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Letzter Sommer bei der NVA
ОглавлениеEs war nun Mitte Mai 1965; wenn ich die 14 Tage Resturlaub abzog, hatte ich noch fünf Monate bei der NVA vor mir. Es war für mich Zeit, mir über mein weiteres Leben Gedanken zu machen. Mein Lotterleben als Aushilfskellner, das mich zwar ordentlich ernährt, Liquiditätsanhäufung ermöglicht und keineswegs gelangweilt hatte, war aber nichts auf die Dauer. Mein alter Seefahrts-Wunsch lebte wieder auf. ‚Vielleicht nehmen sie mich jetzt‘, dachte ich. Seefahrt: die Welt kennenlernen, sich den Wind um die Nase wehen lassen und die Wahl haben, ob man sich das DDR-System überhaupt weiter gefallen lassen will, oder besser nicht.
Ich schrieb also erneut eine Bewerbung an die DSR-Direktion nach Rostock und erhielt nach kurzer Zeit die Bewerbungsformulare zugeschickt, mit der Aufforderung, zusätzlich von meinen militärischen Vorgesetzten eine Beurteilung beizubringen.
Mein Batteriechef Oltn. Strohbusch schrieb mir eine glänzende Beurteilung, die mir fast die Schamröte ins Gesicht trieb, da er es ja wider besseres Wissen tat. Irgendwann im Juni reiste ich mit einem Unteroffizier aus einer anderen Batterie des AR 9, der drei Jahre NVA hinter sich gebracht hatte und der nach seiner Entlassung im Oktober 1965 ebenfalls zur DSR wollte, nach Rostock zu einem Bewerbungsgespräch, das damals Kadergespräch hieß.
Es war ein brütend heißer Tag, als wir beide mit dem Bummelzug über Torgelow und Stralsund nach Rostock fuhren und vom Bahnhof zu Fuß in das mir bereits bekannte DSR-Gebäude in die Lange Straße gingen. Das Gespräch mit den Reedereibonzen ließ sich sehr hoffnungsvoll an. Die DSR brauchte ständig Leute; die DSR-Flotte war für die DDR ein kräftiger Devisenbringer und wuchs daher ständig, durch Neubau auf den eigenen Werften, aber auch durch günstige Zukäufe im Ausland.
Eine feste Zusage wurde damals nicht gegeben. Wir fuhren jedoch frohgemut wieder durch den heißen Junitag zurück nach Eggesin.
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Der Juli begann, und ich musste mit meiner DV-Kiste an einer Stabsübung teilnehmen, wobei das Regiment in der Kaserne blieb. Die DV-Kiste wechselte wieder in das Führungsfahrzeug, während ich nun wieder die Schnapskiste zu verwalten hatte.
Die Geheimkiste musste einige Wichtigkeit haben, denn bei meiner Abwesenheit oder Abkommandierung musste ich den Bibliotheksschlüssel beim Offizier vom Dienst des Regiments (OvD) abgeben, der dann bei Alarm seinen Gehilfen (GOvD) mit dem Schlüssel losschickte, die Kiste zu holen. Warum sie nicht gleich im Stabsgelände untergebracht wurde, bleibt eine offene Frage.
Die Fahrt ging diesmal in die Gegend südlich von Berlin, eventuell auf den sowjetischen Übungsplatz bei Jüterbog, bin mir aber nicht ganz sicher. Auf alle Fälle stand unser Küchenzelt bald am Fuße eines aufgeworfenen riesigen Feldherrenhügels. Es war brütend heiß.
Plötzlich stand am Zelteingang ein mickriger Sowjetsoldat und bettelte mich an: „Kamerad, woda, woda.“ Das heißt „Wasser“; er kann aber auch „Wodka“ gesagt haben. Bevor ich aus meiner Kiste eine Flasche Mineralwasser holen konnte, war ein russischer Offizier herangekommen und trieb unter Gebrüll, mit Faustschlägen und Fußtritten die arme Kreatur davon. Ich sah nicht nur seine bösen Augen, roch auch seine Schnapsfahne; in der Kühle des Zeltes feierten nämlich er und seine deutschen Genossen gerade einen Manöversieg über irgendwen.
Diese „russische Barbarei“, für deren Abwehr der alte Bebel sogar „auf seine alten Tage noch die Flinte auf den Buckel nehmen“ wollte, wie er 1913, kurz vor seinem Tode, im Reichstag sagte, hatten wir nun, durch den Naziwahnsinn (an dem die Siegermächte von Versailles auch nicht ganz unschuldig sind) im Lande, sollten als ihre Verbündeten dieses System in die Welt tragen.
Heute, nach dem Ende der Sowjetunion ist es für Interessierte leicht, Informationen über das menschenverachtende russisch-sowjetische Militärwesen und deren Kriegführung aus Medien oder aus speziellen Sachbüchern zu erhalten. Die Stiftung „Memorial“ ist sehr rührig, und die „Russischen Soldatenmütter“ zeigen immer wieder auf, dass sich beim russischen Militär nicht viel geändert hat. Zu DDR-Zeiten musste ein Interessierter allerdings echtes Interesse zeigen, wollte er die Lebensumstände der Sowjetsoldaten in ihren verschlossenen Kasernen wahrnehmen – NVA-Soldaten hatten es in dieser Hinsicht etwas leichter.
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Kaum war ich von diesem Ausflug in die südliche Mark, die „Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ wieder zurück in der Eggesiner Kaserne, da hielt ich auch schon das Ablehnungsschreiben der DSR in Händen. Sie hatten sich also nicht von Oberleutnant Strohbuschs Schreiben täuschen lassen, hatten mich endgültig als unsicheren Kantonisten eingestuft. Am 1. August kam die Gattin des Stabschefs aus der Schwangerschaftspause zurück, meine Bibliotheksepisode war damit auch zu Ende, und es lagen immer noch zehn Wochen bis zur Entlassung vor mir.
Bisher hatte ich mir keine Disziplinarverstöße im militärischen Sinne erlaubt. Abneigung oder Feindschaft durch Rüpeleien auch noch anzuzeigen, hielt ich für taktisch unklug, war bisher auch noch nicht bei „Vater Philipp“, wie der Arrest im Kasernenjargon heißt.
Jetzt, kurz vor der Entlassung, wurde mein Widerwille so stark, dass ich mir einige Missbilligungen, die vor angetretener Batterie ausgesprochen wurden, einhandelte. Ich durfte natürlich nicht übertreiben, denn ein Strafarrest in der Militärstrafanstalt Torgelow hieß, die Haftzeit musste nachgedient werden.
1965 begann der Ernteeinsatz unseres Regiments ziemlich früh. Ich glaube, es war erst Mitte August, als unsere Abteilung (drei Batterien eines Regiments) nach Löcknitz ausrückte, das in der Nähe der polnischen Grenze lag. Dort sollte in einer riesigen Betonhalle feuchtes Getreide umgeschaufelt werden, auf, dass es trockne. Das Getreide stank bereits. Dennoch war die Arbeit sehr staubig. Das Schlimmste aber war, es gab im Umfeld dieses Getreidespeichers keine Frauen.
Ich hatte mir aber das Rauchen angewöhnt, fand es so schön unmilitärisch leger, mit der Zigarette im Mund zu palavern, mit den Stiefelabsätzen auf der Erde zu scharren und einen schlenkernden Gang anzunehmen.
Einmal stand ich mit der Zigarette in der herunterhängenden Hand im Glied, als ein Hauptmann aus der Nachbarbatterie seine Befehlsausgabe schnarren wollte. Er bemerkte den Zigarettenqualm, der sich an meiner Hüfte kräuselte und brüllte: „Mensch, Genosse Kanonier, sind Sie denn verrückt! Qualmen im Glied, wenn ein ausgewachsener Hauptmann vor der Front steht!“ Er stand nur wenige Meter vor mir. Ich sagte in moderatem Ton: „Genosse Hauptmann, Sie sind nicht ausgewachsen, Sie haben bloß ein bissel ’ne schlechte Haltung.“
Der Trottel, der sich schon mal beim Politunterricht gebrüstet hatte, bei der NVA die 6. und die 7. Klasse nachgeholt zu haben, begriff meine Worte gar nicht, obwohl mehrere Soldaten feixten. Er wollte schon wegen meiner Zigarette weiterbrüllen. Da trat der Politoffizier des Regiments, jener Oberstleutnant, der mir den Bibliotheksposten verschafft hatte und der meine Worte mitgehört hatte, vor die Front und sprach: „Batterie, stillgestanden! Ich bestrafe den Kanonier Müller mit 20 Tagen verschärftem Arrest, wegen groben, unmilitärischen Verhaltens und Beleidigung eines Vorgesetzten!“