Читать книгу Die Frau des Scharfrichters - Klaus Melcher - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеFünf Tage war Mathilde bereits seine Gefangene, fünf Tage hatte er sie versorgt, hatte ihre Wunden gekühlt und mit seiner Salbe eingestrichen, hatte mit ihr gesprochen, wie er noch nie mit einer Gefangenen gesprochen hatte, mitfühlend, besorgt.
Früher hatte er am Morgen die Zelle aufgeschlossen, hatte die tägliche Ration an Brot und Wasser abgelegt, hatte den Kübel überprüft und, wenn er voll war, ausgeschüttet.
Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, einem Gefangenen die Fesseln abzunehmen, ihn auch noch ein zweites oder drittes Mal am Tag zu besuchen, ihn zu trösten, ihm die Schmerzen zu mildern.
Seine Aufgabe war lediglich, ihn sicher zu verwahren, bis der Gerichtstermin gekommen war, und ihn hochnotpeinlich zu befragen, wenn er nicht gestand. Da war es nur natürlich, dass er jedes Gespräch, jedes persönliche Wort und vor allem jede Empfindung vermied.
Einmal, ziemlich am Anfang seiner Laufbahn, hatte er erlebt, dass ein Malefikant wahnsinnig wurde, weil niemand mit ihm sprach.
Über drei Monate musste er auf seinen Prozess warten, weil das Gericht, das nur dreimal im Jahr tagte, sich wenige Tage zuvor gerade vertagt hatte. Drei Monate eingesperrt sein in diesen dunklen Turm, nur einmal am Tag den Henker sehen, der wortlos die tägliche Ration ablegte und den Kübel leerte, dann wieder das Schließen der Tür zu hören und das Geräusch der schlurfenden Schritte, die sich langsam entfernten, und dann nur noch die fürchterliche Stille, die in seinen Ohren dröhnte, das alles hatte seinen Geist verwirrt. Mit fiebrigen Augen starrte er seinen Richter an, als er endlich vorgeführt wurde, zog fürchterliche Grimassen, die die Schöffen zu Tode erschreckten.
Es gab keinen Zweifel, in ihn war der Teufel gefahren.
Als er gefragt wurde, wie der Teufel aussähe, verzerrte sich sein Gesicht, und er lachte so schaurig, dass allen, die es hörten, ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.
Selbst unter der Folter lachte er, stieß unverständliche Flüche aus.
Ein Geständnis war von ihm nicht zu erwarten, so sehr der Scharfrichter ihn auch auf der Streckbank zog und ihn über den Gespickten Hasen rollte. Er gebärdete sich nur noch toller.
Da befahl der Richter, ihn an den Pfahl zu binden und mit einem glühenden Eisen zu malträtieren. Noch einmal lachte er dieses grässliche Lachen, dann fiel sein Kopf zur Seite, und Richter und Scharfrichter schworen später übereinstimmend, sie hätten gesehen, wie der Teufel versucht hätte, seinen Körper zu verlassen.
Um ganz sicher zu gehen, dass er vernichtet worden war, verbrannte man den Leichnam auf dem Marktplatz unter reger Anteilnahme der Bevölkerung.
Damals hatte er sich geschworen, niemals wieder würde er einen Gefangenen die ganze Zeit über so völlig von der Welt abschneiden. Wenigsten während seines täglichen Besuches würde er mit ihm reden.
Er hatte diesen Schwur gehalten, hatte manchmal auch länger mit einem Malefikanten gesprochen, als unbedingt nötig war, aber noch nie so viel wie mit Mathilde.
Jetzt beschäftigte ihn der Gedanke an Mathilde schon den ganzen Tag. Wenn er seinen Karren durch die Gassen zog, um eine Grube zu leeren, dachte er an sie. Wenn er die Kübel im Fluss entleerte, durch das stinkende ätzende Wasser watete, sah er ihren geschundenen Körper, und die Furunkel und Eiterbeulen an seinen Beinen verloren ihren Schrecken.
War es denkbar, dass ihn mit dieser Gefangenen etwas verband, was er sich weigerte, einzugestehen, was aber immer mehr Besitz von ihm ergriff?
Wie hatte es geschehen können, dass er völlig vergessen hatte, dass sie eine Mörderin war, dass sie den heimtückischsten Mord begangen hatte, den man sich nur denken konnte?
Wer sagte ihm, dass es stimmte, was sie ihm über ihren Mann erzählt hatte?
Sicher, ihr Körper, die vielen, vielen Wunden und blaue Flecken schienen ihre Aussage zu bestätigen.
Aber taten sie das wirklich?
Kaum begannen diese Zweifel an ihm zu nagen, kämpfte er sie nieder, rief er sich ihr Bild ins Gedächtnis zurück, wie sie in den Turm gebracht worden war, dieses arme, geschundene Bündel Mensch, das er gepflegt hatte.
Und er ertappte sich immer öfter bei der wahnsinnigen Vorstellung, ihren Körper, der inzwischen fast geheilt war, sanft zu streicheln, diesen zerbrechlichen Körper vorsichtig an sich zu ziehen, zu umarmen und festzuhalten, um ihm Geborgenheit zu geben.
Nur Geborgenheit?
Noch hatte er die Gelegenheit, sein Verlangen nach dieser Frau zu befriedigen, sie wenigstens einmal zu nehmen. Ohne jedes Risiko würde er die Freuden genießen. Sie könnte sich nicht wehren, keiner würde ihr glauben, und wenn doch, es würde nichts ändern, sie würde zum Tode verurteilt werden, sie leugnete ja nicht einmal die Tat.
Der Weg von seinem letzten Kunden führte ihn über den Marktplatz.
Die Geschäftigkeit, die größer war als an einem normalen Tage, bereitete ihm Unbehagen.
Die Händler, die während der Gerichtspausen unter dem Gewölbe der Gerichtslaube ihre Waren feilboten, bezogen ihr neues Quartier am Rande des Marktplatzes. Andere Händler, die ihre Stände in der Nähe des Rathauses hatten, räumten sie ebenfalls und bauten sie ein Stück entfernt wieder auf.
Ein breiter Streifen blieb frei, wirkte so sinnlos in dieser Betriebsamkeit.
Morgen würde er sich füllen, würden die Bürger der Stadt dicht gedrängt auf ihm stehen oder auf kleinen wackligen Schemeln sitzen und den Prozess verfolgen, würden versuchen, jedes Wort aufzuschnappen, und die vorne saßen, würden es nach hinten weitersagen.
Eine Handvoll Tagelöhner hatte unter der Anleitung des Stadtschreibers begonnen,
das Gestühl aus dem Innern des Rathauses in das Gewölbe zu tragen und nach seiner Anweisung aufzustellen.
Die Stirnwand wurde beherrscht von dem gewaltigen Richterstuhl. Er bestand aus fast schwarzer Eiche, seine Füße waren vollplastisch geschnitzte Adler, die steile Rückenlehne stellte eine Gerichtsszene dar, die dem Jüngsten Gericht nachempfunden war: Über einer großen Waage thronte der Richter, ausgestattet mit seinem Richtstab.
In der Waagschale zur Linken, die einem Kessel nicht unähnlich sah, wanden sich drei Männer und zwei Frauen mit schmerzverzerrten Gesichtern, die Schuldigen. In der Schale zur Rechten saßen die gleichen Figuren, nur mit freudigem Gesicht, die vom Gericht Freigesprochenen.
Der lange Richtertisch, ebenfalls aus dunkler Eiche, trennte das Gericht von den Anklägern und Zeugen. Hinter ihm saßen der Richter und zu beiden Seiten die Schöffen, vier ehrenwerte Kaufleute und zwei Zunftmeister, die regelmäßig wechselten. In der Mitte der Tischplatte prangte der Sachsenspiegel
Der Gerichtsschreiber hatte seinen Platz auf der rechten Seite, dem eisenbewehrten Verschlag gegenüber, in dem der Angeklagte während des Prozesses angekettet verwahrt wurde.
Alles deutete darauf hin: Hier würde über ein schweres Verbrechen verhandelt werden. Und man würde dem Angeklagten keine Gelegenheit zur Flucht geben.
Erneut stemmte sich der Scharfrichter in die Riemen, mit denen er seinen Karren zog, und wandte sich der Nicolaistraße zu, rumpelte sie hinab, bis er zum Tor kam, es eilig passierte.
Nur weg! Raus aus der Stadt!
Er wandte sich nach rechts, rumpelte den schmalen Weg zur Sülse hinab, achtete nicht auf die tiefen Löcher, bemerkte nicht, dass die Kübel mit den Fäkalien überschwappten.
Erst als er an der Furt angekommen war, machte er eine Pause und setzte sich an den stinkenden Fluss.
Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, sich den Ablauf des morgigen Prozesses vorzustellen.
Er würde anders sein als sonst, unkalkulierbar.
Würde das Gericht von der hochnotpeinlichen Befragung absehen, weil Mathilde die Tat zugeben würde? Sie war zur Wahrheitsfindung nicht mehr notwendig, aber würden der Richter und die Schöffen auf dieses Schauspiel freiwillig verzichten?
Er hatte seine Zweifel. Immer wieder hatte er beobachtet, dass sich die Männer an den Schmerzen der weiblichen Malefikanten besonders labten.
Oder würde Mathilde das Unmögliche gelingen, das Gericht von ihrer verminderten Schuld zu überzeugen, es gnädig zu stimmen? Und welche Strafe würde sie dann erwarten? Die Peitsche, Verstümmelung, Verbannung?
Und er würde sie vollstrecken müssen, ob er wollte oder nicht.
Als der Scharfrichter den Kerker betrat, saß Mathilde in ihrer Ecke, zusammengekauert und sah ihn fest an. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden, wusste, dass sie nichts retten konnte.
Außer einem Wunder.
Aber an Wunder glaubte sie nicht mehr. Sie hatte sich den frommen Kinderglauben abgewöhnt, als sie immer und immer wieder geschlagen wurde, und es nur noch schlimmer wurde, wenn sie um ein Wunder betete.
Was morgen passieren würde, war nur eine Farce, das Urteil stand in den Köpfen des Gerichts und der Bürger schon lange fest.
Natürlich hatte sie Angst, nicht vor dem Tod, aber vor dem Sterben. Sie hatte gehört, dass der Scharfrichter es in der Hand hatte, die Qualen des Delinquenten durch einen Stich in dessen Herz zu verkürzen, ohne dass es jemand bemerkte. Er würde ihr gnädig sein, sie würde ihn darum bitten, er könnte ihre Bitte nicht abschlagen, nachdem er ihr so geholfen hatte.
„Ich habe etwas mitgebracht“, sagte er und packte seinen Korb aus.
„Ich habe keinen Hunger“, antwortete sie, „aber ich habe eine große Bitte.“
Ruhig und gefasst trug sie ihre Bitte vor, gab ihm genügend Zeit zu überlegen, und als er endlich zusicherte, er würde sie nicht unnötig leiden lassen, lächelte sie ihn an.
„Danke!“, flüsterte sie. „Du hast mir so geholfen in der ganzen Zeit, in der ich hier war. Jetzt habe ich nur noch einen Wunsch.“
Sie sah ihn an, und auf einmal schien sie dem Henker hell und klar, so gar nicht wie das Gesicht eines Delinquenten, den nur wenige Stunden von seinem Tod trennten.
Sie fasste seine beiden Hände, betrachtete sie lange und legte sie auf ihre Knie, zog sie langsam höher, bis sie ihre Schenkel umfassten.
„Komm, nimm mich! Einmal möchte ich spüren, wie es wäre, wenn ich deine Frau wäre.“
Als er sie nahm, behutsamer als er es bei seinen drei vorigen Frauen jemals getan hatte, stöhnte sie leise auf, und er sah ihr an, dass er ihr Schmerzen bereitete.
„Warte“, sagte er und trennte sich vorsichtig von ihr, legte sich auf den Rücken.
„Komm!“, bat er und half ihr, sich auf seinen Schoß zu setzen, als er ihr enttäuschtes Gesicht sah.
Die ganze Nacht war er bei ihr, hielt sie im Arm, ihr Kopf ruhte auf seiner Brust, wachte er über ihren Schlaf. Wenn sie im Traum zuckte, streichelte er sie vorsichtig, bis sie wieder ruhig atmete. Als das einmal nicht gelang, drückte er sie fester an sich und küsste ihr Haar.
„Sei ruhig, sei ruhig“, sprach er auf sie ein, „ich bin bei dir.“
Sie wachte auf, schien sich einen Augenblick zu besinnen, spürte ihn und drängte sich erneut an ihn.
Alles, was sie in ihrem bisherigen Leben vermisst hatte, fand sie in dieser einzigen Nacht.
Als das erste Tageslicht in die Zelle drang, verabschiedeten sie sich, gerade rechtzeitig, bevor die Gerichtsbüttel kamen, sie fesselten und zum Markt führten.
Eben war noch ein Raunen zu hören, als wenn Bienen in einem Bienenstock gestört werden, jetzt, als sie den Marktplatz betrat, durch die Gasse vor dem Rathaus in die Gerichtslaube geführt wurde, verstummten all die vielen hundert Anwesenden.
Dicht gedrängt standen sie beieinander, nur wenige hatten einen Sitzplatz erkämpft, sogen die Szene begierig in sich auf.
Sah so eine Mörderin aus, die schon in wenigen Stunden zum Tode verurteilt werden würde?
Die Büttel führten Mathilde in den Käfig, der nur wenig größer war als der Käfig der Bäckerwaage, nahmen ihr die Fesseln ab und verschlossen die enge Tür mit einem Riegel, der selbst der Wut des stärksten Mannes standgehalten hätte.
Als sich das Gericht versammelte, in der Mitte des Tisches der Richter, zu seinen beiden Seiten die Schöffen, an einem kleinen Tisch zur Linken der Schreiber, ihm und Mathilde gegenüber der Ankläger, ging eine fast ehrfürchtige Stille durch die Menge.
Fast unbeobachtet nahmen die wenigen Zeugen gegenüber dem Richtertisch Platz. Man wusste, was sie sagen würden, dass der Tote ein Wüterich gewesen wäre, dass er seine arme Frau ständig auf das Schlimmste misshandelt hätte, aber man wusste auch, das alles würde ihre Schuld nicht mindern.
Der Ankläger bezog seine Position vor dem Richter, machte eine knappe Verbeugung vor ihm und begann mit fast sanfter, mitfühlender Stimme die Leiden der Angeklagten aufzuzählen. Alles, was die Zeugen zu Mathildes Gunsten sagen konnten und auszusagen bereit waren, trug er vor, und schon glaubten die Zuhörer an ein Wunder.
Während er sprach, betrachtete er Mathilde in ihrem schäbigen Büßerhemd, und seine Augen begannen auf eine eigenartige Weise zu leuchten.
Ganz langsam steigerte sich seine Stimme, wurde lauter, kälter, bis er mit schneidender Stimme forderte, man solle Mathilde hochnotpeinlich befragen, denn sie hätte ihre Tat noch nicht gestanden.
„Nein! Aufhören! Hört auf! Ich gestehe doch: Ich habe meinen Mann vergiftet!“, schrie Mathilde, die eben noch auf ein mildes Urteil gehofft hatte.
Mit einer weit ausholenden Bewegung seines Armes schnitt der Anwalt Mathilde das Wort ab. Seine Augen blitzten, Zornesfalten traten auf seiner Stirn hervor, es gab keinen Zweifel mehr, er wollte Mathilde im Befragungskeller leiden sehen. Und in seiner Vorstellung sah er sie bereits dort, freute sich schon auf ihr Leiden.
„Ihr gesteht, Euren Mann vergiftet zu haben?“, unterbrach der Richter den Ankläger.
„Ja!“
Mathilde wollte noch von ihrem Martyrium erzählen, von den vielen Nächten, die sie vor Schmerzen nicht hatte schlafen können, dass er sie nicht nur einmal fast Tode geprügelt hätte, doch das Gericht wollte keine Einzelheiten hören.
Sie hatte gestanden, und so war die weitere Verhandlung nur noch eine Formsache. Auf eine peinliche Befragung konnte, sehr zum Ärger des Anklägers, verzichtet werden. Alle seine Versuche, sie doch noch durchzuführen, blieben erfolglos.
Nur ein Zugeständnis an das allgemeine Rechtsempfinden machte das Gericht: Mathilde sollte auf dem Scheiterhaufen sterben. Und jubelnd vernahm das Volk auf dem Marktplatz das Urteil.