Читать книгу Stiefelschritt und süßes Leben - Klaus Muller - Страница 12

Im Knast mit Lenin

Оглавление

Stehenden Fußes wurde ich vom GUvD, der in voller Kampfausrüstung war, und einem ebenfalls bewaffneten Fahrer zurück in die Eggesiner Arrestanstalt gebracht. Arrest bei der NVA hieß, eine Zelle von 4 × 1,5 Meter, eine Holzpritsche ohne Matratze, die am Tag hochgeklappt und angeschlossen war, ein vergitterter Fensterschlitz kurz unter der Decke und brennende Glühlampe über Nacht; für die Mahlzeiten ein winziger Tisch und ein ungepolsterter Hocker. Es war stinkend langweilig.

Ich tigerte daher in meiner Vier-Meter-Zelle herum, wobei der Lärm meiner Stiefeltritte der Wachmannschaft auf die Nerven ging. Mit Gebrüll wollten sie mich zum Innehalten bewegen. Die zuständige DV gab aber keinen Anhaltspunkt, das durchzusetzen.

In meiner Zelle hing ein Zettel mit der Anstaltsordnung aus, und ich erfuhr, dass dem Arrestanten das staatsbürgerliche und politische Selbststudium ermöglicht werden sollte. Ich dachte: Jetzt nimmst du dir Lenin vor!

Mein diesbezüglicher Antrag an den Anstaltsleiter wurde mit einem ungläubigen Stirnrunzeln bedacht. Als ich aber auf den entsprechenden Punkt in der Arrestordnung verwies, glättete sich seine Stirn. Er meinte: „Aber keinen Unfug damit anstellen!“ Er dachte vielleicht, ich will die Lenin-Bände benutzen, um besser an den vergitterten Fensterschlitz heranzureichen und dort mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen. Ich sagte: „Ich möchte die Bände 1 bis 6 aus der Gesamtausgabe der Werke W. I. Lenins, sie stehen in der obersten Reihe an der Westwand des Eingangsraumes der Regimentsbibliothek des AR 9 und sind in braunem Leder eingebunden. Sind leicht zu finden, wiegen aber ungefähr 30 Pfund.“ – „So schwer? Die holen Sie sich selber!“, sagte der Anstaltsleiter und befahl einem herumstehenden Soldaten: „Genosse Gefreiter, Sie eskortieren den Arrestanten auf dem Weg in die Bücherei, lassen Sie ihn aber die Bücher selber schleppen, Sie nehmen mir als Posten nicht die Hand von der Waffe!“

So wurde ich also in die Regimentsbibliothek geführt. Sechs Lenin-Bände wiegen tatsächlich 30 Pfund, also 15 Kilogramm; ich nahm deshalb nur die ersten beiden mit und wiederholte so alle zwei Tage meinen Spaziergang über das Gelände der halben Division. Manchmal war ich mit interessanten Leuten unterwegs, denn die Posten in der Arrestanstalt wechselten alle paar Tage; sie kamen aus der gesamten Division zwischen Ueckermünde und Prenzlau und waren Wehrpflichtige wie ich.

Lenin war ein scharfer Pamphletist, hielt sich kaum mit volkswirtschaftlichem Zahlenwerk auf wie etwa Karl Marx (allein das „Kapital“ macht fast ein Viertel seines Werkes aus). Lenin zerschmetterte mit Worten seine Gegner; er liest sich daher abwechslungsreicher als Marx. Seine Artikel und Pamphlete über einzelne Begebenheiten seiner Zeit (Gedanken zum Russisch-Japanischen Krieg, der imperialistischen Politik des Deutschen Kaiserreiches, der Zimmerwalder Konferenz) sind interessant und die Gedanken Lenins zur Lage der russischen Bauern beeindruckend. Zu einer tieferen Erkenntnis oder gar einer Überzeugung von der kommunistischen Ideologie leninistischer Prägung fand ich hingegen nicht angesichts des daraus hervorgegangenen Sowjetsystems.

*

Nach meiner Entlassung aus der Arrestanstalt und vor dem Beginn meines Resturlaubs, den ich nun herbeisehnte, da er quasi mit meinem Weggang von der Armee identisch sein würde, trat ein Ereignis ein, das mich, wenngleich es völlig unbedeutend war, noch heute tief beschämt. Es fand eine sogenannte „Volkswahl“ zur „Volkskammer“ statt.

Gemäß Ulbrichts Devise, die dieser gleich nach seiner Einsetzung als sowjetischer Satrap in der Sowjetzone im Juni 1945 herausgegeben hatte: „Es soll demokratisch aussehen, aber wir müssen immer alles in der Hand behalten“, wurden diese „Wahlen“ mit Einheitslisten durchgeführt. Sie hießen später auch im Parteijargon „Stimmabgabe“.

Ich erinnere mich, als 18-jähriger „Jungwähler“ 1959 einmal einen Stimmzettel in eine dieser Urnen geworfen zu haben. Nach dem Mauerbau allerdings habe ich mich an „Wahltagen“ immer verdrückt, war einfach nicht aufzufinden, wenn die „Wahlschlepper“ die säumigen Stimmabgeber von daheim abholten.

Hier nun stand ich unter militärischem Kommando, da hieß es: „Batterie, stillgestanden! Zur Stimmabgabe erste Linie links um, im Gleichschritt, Marsch!“

Stiefelschritt und süßes Leben

Подняться наверх