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Regimentsbibliothekar

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Der trübe November war nun da, die Neuen, „Spritzer“ genannt, trafen in der Kaserne ein. Der Stumpfsinn sollte für mich noch ein ganzes Jahr währen. Ich besuchte daher oft die Regimentsbibliothek, die neben Agitationsliteratur in Sachbuch- und belletristischer Form auch eine Fülle von Klassikern, in- und ausländische Autoren in ihren Regalen stehen hatte. Ebenfalls standen Lexika und Sachbücher militärischen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Inhalts dort zur Einsicht und Ausleihe bereit.

Eines Tages, Anfang November, sprach mich der Politoffizier des AR 9 ebendort an: „Genosse Kanonier, ich sehe Sie oft hier, trauen Sie sich zu, die Bibliothek zu leiten?“ – „Natürlich kann ich das!“ Er griff ins Regal und holte ein Buch heraus mit dem Titel „Der Tod heißt Engelchen.“ Er fragte: „Haben Sie das gelesen?“ Ich sagte: „Ja, natürlich!“ „Es heißt: Ja, Genosse Oberstleutnant!“, verbesserte er mich. Ich hatte das Machwerk freilich nicht gelesen, aber die Verfilmung gesehen. Dann ließ er mich eine knappe Inhaltsangabe machen und sprach: „Gut, ich werde mit Ihrem Batteriechef reden, wenn der nichts dagegen hat, sind Sie ab übermorgen hier Regimentsbibliothekar!“

Die meisten Soldaten hielten es nicht für möglich, doch der Stabschef, Major Kaspar, hatte sich mit seiner unförmigen Gattin, die sonst hier Bibliothekarin war, geschlechtlich vereinigt und sie dabei geschwängert, so dass sie für die nächste Zeit pausieren musste.

Zwei Tage später schritt ich nach Frühsport und Frühstück in die Regimentsbibliothek. Hier übergab mir die Gattin des Stabschefs die Schlüssel für die Räume; ich übernahm die Leser- und die Bücherkartei sowie eine Kiste mit den geheimen Gefechts-Dienstvorschriften, die ich bei jedem Gefechtsalarm zum Führungsfahrzeug des Regiments zu tragen hatte. Deren Verwahrung und Übergabe bei Alarm war nun meine einzige militärische Aufgabe.

Vergeblich versuchte ich an der Frau des Majors die Schwangerschaft zu entdecken, musste einfach glauben, was mir gesagt worden war. Den gesegneten Leib, mit dem Bruni mein Kind unter dem Herzen trug, vermisste ich bei der Stabschefsgattin gänzlich.

Nachdem ich die Leser-Karteikästen in eine alphabetische Ordnung gebracht hatte, worüber der Vormittag vergangen war, kamen zur Mittagspause die ersten Leser, brachten Bücher zurück und wählten neue aus. Hin und wieder holte ein Leser meinen Rat ein. Nach Dienstschluss füllte sich der Raum, so dass ich richtig zu tun bekam.

Zwischendurch machte ich mich daran, die zahllosen noch nicht erfassten Bücher, die meine Vorgängerin noch nicht einmal ausgepackt hatte, und die in hohen Stapeln in einem Nebenraum lagerten, aufzunehmen und in die Bücherkartei einzutragen. Nachdem ich den Ausleihzettel in den Vorsatz geklebt hatte, ordnete ich die Bücher in die Regale ein. Es war eine angenehme und leichte Arbeit, die ich durch meine pfiffige Antwort an den Politnik ergattert hatte. Zudem interessant – viele Karten der Leserkartei gingen zurück bis ins Gründungsjahr der Schule der Kasernierten Volkspolizei in Eggesin im Jahre 1951. Auf den Karten waren Name, Geburtsdatum, Dienstgrad, Einheit und Beruf angegeben. Es erstaunte mich schon sehr, dass bei den meisten Offizieren als Bezeichnung des Berufs „ohne“ stand. Erst die jüngeren Offiziere waren angehalten worden, „Offizier der NVA“ als Berufsbezeichnung anzugeben.

Bis kurz vor Weihnachten benötigte ich, um die druckfrisch gelieferten Bücher zu erfassen und Ordnung in die Bibliothek zu bringen.

Es war Anweisung, die Hauptwerke des Marxismus-Leninismus alle zehn Jahre zu erneuern, also die Exemplare auszuwechseln. Das waren: Marx/Engels „Gesammelte Werke in 18 Bänden“ und W. I. Lenin „Werke in 24 Bänden“. Die neuen Exemplare auszupacken, hatte meine Vorgängerin mir überlassen, aber auch, die alten zu entsorgen.

Alt? Laut eingeklebter Leihzettel hatte seit 1951 noch nicht einer diese herrlichen, in blauem und braunem Leder gebundenen und mit Goldschrift versehenen Bände in der Hand gehabt, die sollten nun ins Altpapier!

Heute sind diese Bände ein Vermögen wert, mancher Bourgeois schmückte gern für viel Geld damit sein Arbeitszimmer, quasi als Trophäe. Allerdings wiegen alle 42 Bände knapp zwei Zentner; solche Lasten kann man nicht einfach mit der Feldpost nach Hause schicken.

Ich schaute aber doch in meinen Mußestunden in die Marx-Engels-Bände, besonders das Frühwerk, intensiv hinein. Hochinteressant waren vor allem Marxens Gedanken zum Krimkrieg und zur Olmützer Vereinbarung, die für den historisch Interessierten eine wahre Fundgrube darstellten.

Die alten Bände wanderten ins Altpapier, und die neue Ausgabe von 1962 stand in den Regalen; ich verwaltete nun tatsächlich eine ordentliche Bücherei.

Nach wie vor aber sah ich meinen Dienst bei der NVA als Strafe des Schicksals an. Vor Weihnachten fragte mich der Spieß, ob ich über die Feiertage oder über den Jahreswechsel in Urlaub fahren wolle. „Ich fahre nicht in Urlaub!“, entgegnete ich.

Irgendwann hat der Spieß das wohl dem Batteriechef erzählt, und der sprach mich eines Tages unter vier Augen darauf an. Ich muss nochmal erwähnen, dass von den drei Offizieren der Batterie nur die beiden Unterleutnants Widerlinge waren; Oberleutnant Strohbusch war ein 28-jähriger, stuckiger Mann, der auf seine Art um Gerechtigkeit und Harmonie bemüht war. Er ertränkte aber die Tristesse seines Daseins oft im Alkohol, wie man sagte und wie ich nach meiner heutigen Kenntnis, wenn ich mir seine Physiognomie ins Gedächtnis rufe, auch sagen würde.

Er fragte mich nun, fast sanft, warum ich nicht mal raus wolle. Ich dachte: ‚Dem sagst du’s.‘ – „Ich schäme mich, Genosse Oberleutnant; wir sind eine alte Arbeiterfamilie, waren immer gegen’s Militär. Mein Vater erzählt jedem, der nach mir fragt, ich wäre im Knast. Da kann ich nicht einfach in Uniform aufkreuzen.“

Der Batteriechef hätte nun mit der „Armee der bewaffneten Arbeiter und Bauern“, die die NVA ja sein sollte, argumentieren können. Er sagte aber nur: „Ja, wenn das so ist, dann bleiben Sie eben da!“

Es wurde ein trauriges Weihnachten, so richtig für einen gemacht, der seine Feindschaft gegen das System schärfen will. Obendrein war es gesund: Ohne fettes Geflügel und ohne Alkohol, der für mich immer Genuss bedeutete, kein Mittel war, um Tiefpunkte zu verdrängen. Allerdings habe ich in dieser Zeit meine erste Zigarette geraucht.

An diesen Weihnachtstagen sah ich natürlich oft im Gemeinschaftsraum der Kaserne, in Traurigkeit und Vereinsamung, das DDR-Fernsehen. Die Programmgestalter aus Adlershof hatten sich am Nachmittag des Heiligabends etwas besonders Weihnachtliches ausgedacht. Man strahlte einen sowjetischen Propagandafilm aus, der die Stärke und Zerstörungskraft der Nuklearwaffen der Sowjetarmee zeigte. Hier verbrannten angepflockte Tiere in Sekundenschnelle zu Asche, und Nuklearstürme fegten ganze Landstriche mit Bäumen, Gebäuden und Fahrzeugen hinweg. Nie wieder in der Zeit des „Kalten Krieges“ zeigte man solche schrecklichen Bilder wie an diesem Weihnachten des Jahres 1964.

In den ersten Januartagen des Jahres 1965 teilte mir das Dresdner Jugendamt mit, dass Bruni am 21. Dezember 1964 mit einem Knaben niedergekommen war. Nebenbei hatte sich die NVA verpflichtet, die fälligen Alimente von 40 Mark monatlich für den wehrpflichtigen Vater des Kindes zu übernehmen.

Stiefelschritt und süßes Leben

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