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Fünftes Kapitel: Die Flucht

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Spät in der Nacht war Julian immer noch hellwach. Er hatte an diesem Tag etwas gesehen, wonach er sein ganzes Leben lang gesucht hatte. Er hatte einen Zauberer gesehen. Und der Zauberer hatte ihn auch gesehen, hatte unter allen Leuten im Zelt ausgerechnet ihn angeblickt. Was er wohl damit hatte sagen wollen? War in seinem Blick vielleicht eine geheime Botschaft versteckt gewesen?

Schon morgen würde der Zirkus weiter gezogen sein und all die Fragen, welche die Begegnung mit Mazandaras in Julian geweckt hatte, würden unbeantwortet bleiben. Das durfte nicht geschehen. Der Junge war entschlossen ein Zauberer zu werden. Und er würde alles dafür tun, sein Ziel zu erreichen.

Es war kurz nach ein Uhr morgens, als Julian begann seinen Rucksack zu packen. Was würde er auf seiner Reise brauchen? Frische Unterwäsche, einen Pullover, seine Zahnbürste... Was noch? Eine Taschenlampe würde ihm vielleicht sehr hilfreich sein. Nachdem er dies alles eingepackt hatte, schlich der Junge in die Küche und bereitete sich als Proviant ein Käsebrot zu. Dann verließ er auf leisen Sohlen das Haus.

Draußen war es nicht ganz finster. Der Mond war fast voll und geleitete Julian mit seinem blassen Licht durch die Straßen der Nacht. Dazu kamen viele elektrische Laternen, welche die kleine Stadt das ganze Jahr über vor der Finsternis bewahrten. Julian war noch nie zuvor so spät alleine unterwegs gewesen, doch Angst hatte er keine. Alles schlief. Niemand sah den Jungen durch die Straßen eilen.

Sein Ziel war natürlich der Zirkus. Bedrohlich ragte das spitzzulaufende Dach des Zeltes am Nachthimmel empor. Bald hatte der Junge das Zirkusgelände erreicht und verschaffte sich Eintritt. Niemand war da um ihn daran zu hindern. Nichts rührte sich.

Julian trat auf den Zelteingang zu, eine schwarze dreieckige Öffnung im grauen Stoff des Zeltes, welches im Tageslicht noch bunt gewesen war. Doch nachts gab es keine Farben. Sollte dieser Zelteingang für Julian vielleicht das Tor in eine andere Welt sein, eine Welt in der auch er ein Zauberer werden konnte?

Der Junge ging ins Zelt hinein und tiefe Dunkelheit umfing ihn. Hierher drang das Licht des Mondes nicht. Auch die Straßenlaternen waren viel zu weit weg. Nur ganz hoch oben, wo die Scheinwerfer vor vielen Stunden die Vorführung beleuchtet hatten, war noch ein schwaches, rötliches Glühen erkennbar. Obwohl er außer diesem fernen Glühen rein gar nichts sehen konnte, spürte Julian, dass er sich in einem großen Raum befand. Die Luft war hier wärmer als draußen auf den Straßen und es wehte kein Wind. Alles war ganz still.

Nachdem er eine Weile in der Dunkelheit gestanden war, holte der Junge schließlich seine Taschenlampe hervor und leuchtete um sich. Niemand war hier. Julian bahnte sich seinen Weg nach vor in die Manege. Unter seinen Füßen spürte er das Sägemehl, das hier überall den Boden bedeckte. Bald stand er ganz in der Mitte des Zeltes. Hier war es geschehen. Hier hatte Mazandaras gezaubert. Der Junge ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die leeren Sitzbänke der Tribüne wandern.

Plötzlich ertönte ein lautes Fauchen. Julian erschrak so sehr, dass er die Taschenlampe fallen ließ. Sie fiel auf den Boden und erlosch. Wieder fauchte es. War das ein Löwe? Der Junge blieb ganz still und tastete nach seiner Lampe. Zum dritten Mal hörte er das Fauchen, doch es war immer noch gleich weit weg und kam nicht näher. Julian schlich zum anderen Ausgang des Zeltes und stand plötzlich dicht vor dem Käfig, in dem die Löwen hausten. Sie schliefen nicht. Eines der großen Tiere saß ganz nah an den Gitterstäben und blickte dem Jungen mit festem Blick entgegen. Julian trat einen Schritt zurück. Er kannte eine Geschichte, in welcher ein Löwe wie dieser sprechen konnte und wunderbare Dinge zu erzählen wusste. Konnte vielleicht auch dieser hier etwas sagen? Doch der Löwe blieb stumm und wandte sich dann ab, als Julian ihn mit seiner Taschenlampe blendete.

Der Junge schlich weiter um das Zirkuszelt herum. Er kam vorbei an Elefanten und Giraffen und erreichte schließlich die hölzernen Wägen, in welchen die Künstler wohnten. Wie anders all dies bei Nacht aussah als am Tage.

Es war nicht schwer den Wagen des Zauberers zu finden. In großen, goldverzierten Buchstaben stand sein Name darauf:

Mazandaras

Julian schlich um den Wagen herum. Plötzlich hörte er Geräusche. Schnell schaltete der Junge seine Taschenlampe aus, um nicht bemerkt zu werden. Zwei Männer, die er bei der Vorführung, als Clowns verkleidet, gesehen hatte, torkelten laut lachend aus der Stadt herbei und näherten sich einem der Wägen. Julian drückte sich eng an das Holz von Mazandaras' Zuhause und hielt den Atem an. Niemand bemerkte ihn. Bald war alles wieder still.

Eine Tür am Wagen des Zauberers stand halb offen. Mit klopfendem Herzen betrat Julian das Reich der Magie. Es war ganz finster. Aus Angst, das Licht würde ihn verraten, verzichtete der Junge darauf, die Taschenlampe einzuschalten. Er war im Inneren des Zauberwagens. Ganz in der Nähe hörte er jemanden laut schnarchen. War dies der Zauberer?

Julian tastete sich durch das Dunkel des Wagens. Er berührte verschiedene Gegenstände, die er ohne Licht nicht benennen konnte. Waren es vielleicht Zauberwerkzeuge? Plötzlich stieß er mit dem Fuß gegen irgendetwas, das seiner Berührung nachgab und lautstark zu Boden fiel. Julian erstarrte.

Doch das Schnarchen ging ohne Unterbrechung weiter. Mazandaras schlief tief und fest. Schließlich fand Julian eine große, leere Truhe. Er öffnete sie und legte sich hinein. Hier würde er vorerst bleiben. Nachdem er sein Käsebrot in der Dunkelheit verschlungen hatte, schlief er schon bald ein. Obwohl es sehr unbequem war, hatte der Junge einen guten Schlaf. Er sorgte sich nicht darum, was geschehen würde, wenn man ihn hier fand. Er hatte erreicht, was er wollte. Er war hier, hier im Wagen eines Zauberers und bald schon würde er lernen, wie man zaubert.


Es kam der Tag und der Zirkus zog weiter. Nach emsiger Arbeit war schon in den frühen Morgenstunden alles abgebaut und das Zelt war verschwunden. Die Käfige mit den Tieren, die Wägen der Künstler – alles wurde auf Lastwagen gepackt und befand sich bald auf der Fahrt in eine andere Stadt. Schließlich war das Zirkusvolk ein Volk der Reisenden, deren einzig wahre Heimat die Straße war, die sie von einem Ort zum nächsten brachte, von einem Land zum andern. So kam es also, dass Julian zum ersten Mal in seinem Leben die kleine Stadt, in der er aufgewachsen war, verließ.

Er selbst merkte nichts davon, denn er schlief immer noch tief und fest in einer Truhe im Inneren des Zauberwagens.

Julian der Zauberer

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