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1Reformen in der Psychiatrie 1.1Voraussetzungen

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Bis in die 60er- und 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts fand psychiatrische Behandlung vorwiegend in Großkrankenhäusern statt. Die psychiatrischen PatientInnen wurden, von körperlich Erkrankten getrennt, in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht, die man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meist am Rande von Großstädten errichtete. Es handelte sich um mächtige, von Grünanlagen umgebene Gebäude. Die Umgebung soll von überdimensionierten kahlen Krankenzimmern geprägt gewesen sein, von Pflegepersonen, die eher den Charakter von Gefängniswärtern hatten, und von PatientInnen in formloser Anstaltskleidung. Diese verhielten sich ruhig, apathisch oder ängstlich oder zeigten stereotype Bewegungsmuster oder innere Unruhe. Die geografisch großen Distanzen zum Heimatort, die Isolierung und das fehlende psycho- und soziotherapeutische Angebot der Spitäler führten zum Hospitalismus der PatientInnen, mit der Konsequenz, dass lange Krankenhausaufenthalte den Betroffenen mehr Schaden als Nutzen brachten. Eine Rehabilitation konnte in vielen Fällen nicht erreicht werden und die Betroffenen fristeten ein oft jahrzehntelanges Dasein an diesen unansehnlichen Orten. Die psychiatrischen Anstalten entwickelten sich immer mehr zu einem Problem im modernen Sozialstaat. Sowohl MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen als auch PatientInnen und deren Angehörige konnten sich glücklich schätzen, wenn sie mit dieser „Psychiatrie“ nicht in Kontakt kamen. All dies führte zu gesundheitspolitschen Überlegungen von PatientInnen- und Angehörigengruppen, PsychiaterInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen und PolitikerInnen und in den 1970er-Jahren schließlich zu Reformbewegungen in der Psychiatrie.

Folgende Voraussetzungen lagen vor:

1.Anti-Psychiatrie: In dieser Bewegung, die keine einheitliche war, ging es um eine Erweiterung der bislang praktizierten Psychiatrie. Sie wurde von verschiedenen philosophischen Strömungen, wie Existenzialismus, Strukturalismus und Phänomenologie, mitgetragen. So wurden beispielsweise soziale Ursachen psychischer Störungen in den Vordergrund der Betrachtung gestellt, was als Reaktion auf die von den Nationalsozialisten wieder entdeckte Degenerationslehre und die Eugenik zu verstehen ist. In den Augen der Vertreter der Anti-Psychiatrie wurde die traditionelle Psychiatrie allerdings auch als Ausdruck einer repressiven, „krank machenden Gesellschaft“ gesehen, mit der Aufgabe, abweichendes Verhalten zu sanktionieren oder zu pathologisieren. Krankheitsbilder wie etwa Schizophrenie wurden geleugnet und psychiatrische Diagnosen als Nachteil bringende Etikette betrachtet. Obwohl diese radikalen Ansichten heutzutage kaum mehr vertreten werden, bewirkte die Bewegung, dass viele strukturelle und personelle Verbesserungen vor allem in der Anstaltspsychiatrie durchgesetzt werden konnten und sich eine grundsätzliche Diskussion über den Umgang mit psychiatrischen PatientInnen in Gang setzte.

2.Psychopharmaka: Obwohl die Verabreichung von Psychopharmaka – allem voran Neuroleptika (Antipsychotika) – von Anhängern der Anti-Psychiatrie heftig kritisiert wurde, ist es gerade diese Medikamentengruppe, die wesentlich zur Erneuerung der Psychiatrie beigetragen hat. Mit ihrer Einführung in den 1950er-Jahren wurde es möglich, akute schizophrene Episoden zu therapieren und PatientInnen durch Langzeitverordnungen auch außerhalb einer geschlossenen Anstalt zu behandeln.

3.Ökonomische Gründe: Die veralteten Großanstalten mit ihren vielen LangzeitpatientInnen bedeuteten auch in finanzieller Hinsicht ein Problem für den Staat. Radikaler Bettenabbau, kürzere Aufenthaltszeiten und berufliche Wiedereingliederung von PatientInnen sollten sich vorteilhaft auf das Budget des Gesundheitswesens auswirken. Dies überzeugte die PolitikerInnen, einer Reform zuzustimmen, die finanzielle Vorteile brachte.

Grundlagen der Psychiatrie

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