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1Begriffsbestimmung

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Als Psychiatrie, abstammend von Seele (griech. psyche) und ärztliche Heilkunde (griech. iatreia), bezeichnet man die Lehre vom Erforschen, Diagnostizieren und Behandeln psychischer Störungen und Erkrankungen. Das früher auch als Seelenheilkunde bezeichnete medizinische Fach wird von ÄrztInnen praktiziert und steht in Beziehung zu anderen Disziplinen, wie Neurologie, Biologie, Genetik, Psychologie, Soziologie, Verhaltensforschung, Psychotherapie, Pflegewissenschaften etc. Die Berücksichtigung sowohl von biologischen als auch von psychosozialen Faktoren ist für das Wesen der Psychiatrie kennzeichnend. Dieser Ansatz wird u. a. als „mehrdimensional“, „biopsychosozial“ oder „pluridimensional“ bezeichnet. Jede „unidimensionale“ Arbeitsweise hat dennoch ihre Berechtigung und dient dazu, die verschiedenen Dimensionen und deren Beziehungen zueinander zu erfassen, statt sie zu verleugnen.

Folgende methodische Ansätze, Teilbereiche und Forschungsgegenstände können differenziert werden:

Die Psychopathologie ist die Lehre von der Beschreibung des gestörten Erlebens, Befindens und Verhaltens. Ihre Aufgaben sind das Erkennen, Ordnen und Beschreiben von psychischen Erkrankungen (deskriptive Psychopathologie), bezogen auf die inneren Zusammenhänge und zwischenmenschlichen Vorgänge (verstehende, dynamische Psychopathologie). Methoden der Psychopathologie sind das fachliche Gespräch und die genaue Verhaltensbeobachtung von Personen mit psychischen Störungen.

Die biologische Psychiatrie beschäftigt sich mit den biologischen Grundlagen von psychischen Störungen und bedient sich u. a. biochemischer, anatomischer, neurophysiologischer, psychophysiologischer, genetischer und chronobiologischer Ansätze. Dieser Teilbereich der Psychiatrie hat durch die Entdeckung der Neurotransmitter, die Entwicklung von Psychopharmaka und durch neue radiologische Darstellungen des Zentralnervensystems außerordentliche Fortschritte erzielt und gilt derzeit als größter psychiatrischer Forschungsbereich.

Die Sozialpsychiatrie befasst sich mit der Häufigkeit psychischer Störungen sowie deren soziokulturellen Bedingungen und richtet ihr Augenmerk auf die Beziehung zwischen Krankheit und Gesellschaft. Im besonderen Blickfeld des Interesses stehen die Auswirkungen von Familienstrukturen, Gewalt oder sozioökonomischen Verhältnissen auf die seelische Entwicklung.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist mit der Erforschung und Therapie von psychischen Störungen von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen befasst und unterscheidet sich in deren Ansätzen nicht von jenen der übrigen Psychiatrie. Als mittlerweile selbstständiges medizinisches Fachgebiet wird sie in einem eigenen Kapitel dargestellt (siehe Kapitel XVI).

Die Gerontopsychiatrie (Alterspsychiatrie) ist die ärztliche Seelenheilkunde des höheren Lebensalters und beschäftigt sich mit den in diesem Alter besonders häufig auftretenden psychischen Krankheiten, wie demenzielle und delirante Syndrome oder depressive Störungen. Durch die gesteigerte Lebenserwartung des Menschen ist die Bedeutung dieses Teilbereichs in den letzten Jahren gestiegen.

Die forensische Psychiatrie gilt als Grenzgebiet zwischen Psychiatrie und Rechtsfragen und befasst sich mit juristischen Aspekten psychischer Erkrankungen. Im Zentrum stehen Fragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, Geschäfts- und Testierfähigkeit, freien Willensbestimmung (Erwachsenenvertretung, Vollsorgevollmacht, Sachwalterschaft) und der Unterbringung in eine psychiatrische Abteilung ohne Zustimmung des Betroffenen.

Die Neurologie ist die Lehre von organisch fassbaren Erkrankungen des Nervensystems, wie beispielsweise Schlaganfälle, Tumore des Gehirns, Multiple Sklerose oder Wurzelkompressionssyndrome nach Bandscheibenvorfällen. Neurologie und Psychiatrie fasste man bis vor wenigen Jahren als „Nervenheilkunde“ zusammen, da das Nervensystem des Menschen als der wesentliche Forschungsgegenstand verstanden wurde. Durch die Fülle der neuen Erkenntnisse und anderer Zugänge wurden die Fächer voneinander differenziert und zu eigenen medizinischen Bereichen.

Die Psychosomatik ist kein selbstständiges Fach, sondern eine ganzheitliche Betrachtungsweise, welche die körperlichen und seelischen Faktoren aller Erkrankungen des Patienten in ihrer Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung umfasst. Neuere Erkenntnisse haben die Vorstellung von „psychosomatischen“ Erkrankungen relativiert, da seelische und biologische Faktoren bei allen Erkrankungen untrennbar miteinander verbunden sind.

Die Psychologie ist die Lehre von normalen seelischen Vorgängen, wie dem Erleben und Handeln des Menschen unter unterschiedlichen körperlichen, biografischen, soziologischen, ökologischen und kulturellen Bedingungen. Für die Psychiatrie sind Entwicklungspsychologie, Tiefenpsychologie und Psychodiagnostik von besonderem Interesse. Der Beruf der Psychologin/des Psychologen erfordert ein eigenes akademisches Studium.

Die Psychotherapie kann als Teilbereich der psychiatrischen Behandlung betrachtet werden und stellt eine Therapie von psychischen Störungen mit psychologischen Mitteln dar. Als ein bewusster und geplanter interaktiver Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen oder Leidenszuständen aller Art hat sich die Psychotherapie in vielen Bereichen des Gesundheitswesens als wichtige Behandlungsform etabliert. Die Ausübung ist an eine spezielle Ausbildung gebunden und gesetzlich geregelt. Zu den einzelnen Verfahren und Schulen zählt man u. a. die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie oder die systemische Familientherapie (siehe Kapitel III, 3).

Die Epidemiologie beschäftigt sich als Grundlagenwissenschaft mit der Häufigkeit und den soziologischen Bedingungen von psychischen Störungen. Unter Prävalenz versteht man die Gesamtzahl aller Krankheiten oder Störungen einer definierten Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt. Inzidenz definiert die Häufigkeit von neu aufgetretenen Krankheiten innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Moderne Epidemiologie versucht, Untersuchungsergebnisse und Ansätze aus unterschiedlichen Forschungsgebieten zu integrieren.

Grundlagen der Psychiatrie

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