Читать книгу Ordnungsbehördengesetz Nordrhein-Westfalen – Kommentar - Klaus Schönenbroicher - Страница 14
IV. Zukunft des Ordnungsrechts 1. Gesellschaftspolitische Dimension
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Ordnungsrecht ist konkretisiertes Verfassungsrecht[69], aber auch Schauplatz gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Jahrzehntelang wurden die Auseinandersetzungen um (angeblichen) gesellschaftspolitischen bzw. künstlerischen Fortschritt auch im Rahmen und mit Mitteln des Ordnungsrechts geführt, wobei es keineswegs allein um die „öffentliche Ordnung“ ging. Hintergrund war vielmehr die in Staatswissenschaft bzw. Soziologie beschriebene Pluralität des Rechts und der Rechts-, Moral- und Zusammenlebensvorstellungen in einer Gesellschaft[70]. Das Ordnungsrecht wirkte den „Aktionen“ der künstlerischen und gesellschaftlichen „Avantgarde“ gegenüber mitunter rückständig, kleinbürgerlich, repressiv. Ordnungsrechtlich wurden lange auch die Auseinandersetzungen um (bezahlten) Sex und aggressive Nacktheit in der Öffentlichkeit geführt. In einem Lehrbuch hieß es noch 1981, es sei wohl als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung anzusehen, „wenn etwa ein Mädchen im Park einer Kleinstadt im Bikini im Sommer spazierengeht“[71].
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Mag man den Sitten- oder Geschmacksverfall im öffentlichen Raum, je nach gesellschaftspolitischem Standpunkt, zu Recht oder nicht beklagen: Das Ordnungsrecht ist jedenfalls kein Erziehungsinstrument. Es ist kein Herrschaftsmittel einer Schicht oder Klasse über eine andere, und es ist kein Instrument zur Verhinderung (angeblichen) gesellschaftlichen Fort- (oder Rück)schritts. Die Provokation wiederum ist im postindustriellen, postmodernen Zeitalter auch an ein gewisses Ende gekommen, die einstigen (1968) jungen Wilden sind tot, alt, müde, viele als Kunstprofessoren verbeamtet, und von den Jungen, die gerne Provokateure wären, erscheinen manche wie die „Artisten unter der Zirkuskuppel: ratlos“. Heute sieht sich das Ordnungsrecht nicht mehr in endlose Auseinandersetzungen mit Künstlern und um echte oder vermeintliche (anstößige) Kunst verwickelt. Heute geht es in der gerichtlichen Überprüfungspraxis von Ordnungsverfügungen im Bereich der Kunst um gesellschaftspolitisch so vergleichsweise läppische Themen wie die Frage, ob „Heatballs“ (das sind die von der EU verbotenen Glühbirnen) als „Aktionskunst“ geschützt sein können[72].
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Die gesellschaftliche „Befreiung“ der 1970er-Jahre und der hohe volkswirtschaftliche Wohlstand haben andere Phänomene hervorgebracht: Eine nicht zu übersehende Verwahrlosung des öffentlichen Raums, besonders des öffentlichen Personenverkehrs, ein keineswegs künstlerisch oder sonst „überbaumäßig“ motiviertes Sich-gehen-Lassen in der Öffentlichkeit, offener Alkoholkonsum im öffentlichen Raum[73] (vor allem im Öffentlichen Nahverkehr, sodass viele, die es sich leisten können, auf den Individualverkehr ausweichen, zum Nachteil der Umwelt), öffentliche Verunstaltung privaten Eigentums, in den Ballungszentren mitunter flächendeckend (Grafitti-Sprayer)[74], wilde „Facebook-Partys“[75], die Gefahren und Belästigungen, die vom Rauchen[76], von Hunden und ihren Haltern[77] ausgehen und anderes. Man muss nicht auf soziologische Forschungen wie jene zur (selbstverständlich umstrittenen) „Broken-Windows-Theorie“[78] verweisen, um für Haltung und Einhaltung von Formen und Benehmen im öffentlichen Raum einzutreten[79].