um ihr weitere Qualen zu ersparen.
Früher als üblich suchte er seine Gefangene auf, um sich von ihrem Zustand zu überzeugen und ihr die tägliche Ration an Brot und Wasser zu bringen, wie er sich einredete. Dass er wieder die Salbe mitnahm, war fast selbstverständlich. Dass er noch in der Nacht ein Huhn geschlachtet und eine nahrhafte Brühe gekocht hatte, auch. Schließlich erwartete man von ihm, dass er eine einigermaßen gesunde Gefangene dem Gericht übergab.
Alles war also normal.
Aber er wusste, nichts von dem, was er tat, war normal, er konnte es sich einreden, so viel er wollte. Er würde sich mit der Normalität nicht abfinden.
Noch hatte er keinen festen Plan, nur eine vage Idee.
Aber er hatte auch Angst.