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Kapitel 1 Das materielle Arztstrafrecht Vorbemerkung
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Durchmustert man das einschlägige Fallmaterial, so stehen die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) und die fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) mit weitem Abstand an der Spitze der in Arztstrafverfahren zu untersuchenden Fehlervorwürfen, wobei schwerpunktmäßig vor allem die operativen Fächer in den Kliniken betroffen sind.[1] Diese Deliktstatbestände bilden den traditionellen Kernbereich des Arztstrafrechts. Dagegen sind gerade diejenigen Strafvorschriften, „die sich speziell an den Arzt wenden“ – z.B. die Verletzung der Geheimhaltungspflicht nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB, die unrichtige Feststellung der Indikationsvoraussetzungen zum Schwangerschaftsabbruch nach §§ 218a und 218b StGB oder ärztliche Pflichtverletzungen gemäß § 218c StGB und das Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach § 278 StGB – in der Praxis kaum von Bedeutung. Auch die übrigen, im „klassischen“ Arztstrafrecht einschlägigen Strafnormen, etwa die unterlassene Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB), die ärztliche Sterbehilfe auf Verlangen des Patienten (§ 216 StGB) oder der Schwangerschaftsabbruch nach § 218 StGB spielen forensisch eine gänzlich untergeordnete Rolle. Vor diesem Hintergrund erscheint es gerechtfertigt, den Schwerpunkt der materiell-rechtlichen Ausführungen auf die strafrechtliche Fahrlässigkeitshaftung des Arztes zu legen. Anschließend folgen die weiteren, seit längerem einschlägigen Delikte sowie das nun ebenfalls besonders bedeutsame Medizinwirtschaftsstrafrecht (zu seiner Entstehung schon Rn. 5). Zum Abschluss des ersten Teils des Buches sind Fragen der SARS-CoV-2-Pandemie zu behandeln.
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Bei alledem ist nicht zu übersehen, dass selbst fernab der Sterbehilfe-Fälle auch der Vorwurf eines vorsätzlich begangenen Tötungsdelikts ernsthaft im Raum stehen kann. Entsprechende Fälle sind in der Praxis zwar selten. Auch im Gesundheitswesen ist aber nicht allein auf exzeptionelle Fälle wie denjenigen des Pflegers Niels H.[2] oder auf Hochrisikooperationen (individuelle Heilversuche) bzw. waghalsig erscheinende Humanexperimente[3] zu verweisen. Die Rechtsprechung musste sich bereits mit der lebensgefährlichen Verdeckung eigener Behandlungsfehler befassen (siehe Rn. 46 ff. und Rn. 643) und fragen, ob Transplantationsmediziner bereit gewesen sein könnten, fremde Patienten zugunsten eigener Patienten durch eine Manipulation der Organvergabe zu töten (näher Rn. 882 ff.). Im Fall Niels H. haben Gerichte zu untersuchen, ob verantwortliche Ärzte vorsätzlich zulasten ihrer existenziell gefährdeten Patienten nicht eingeschritten sein könnten.[4] Zu diesen seltenen Konstellationen ist das Folgende zu sagen:
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Denkunmöglich ist eine vorsätzliche Tötung und damit eine Strafbarkeit gem. § 212 (Totschlag) oder § 211 StGB ([Verdeckungs-]Mord)[5] durch einen Arzt auch im beruflichen Kontext nicht. Weil der Eventualvorsatz genügt, ist die Vorsatzschwelle schon dann überschritten, wenn ein Mediziner den Todeseintritt für möglich hält und diesen billigend in Kauf nimmt, was explizit keinen eigentlichen Tötungswunsch voraussetzt.[6] Zu Recht haben aber Ermittlungsverfahren, die sich nach möglichen Behandlungsfehlern regelmäßig auch auf den Vorwurf einer vorsätzlichen Tötung richten, zu unterbleiben. Der Tatverdacht ist nicht mit einer beliebigen Vermutung zu verwechseln. Er bietet keinen Raum, auf Grund von exzeptionellen Einzelfällen stets die vorsätzliche Inkaufnahme des Todes seitens des behandelnden Arztes zu erwägen. Die auch für den Kriminalisten leitende Erfahrung lehrt, dass Ärztinnen und Ärzte dominant mit dem Ziel agieren, mit ihrem beruflichen Tun und Unterlassen den Patienten zu heilen oder seine Leiden zu lindern.[7] Anderes kann im beruflichen Kontext dann – und nur dann – gelten, wenn im konkreten Einzelfall Indizien gerade den ungebrochenen Heilungswillen erschüttern. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn eine Patientin mit lebensgefährlichen Komplikationen (ambulant) operiert wurde und der Behandelnde unverständlicherweise die Verlegung auf eine Intensivstation aufschiebt,[8] Angehörige zum Zustand der Patientin belügt und möglicherweise gehandelt hat, um eine Offenlegung früherer Behandlungsfehler zu vermeiden (näher sogleich Rn. 47 ff.). Gleiches kann ferner gelten, wenn handlungsverpflichtete Ärzte starke Indizien für tödliche Patientenschädigungen durch einen Pfleger sammeln, in diesem Wissen aber keine geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der später realisierten Gefahr für weitere Patienten einleiten.[9]
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Steht ein solcher Fall vor Gericht zur Beurteilung an, gelten materiell-rechtlich und strafprozessual für die Ärzte keine Sonderregeln.[10] Zum Tragen kommen muss aber die gem. § 261 StPO allgemein für die Vorsatzprüfung gebotene vorsichtige Gesamtwürdigung des Sachverhalts; schon sie steht einem pauschalen Schluss aus der objektiven Gefährlichkeit einer Handlung auf die Elemente des Vorsatzes entgegen.[11] Sie zwingt – wie der BGH mit Fug und Recht bestätigt hat – etwa in den Fällen der (möglicherweise) manipulierten Organvergabe dazu, auch vorsatzkritische Indizien sorgfältig festzustellen und in der Beweiswürdigung auszuwerten (siehe näher Rn. 894 f.).[12] Und gerade hier ist der nicht nur kontrafaktisch unterstellte Erfahrungswert zu bedenken, dass Ärztinnen und Ärzte bei einem Handeln im beruflichen Zusammenhang regelmäßig mit dem Ziel der Rettung und nicht der Tötung ihrer Patienten handeln. Angesichts der psychologischen Folgen eines Todeseintritts, die bei aller Professionalität im Fall gescheiterter beruflicher Rettungsbemühungen nahe liegen, bedarf es insoweit erheblicher belastender Indizien, um bei der gefahrgeneigten Tätigkeit der Ärzte den Vorsatz belegen zu können. Abstrahierende generalpräventive Überlegungen, gerade durch eine strenge Zuschreibung des Vorsatzes besonders effektiv auf die Beachtung medizinischer Sorgfaltsstandards hinzuwirken, verbieten sich schon deshalb, weil sich die Vorsatzprüfung auf die subjektive psychische Situationsverarbeitung und -beurteilung des individuellen Akteurs richtet.[13]
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In diesem Sinne hat der BGH zum Beispiel im folgenden Fall auf einer vorsichtigen Prüfung des Tötungsvorsatzes bestanden:[14]
Der im Fach Unfallchirurgie habilitierte Angeklagte betrieb als ambulant praktizierender Chirurg eine Tagesklinik in Berlin. Am 30. März 2006 unterzog sich die 49 Jahre alte gesunde Sch. bei dem Angeklagten von 9.00 Uhr bis 12.30 Uhr einer Bauchdeckenstraffung, verbunden mit einer Fettabsaugung, Entfernung einer Blinddarmoperationsnarbe und Versetzung des Bauchnabels. Für die Operation und das schmerzausschaltende Verfahren hatte sie am 22. März 2006 schriftlich ihr Einverständnis erklärt. Der Angeklagte sicherte Frau Sch. der Wahrheit zuwider zu, dass am Tag der Operation ein Anästhesist zugegen sein werde. Auf ihre in Anwesenheit ihres Ehemanns vor Beginn des Eingriffs gestellte Frage, wo der Anästhesist sei, antwortete eine der Arzthelferinnen, „dass dies der Doktor gleich mache“. Gegen 8.00 Uhr erhielt die Patientin Beruhigungsmittel und wurde im Operationssaal an Überwachungsgeräte angeschlossen, mittels derer die Frequenz des Herzschlags, der Erregungsablauf des Herzens, der Blutdruck und die Sättigung des Bluts mit Sauerstoff gemessen wurden. Eine Blutgasmessung, mit der die Sauerstoffversorgung des Gehirns zu bestimmen ist, erfolgte dabei nicht. 20 Minuten vor Beginn der Operation wurde die Narkose eingeleitet und kurz darauf vom Angeklagten eine Periduralanästhesie gesetzt. Gegen 9.00 Uhr füllte der Angeklagte die Bauchareale der Patientin, aus denen Fett abgesaugt werden sollte, mit einer Tumeszenzlösung.
Beim Schließen der Wunde gegen 12.30 Uhr kam es bei der Patientin zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Der Angeklagte reanimierte mittels einer Herzdruckmassage. Währenddessen erbrach die Patientin. Nach Säuberung des Mund- und Rachenraums fuhr der Angeklagte mit der Massage fort. Zum Offenhalten der Atemwege setzte er einen Guedel-Tubus ein, der nicht vor Aspiration schützt. Er verabreichte Sauerstoff mittels einer Maske und führte Adrenalin und andere Medikamente zu. Gegen 13.00 Uhr befand sich die Herzfrequenz wieder im Normbereich bei zwischen 12.20 Uhr bis noch 13.20 Uhr stark abgesenktem Blutdruck. Die Patientin atmete spontan und erhielt Infusionen und blutdrucksteigernde Medikamente. Bei Dienstende der Arzthelferin R. gegen 14.30 Uhr waren die »Vitalwerte« wieder im Normbereich, der äußere Zustand der Patientin indes unverändert. Die Patientin erlangte auch nach Abklingen der Wirkung der Narkosemittel ihr Bewusstsein nicht wieder.
Der Angeklagte führte seine Sprechstunde weiter und sah in regelmäßigen Abständen nach der Patientin. Er ließ deren Ehemann gegen 15.00 Uhr der Wahrheit zuwider ausrichten, dass seine Frau aufgewacht und alles in Ordnung sei. Sie schlafe jedoch immer wieder ein, weshalb er nicht mit ihr sprechen könne. Gegen 18.00 Uhr erklärte der Angeklagte dem Nebenkläger erneut, mit seiner Frau sei alles in Ordnung, er wolle sie aber über Nacht in ein Krankenhaus bringen, da sie immer wieder einschlafe. Gleiches bekundete er gegen 18.30 Uhr gegenüber einer Ärztin des S. Krankenhauses, als er anfragte, ob ein Bett auf der Intensivstation zur Verfügung stehe. Der Angeklagte bestellte gegen 19.10 Uhr einen Krankentransportwagen ohne intensivmedizinische Ausrüstung, der um 19.45 Uhr eintraf. Die Transportsanitäter erkannten sofort den Ernst der Lage der Patientin und bemerkten anhand ihrer lockeren Extremitäten, ihrer Hautfärbung und der Schweißbildung, dass sie Sauerstoff benötige. Der Angeklagte widersetzte sich zunächst der Absicht eines Rettungssanitäters, mit Blaulicht und Martinshorn zum Krankenhaus zu fahren. Letzterer bestand nach lautstark und erregt geführter Diskussion darauf.
Der Angeklagte verschwieg bei der Einlieferung der komatösen Patientin auf der Intensivstation gegen 20.00 Uhr den eingetretenen Herzstillstand mit nachfolgender Reanimation und die Aspiration der Patientin. Er übergab keine Krankenunterlagen und teilte die verabreichten Medikamente nicht mit. Er war später über die hinterlassene Mobilfunktelefonnummer für die Ärzte des Krankenhauses nicht erreichbar. Erst am 3. April 2006 händigte er dem Nebenkläger, der mit der Einschaltung der Polizei gedroht hatte, eine Kopie des Operationsberichts und des Narkoseprotokolls aus. Sch. verstarb am 12. April 2006 im Krankenhaus an den Folgen einer globalen Hirnsubstanzerweichung, ohne das Bewusstsein zuvor wiedererlangt zu haben.
Die Vornahme der komplexen mehrstündigen Operation ohne Hinzuziehung eines Anästhesisten entsprach nicht dem ärztlichen Standard: Die Betäubung durch eine Periduralanästhesie in Verbindung mit der Verabreichung einer Tumeszenzlösung sowie zentral wirkender Opiate stellt sowohl in ihren Einzelkomponenten, aber besonders in ihrer Kombination ein mit bekannten Risiken behaftetes Verfahren dar, das zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Vitalfunktionen des Patienten führt. Eine gebotene Überwachung durch einen Anästhesisten hätte die Chancen einer früheren Diagnose des lebensbedrohlichen Zustands und einer folgenden adäquaten Therapie deutlich verbessert.
Der Angeklagte behandelte Sch. nach der Reanimation unter groben Verstößen gegen die ärztliche Kunst, indem er der spontan atmenden Patientin lediglich Infusionen und blutdrucksteigernde Medikamente verabreichte: Nachdem er mangels Blutgasanalyse nicht feststellen konnte, ob dem Gehirn der Patientin genügend Sauerstoff zugeführt würde, wäre eine endotrachiale Intubation mit zusätzlicher Sauerstoffbeatmung und – bei der unklar gebliebenen Ursache des Herz-Kreislauf-Stillstands – eine sofortige Verlegung der Patientin zur cerebralen Reanimation in eine Intensivstation vorzunehmen gewesen.
Wann genau die irreversible, zum Tode führende Hirnschädigung durch Sauerstoffunterversorgung nach der Wiederbelebung in der Praxis des Angeklagten eingetreten war, konnte nicht sicher geklärt werden. Jedenfalls litt die Patientin zum Zeitpunkt ihrer Ankunft im Krankenhaus bereits an einer schweren posthypoxischen Hirnschädigung, die, wie eine Auswertung computertomographischer Aufnahmen vom 30. und 31. März 2006 in Zusammenschau mit den bekannten Tatsachen zur Entwicklung des Zustands der Patientin ergab, in den Nachmittagsstunden des 30. März 2006 entstanden war. Bei einer sofortigen Verlegung in ein Krankenhaus nach der Reanimation hätte die Patientin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überlebt.
Aus dem Geschehensablauf und der Interessenlage hat das LG Berlin zum subjektiven Tatbestand gefolgert, »dass der Angeklagte zumindest unter anderem deswegen Sch. erst am Abend des 30. März 2006 in ein Krankenhaus verbringen ließ, weil er bei Bekanntwerden des Zwischenfalls einen drohenden Ansehensverlust sowie um seine wirtschaftliche und berufliche Existenz fürchtete. Darüber hinaus wusste er, dass die vorgenommene Operation ohne Anästhesist nicht dem ärztlichen Standard entsprach und er seine Patientin nach dem Herzstillstand nur unzureichend weiterbehandelt hatte«. Er habe das Geschehen fortan heruntergespielt und versucht, den Sachverhalt zu verschleiern. »Dabei ging er so weit, dass er selbst seinen Kollegen im S. Krankenhaus völlig unzureichende Informationen gab und keine aussagekräftigen Patientenunterlagen übergab.« Die Schwurgerichtskammer nahm systematische Vertuschungs- und Verharmlosungshandlungen an, die belegen, dass der Angeklagte aus sachfremden Motiven keinen Rettungswagen angefordert hatte. Solches führe zur Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes ab 15.00 Uhr, als der Angeklagte die für seine Patientin eingetretene Lebensgefahr erkannt hatte. Im Hinblick auf die zeitliche Unsicherheit des Eintritts der irreversiblen Gehirnschädigung begründe dies im Zweifel eine Strafbarkeit als untauglicher Totschlagsversuch. Das LG Berlin verurteilte den Angeklagten daraufhin wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von 4 ½ Jahren und einem vierjährigen Berufsverbot.
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Der BGH bestätigte zwar die Einschätzung, dass die Patientin unzureichend aufgeklärt war und hielt die getroffenen Feststellungen und medizinisch-rechtlichen Bewertungen aufrecht; er hob das Urteil bezüglich des Totschlagsvorwurfs aber auf, weil das notwendige Willenselement des Vorsatzes nur lückenhaft belegt worden sei:[15]
„Das Willenselement des bedingten Vorsatzes ist bei Tötungsdelikten nur gegeben, wenn der Täter den von ihm als möglich erkannten Eintritt des Todes billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen damit abfindet. Bewusste Fahrlässigkeit liegt hingegen dann vor, wenn er mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft – nicht nur vage – darauf vertraut, der Tod werde nicht eintreten (st. Rspr. […]). Da beide Schuldformen im Grenzbereich eng beieinander liegen, ist bei der Prüfung, ob der Täter vorsätzlich gehandelt hat, eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände geboten (st. Rspr. […]).
Diese hat das Landgericht nicht in dem gebotenen Umfang vorgenommen. Zwar hat es […] zutreffend angenommen, dass eine ausdrückliche Erörterung der Frage, ob ein Arzt einen Patienten vorsätzlich am Leben oder an der Gesundheit geschädigt hat, geboten ist, falls nach Eintritt von Komplikationen der Arzt aus sachfremden Motiven keinen Rettungswagen angefordert hat. Das Vorliegen solcher Motive beschreibt indes keinen Erfahrungssatz, aus dem auf das Willenselement des bedingten Tötungsvorsatzes zu schließen wäre, sondern diese bedürfen ihrerseits wertender Betrachtung im Rahmen der gebotenen Gesamtschau.
Die Schwurgerichtskammer hat […] nicht auf Äußerungen des Angeklagten selbst und offensichtliche, absehbar dramatisch verlaufende lebensbedrohende Verletzungen abstellen können, aus denen weitergehend auf sachfremde Beweggründe seines Handelns zu schließen war.[16] Sie hat allein den Vertuschungshandlungen […] das Motiv entnommen, zum Schutz seiner eigenen Interessen eine Aufdeckung seines ärztlichen Fehlverhaltens zu verhindern; dieserhalb habe er sich mit dem Tod der Patientin abgefunden. Diese Schlussfolgerung entbehrt indes der argumentativen Auseinandersetzung mit gegenläufigen, im Urteil festgestellten Umständen, die vielmehr die Annahme bewusster Fahrlässigkeit rechtfertigen könnten.
Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass ein rational verankerter Zusammenhang zwischen dem angenommenen Handlungsmotiv – Vertuschung von Fehlern zur Schonung eigener Interessen – und dem Tod der Patientin wenigstens bei zu erwartendem Todeseintritt in der Tagesklinik des Angeklagten schwerlich bestehen kann: Dass die Operation ohne Anästhesist, aber mit Komplikationen vorgenommen worden war, konnte keinesfalls – schon gar nicht gegenüber dem ständig auf Aufklärung dringenden Ehemann der Patientin – längere Zeit verborgen werden. Ein Todeseintritt in der Tagesklinik hätte bei der zur Wahrung zivilrechtlicher Ansprüche des Nebenklägers sicher zu erwartenden Obduktion die Erkenntnis der wahren Todesursache, der ärztlichen Fehler des Angeklagten, ergeben. Zudem erwägt das Landgericht im Rahmen von Überlegungen zu einem Rücktritt vom Totschlagsversuch, dass der Angeklagte »es für möglich hielt, dass Sch. ohne Verlegung auf eine Intensivstation sterben würde«; hiernach hielt er sogar zu einem relativ späten Zeitpunkt noch eine Rettung der Patientin im Krankenhaus für möglich. Einer starken Skepsis am Überleben der Patientin und einer damit einhergehenden Billigung ihres Todes wenigstens bis zum Transport ins Krankenhaus widerstreiten namentlich die […] festgestellten Antriebe für das pflichtwidrige Handeln des Angeklagten, nämlich »Eigenüberschätzung und Verbohrtheit«.
Die Annahme des Willenselements des Tötungsvorsatzes vor dem Entschluss des Angeklagten, die Patientin in ein Krankenhaus zu verlegen, hat demnach keinen Bestand.“
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Zugleich kritisierte der BGH eine verfehlte Abgrenzung von Tun und Unterlassen hinsichtlich der unzureichenden postoperativen Versorgung,[17] für die er allerdings auch die Möglichkeit eines Verdeckungsmordes durch Unterlassen hervorhob:[18]
„Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte den lebensbedrohlichen Zustand seiner Patientin erkannte, und hat angenommen, dass – freilich ohne Begründung im Einzelnen – er an eine noch mögliche Rettung im Krankenhaus geglaubt hat. Unter diesen Prämissen hat es das Landgericht unterlassen zu erwägen, ob ein untauglicher Unterlassungsversuch der Tötung zur Verdeckung der zuvor erfolgten Körperverletzung vorliegen kann […]. Solches anzunehmen kommt […] für das neu berufene Tatgericht in Betracht, falls sich feststellen lassen sollte, dass der Angeklagte nach Erkennen der Todesgefahr geplant hat, mit der Einlieferung so lange zu warten, bis die Patientin im Krankenhaus sicher versterben würde. Hierdurch hätte möglicherweise ein Nachweis seiner eigenen Verursachung erschwert oder gar unmöglich gemacht werden können.
Ein weiterer Anknüpfungspunkt der neu vorzunehmenden Beweiswürdigung und Bewertung unter diesem Aspekt könnte sein, dass der Angeklagte in Kenntnis der Gefahr eines tödlichen Verlaufs der Erkrankung seiner Patientin bei angenommener Rettungsmöglichkeit gegen 18.30 Uhr – gerade in der Intensivstation – ein Bett bestellt hat und dabei die nachfolgende sachwidrige Verzögerung dieser Rettungschance auf den Willen des Angeklagten zurückzuführen sein könnte, um das Versterben der Patientin im Krankenhaus zur Schonung eigener Interessen zu fördern […].“
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Im Anschluss an das Revisionsurteil wurde der angeklagte Arzt im neuen Verfahren vor dem LG Berlin zu einer Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren wegen versuchten Mordes und einem sofortigen Berufsverbot von 5 Jahren verurteilt. Dieses Urteil hob der BGH[19] abermals infolge einer unzureichenden Darlegung des Tötungsvorsatzes auf. Die Beweiswürdigung krankte insbesondere daran, dass das Tatgericht ein Tötungsmotiv unschlüssig aus der bestreitenden Einlassung des Angeklagten herleiten wollte, mit der dieser anschließend handelnde Ärzte verantwortlich machen wollte.[20] Er sprach den Arzt abschließend wegen § 227 StGB schuldig. Hinsichtlich des Strafmaßes verwies es den Fall an das LG Berlin zurück, das sodann auf eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren und ein Berufsverbot von 4 Jahren erkannte. Diese Strafe hatte bestand.[21]
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Die vorsichtig tendierende Rechtsprechung wird im Schrifttum teilweise als eine verfehlte „Heilwillentheorie“ kritisiert, die allzu abstrakte Betrachtung fördere und sachverhaltsabgewandt die Vorsatzfeststellung zulasten der Ärzte erschwere.[22] Daran ist richtig, dass eine fallabgewandte, belastende Indizien des Einzelfalles nicht mehr wahrnehmende Entscheidungspraxis ein unbegründetes und allzu pauschales „Ärzteprivileg“ schaffen würde.[23] Die schon allgemein zu befürwortende Vorsicht darf diese Überlegung ihrerseits aber nicht überspielen. Es besteht insbesondere kein Grund, gerade beruflich bedingt mit Todesfällen konfrontierte Ärzte nun regelmäßig mit Schwurgerichtsverfahren zu überziehen. Ebenso darf auch bei den Ärzten nicht übersehen werden, dass bei der Tatfrage des Vorsatzes unterschiedliche Würdigungen des Einzelfalles möglich sind. Allein der Umstand, dass etwa im Fall des Schönheitschirurgen ein anderes Ergebnis bei nuanciert anderen Feststellungen vertretbar erscheint, macht weder die Rechtsprechung des BGH noch die Einzelfallentscheidung unrichtig.[24]