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Denker und Demoralisator

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Sein Vater war ein Arzt. Diese triviale Tatsache hat Gustave Flaubert zeit seines Lebens und Nachlebens bezahlen müssen. Emblematisch ist jene berühmte Karikatur aus der Zeitschrift La Parodie vom 5. Dezember 1869, die den mit Lupe, Säge und Schere bewaffneten Schriftsteller neben den schwarzen Stiefelchen einer auf den Seziertisch gebreiteten Madame Emma Bovary porträtiert, das grobe Schlachtermesser mit dem aufgespießten Herzen triumphierend in die Höhe gereckt, auf dem Boden ein Tintenfass, in dem sich das aus dem gemarterten Organ tropfende Blut zur weiteren Verwendung sammelt. Zwar feiner, was das Schneidewerkzeug, nicht aber, was die Aussage betrifft, ist Sainte-Beuves Wort: »Monsieur Gustave Flaubert führt die Feder wie andere das Skalpell. Anatomen und Physiologen, ich sehe euch überall.« Wo aber wären die Tentation de saint Antoine, Salammbô oder auch die Trois contes mit dem Skalpell geschrieben? Die Analogie, die schwerlich ein so langes Leben gehabt hätte ohne das Wissen um die Profession des Achille-Cléophas Flaubert, ist zu einleuchtend, sowohl um ganz falsch, als auch um nur einigermaßen hilfreich zu sein, und sie verdeckt zugleich, was an Flauberts Herkommen tatsächlich prägend geworden ist für sein Schreiben, sein Denken und seine Existenzform als Schriftsteller.

Als Gustave am 12. Dezember 1821 geboren wurde, lebten seine Eltern bereits seit drei Jahren im Hôtel-Dieu, dem städtischen Krankenhaus von Rouen, einer Provinzstadt mit damals immerhin neunzigtausend Einwohnern. Achille-Cléophas Flauberts gesamtes Leben drehte sich um dieses Krankenhaus: Er studierte bei Jean-Baptiste Laumonier, dem Chefchirurgen, heiratete dessen Mündel, die Waise Anne Justine Caroline Fleuriot, trat 1815 Laumoniers Nachfolge an und übernahm nach dessen Tod Anfang 1818 auch die Dienstwohnung im Hospital. Über das Hôtel-Dieu, den düsteren Bau, und das Leben in dauernder Nähe des Todes ist viel geschrieben worden, auch von Flaubert selbst: »Der Sektionssaal des Hôtel-Dieu lag zu unserem Garten hin. Wie oft sind meine Schwester und ich an dem Spalier hochgeklettert und haben, zwischen den Weinreben hängend, neugierig die in Reihe liegenden Leichen betrachtet! Die Sonne beschien sie; die gleichen Fliegen, die uns und die Blumen umkreisten, ließen sich dort nieder, kamen zurück und summten um uns herum! […] Ich sehe noch meinen Vater, wie er beim Sezieren den Kopf hebt und uns befiehlt wegzugehen.« Kaum vorzustellen, dass solche tagtäglichen Erfahrungen für die Entwicklung eines Kindes ohne Einfluss bleiben – doch ebenso wenig, wie man sich die Wirkung auf einen sprachlichen Stil vorstellen soll. Nein, wenn es hier um Ableitungen und Erklärungen geht, so kann es sich nur um die eines Weltbildes handeln, um ein grundlegendes Verhältnis zu den Menschen, ihrem Leben und ihrem Tod.

Für das, was er seinem Sohn mit auf den Weg zu geben hatte, war der Doktor Flaubert nicht nur Kind seines Handwerks, sondern auch das seiner Zeit, und auf besondere Weise wurde ihm beides zu einem. Die Gesellschaft der Restauration, in der Gustave seine Kindheitsjahre verbrachte, verdankt der großen Revolution von 1789 ebenso viel an Prägung wie dem Kampf gegen sie. Die große Tradition der Aufklärung, die in der Revolution ihre erste Verwirklichung gefunden hatte, war in den folgenden Jahrzehnten gerade in Frankreich abgesunken zu einer Ideologie des Juste Milieu, in der sich Atheismus, Antiklerikalismus, Materialismus und ein mechanistischer Glaube an die Naturwissenschaften trübe vermischten, mit Voltaire, Rousseau und den Enzyklopädisten als Hausheiligen aus Gips. Der Doktor Flaubert ließ seinen Sohn zwar ordentlich taufen, wohnte der Zeremonie aber nicht bei, und er wird mit dieser Haltung nicht alleingestanden sein unter den Kollegen der Ärzte und vielleicht auch Apotheker. Doktor Flaubert war Chirurg, also Praktiker einer Kunst, die im neunzehnten Jahrhundert größte Fortschritte machte und die andererseits jener materialistischen Vorstellung genau entsprach, welche den menschlichen Körper für eine reparaturfähige Maschine ansah. Gustave Flaubert hat diese Anschauungen als erwachsener Mensch durchaus nicht einfach übernommen, sein grundlegendes Verhältnis zur Welt aber wurde hier geprägt: durch einen Alltag, in dem der Tod und mehr noch die Toten allgegenwärtig waren und in dem das Sterben ein gewohnter biologischer Vorgang wurde, welchem der Chirurg mit seinen Werkzeugen zu Leibe rückt, wenn auch oft genug vergeblich. Schon die ersten schriftlichen Zeugnisse sprechen von Faszination und Abscheu vor Sterblichkeit und menschlichem Elend in einer für ein Kind erstaunlichen Intensität, und nie hat Flaubert sein materialistisches Verhältnis zu Leben und Sterben revidiert.

Die frühe ausschließliche Konzentration auf das Schreiben und die widerspenstige Abwehr gegen das gelebte kreatürliche Leben sind von Anbeginn das Zeichen dieser Existenz. Wollte man nach Gründen suchen, so wäre die Erfahrung des Hôtel-Dieu der einzig plausible, aber wahrscheinlich ist es auch gar nicht nötig, jenseits von Charakter und Geburt nach weiteren Wurzeln dieser »mélancholie confuse et infinie« zu suchen, erscheint doch in allen Briefen Flauberts das Schreiben als die eigentliche melancholische Tätigkeit. Nach der Familienlegende, die seine Nichte Caroline Commanville 1895 in ihren Souvenirs intimes sur mon oncle berichtete, hat Gustave erst mit neun Jahren lesen gelernt, und zu einem Gutteil beruht hierauf jene andere, die moderne Legende vom »Idiot de la famille«. Ganz falsch kann die familiäre Überlieferung kaum gewesen sein, aber da die ersten eigenhändigen Briefe Gustaves aus dem Jahre 1830 stammen, wird man sie nicht wörtlich nehmen: Es bleibt, dass Gustave in den Augen seiner Eltern und gewiss gegenüber dem älteren Bruder Achille ein spät lernendes Kind gewesen ist. Umso auffälliger, dass der unter Schwierigkeiten erworbene Umgang mit der geschriebenen Sprache sofort der einzige Lebenszweck dieses Menschen wird; sofort, das heißt: Bereits der vierte erhaltene Brief, der aus den Tagen um den 1. Januar 1831 stammt, handelt, wenn auch in unsicherer Orthographie und Zeichensetzung, nur noch von dem einen: »Freund ich werde dir meine politischen und konstitutionellen liberalen Reden schicken. […] ich werde dir auch meine Komödien schicken. Wenn du willst tun wir uns zusammen um zu schreiben, ich schreibe Komödien und du schreibst deine Träume, und da eine Dame zu Papa kommt, die uns immer Dummheiten erzählt, werde ich sie aufschreiben.« Und wenn er am 4. Februar 1832 fortfährt: »Ich hatte Dir gesagt, dass ich Stücke schreiben würde aber nein ich werde Romane schreiben die ich im Kopf habe«, so eröffnet der Zehnjährige hier einen Diskurs, der erst achtundvierzig Jahre später enden wird, mit seinem Tod. Wie viele Lebensläufe mag es geben, die so ausschließlich, so radikal beherrscht wurden vom Schreiben? Vom Schreiben sogar mehr noch als von der Literatur, denn auch wenn Gustave bald von seinen Lektüren zu berichten beginnt, so steht das eigene Schreiben immer im Vordergrund.

Flaubert hat die Manuskripte seiner Jugendschriften penibel aufbewahrt, und das spricht dafür, dass er all diese Erzählungen, Stücke und Tagebücher für wichtige Zeugnisse seiner Entwicklung ansah. Da er an ihnen jedoch ganz gewiss keine literarische Qualität erkennen wollte, spricht es vor allem für den großen Wert, den er selber autobiographischen Zeugnissen beimaß. Flauberts Schreiben war von Anfang an auch die Dokumentation einer schreibenden Existenz. Der archivarischen Sorgfalt des Romanciers verdankt die Literatur einen Textkorpus an unveröffentlichten Jugendwerken, der sicher zu den reichsten seiner Art gehört und der an Umfang neben dem gesamten publizierten Lebenswerk sehr respektabel dasteht. Was Flaubert im ersten Jahrzehnt seines schriftstellerischen Weges schrieb, sind die Stilübungen eines Besessenen. Ohne das Schreiben scheint ihm bereits damals sein Leben nicht mehr vorstellbar. Dass einer bereits vom Zwang zum Schreiben getrieben ist, aber noch nichts zu sagen hat, ist zwar eine gängige Vorstellung für die Exerzitien eines frühreifen Knaben, Flauberts Jugendwerke sind aber schon zu tief von Themen und Motiven seines ganzen Lebens durchzogen, als dass sie mit diesem Passepartout zu fassen wären. Gewiss werden diese Motive noch überwuchert und mitunter nahezu verdeckt von Stereotypen, Klischees, Formeln, Schablonen, die er bei seinen Lektüren in Schule und Hôtel-Dieu ausborgte, und diese Quellen, die der eigenen Phantasie aufhelfen, sind leicht zu identifizieren: Da sind Byron, der Held einer ganzen Generation, und seine romantischen Zeitgenossen Victor Hugo, Chateaubriand, Lamartine; da sind Montaigne, Rabelais, Shakespeare und Goethe; da sind die großen Dramatiker, da sind die historischen Chroniken zum Frankreich vergangener Jahrhunderte und natürlich auch die populären Schmöker einer zeitgenössischen Schauerromantik. Bei einem unermüdlichen Leser wie Flaubert wäre die Liste noch zu verlängern, aber es führt zu nichts, Namen aufzuzählen, die sich bei der Lektüre auf den ersten Blick erschließen und die ohnehin selbstverständlich sind für eine Generation, die undenkbar ist ohne Balzac und Hugo. Bei weitem interessanter wird, was der junge Autor machte aus dem Repertoire seiner Zeit, und natürlich verschlangen sich eigene Obsessionen und erborgte unentwirrbar ineinander.

Was ist an den frühesten historischen Erzählungen und Contes phantastiques Imitation und was eigener Impuls? Die Frage wäre falsch gestellt, denn nicht nur Flauberts Schreiben ist die langsame Aneignung überlieferter Formen und Motive zu eigenen Zwecken. La fiancée et la tombe von 1835/36 ist einerseits der Versuch, unendlich oft variierten Populärgeschichten nachzuschreiben, andererseits sind die Gespenstergeschichte und ihre Motive von Tod, Vergänglichkeit und schwüler, ins Verbrechen gleitender Erotik auch sonst eine beständige Obsession des Jungen. Aus den Sommerferien 1834 schreibt Gustave am 26. August seinem Freund Ernest Chevalier nicht nur, wie gerne er selber baden geht, sondern besonders ausführlich von einer Dame, »oh, eine hübsche Dame, kindlich obwohl verheiratet, rein obwohl zweiundzwanzig«, die im Meer ertrunken war. »Jetzt plant Eure Vergnügungen, wer kann die Folgen abwägen! Zeuge ist jene Dame, die ans Meer eilte, um sich zu amüsieren, und dort das Grab fand.« Gewiss ist die Sprachgestalt, mit der Gustave in Briefen und Erzählungen sein Memento mori einkleidet, unselbständig und geliehen, wie sollte es bei seinen Jahren auch anders sein; dass er jedoch überhaupt dieses Thema ohne Unterlass anschlägt, kommt nur aus ihm.

Flauberts früheste Werke stammen, mit der »literarischen Zeitschrift« Soirées d’étude, aus den Jahren 1834/35, und diese Gruppe, eine Vielzahl von kürzeren Texten, endet um 1840 beim Beginn der Arbeit an den ersten umfangreichen autobiographischen Erzählungen. Bereits 1836 steigert sich Un parfum à sentir zu einer emphatischen Anrufung: »Vielleicht wisst ihr nicht, welch Vergnügen das ist: dichten! / Schreiben, oh! schreiben, das heißt die Welt in Besitz nehmen, ihre Vorurteile, ihre Tugenden, und sie zusammenfassen in einem Buch. Es heißt sein Denken zur Welt kommen, wachsen, leben sehen, sich auf sein Piedestal stellen und dort für immer bleiben. / Ich beende also dieses seltsame, bizarre, unbegreifliche Buch. Das erste Kapitel habe ich in einem Tag gemacht; einen Monat lang habe ich dann nicht mehr gearbeitet; in einer Woche habe ich fünf weitere gemacht, und in zwei Tagen habe ich es vollendet. / Ich werde euch seine philosophischen Gedanken nicht erklären. Sie sind traurig, bitter, düster und skeptisch … sucht sie.« Hier ist der ganze junge Gustave Flaubert: sein Wunsch nach dem Ruhm des Schriftstellers, sein etwas großspuriger Anspruch als Philosoph, seine ostentative Bitterkeit und Resignation, vor allem aber seine einzige Idee, schreiben. Nichts davon wird sich in seinem Leben je verlieren. Und unübersehbar bilden sich sofort auch dauerhafte Verhaltensweisen und eine Selbstdarstellung als Schriftsteller heraus, an denen dieser Flaubert immer erkennbar bleiben wird: »Ich arbeite wie ein Dämon und stehe morgens um halb vier auf«; »ich quäle mich in der Perfektion. […] Ich habe gerade noch die Kraft zu rauchen. Mein Herz ist voll mit einem großen Ennui«; »Ich schreibe Bücher, die niemals den Prix Montyon bekommen, und ›die Mutter wird ihrer Tochter die Lektüre nicht erlauben‹, obwohl ich diesen Satz säuberlich als Motto setzen werde«. Mit noch nicht siebzehn Jahren verkündet er im Stil des lebenserfahrenen Zynikers: »Oh, wie recht hatte Molière, als er die Frau mit einer Suppe verglich, mein lieber Ernest. Viele Leute wollen davon essen. Sie verbrennen sich, und danach kommen andere.« Als frühreife Prahlereien könnte man das abtun – kehrte nicht jedes dieser Themen tatsächlich ein Leben lang wieder. Flaubert hat sich vorausgeahnt oder, anders gesagt, hat sich als der entworfen, der er werden wollte, werden sollte, und so sind seine Äußerungen, wie pueril sie zuweilen auch anmuten, unbedingt ernst zu nehmen.

Von Anfang an ist er der Mann der Ablehnung, der Verweigerung, des »refus«, auch wenn man sich naturgemäß fragt, auf welcher Wirklichkeitserfahrung das Pathos dieses Fünfzehnjährigen beruhen mag: »Oh, diese brave Zivilisation, dieser Hurenbrei, der die Eisenbahn erfunden hat, die Gifte, die Klistierspritzen, die Sahnetorten, das Königtum und die Guillotine.« Das ist nicht nur witzig gesagt, auch der Bezug auf die unmittelbare Gegenwart ist offensichtlich. Wenn Flaubert ausgerechnet die Eisenbahn in seiner Suada nennt, dann um ausdrücklich den guten Rouennaiser Bürgern und wohl auch Familienmitgliedern in den Topf zu spucken, galt doch die Eisenbahn als letzter Schrei des wissenschaftlichen Fortschritts und drehten sich die tagtäglichen Gespräche gerade in diesen Jahren unaufhörlich um die so unerhört bequeme Schiene, welche die Flussfahrt aus der Provinz nach Paris ersetzen sollte. Flaubert ironisierte den Fortschrittsgötzen Eisenbahn auch noch in späteren Briefen, und besonders, nachdem die Strecke Paris – Rouen im Mai 1843 endlich eröffnet wurde; als Schriftsteller, der regelmäßig zwischen Croisset und der Hauptstadt pendelte, hat er dann jedoch von der zivilisatorischen Höllenmaschine naturgemäß ausgiebig profitiert. Tatsächlich, er weiß, wovon er schreibt: »Ich lese mit Entrüstung, dass die Theaterzensur wieder eingeführt und die Pressefreiheit abgeschafft wird! […] aber eines Tages, und dieser Tag wird bald kommen, beginnt das Volk die dritte Revolution; wehe den Köpfen der Könige, wehe den Strömen von Blut. Jetzt nimmt man dem Schriftsteller sein Gewissen, sein Gewissen als Künstler. Ja, unser Jahrhundert ist fruchtbar an blutigen Umwälzungen.« Interessanter als die nicht sehr schwierige Prognose, dass auf die Revolutionen von 1789 und 1830 eine weitere folgen und den Bürgerkönig Louis-Philippe hinwegfegen werde, interessanter als der populistische Furor, der ihn als den Demokraten erscheinen lassen könnte, der er nie gewesen sein wird, interessanter ist, dass Flaubert sich bereits hier nicht mehr als der dilettierende Junge sieht, sondern als Schriftsteller, der sich Gedanken macht über die Wirkung der öffentlichen Angelegenheiten auf sein Schreiben. Auch wenn er die Ankündigung, er werde seine Werke in diesem Leben niemals drucken oder aufführen lassen, am Ende natürlich nicht wahrgemacht hat, seine Begründung zeigt schon ein genaues Bewusstsein von den Schwierigkeiten, denen sich seine literarische Radikalität gegenübersehen wird: »Es ist nicht die Angst vor einem Verriss, sondern der Ärger mit dem Verleger und dem Theater, was mich abstoßen würde. Trotzdem, wenn ich jemals einen aktiven Anteil an der Welt nehmen werde, dann als Denker und Demoralisator. Ich werde nur die Wahrheit sagen, doch sie wird furchtbar sein, grausam und nackt.« Eine bloße billige Behauptung ist diese Verweigerung jedenfalls nicht, unternahm Flaubert doch bis zur Madame Bovary tatsächlich keinen ernsthaften Versuch zu irgendeiner Publikation.

Nein, auch wenn zu glauben schwerfällt, dass bisher nur vom Denken und Schreiben eines Heranwachsenden zwischen dem neunten und achtzehnten Lebensjahr die Rede war: Der Flaubert der Jugendwerke und Jugendjahre ist ein intensiv und hochbewusst arbeitender Schriftsteller, der zwar noch weit entfernt ist von der Perfektion seiner ersten Meisterwerke, dessen Erzählungen und Skizzen aber schon jetzt Gegenstand ernsthafter Analyse im Rahmen eines Lebenswerks sein müssen, eines Lebenswerkes, das von diesen ersten Schritten an eine erstaunliche Konsequenz verrät. Vieles wird durch äußere Dinge zu erklären sein, manches eher durch Psychologie; die Frage nach dem »Warum und woher« versagt vor der Konsequenz, mit der die tiefsten Konstanten dieses Lebens als Apriori dastehen: der Weltekel, der Ennui, die Melancholie, die Verweigerung eines aktiven, nützlichen Lebens, letzten Endes die Verweigerung kreatürlicher Bewegung schlechthin. Flaubert ist von allem Anfang an einer, der verweigert, was ihn integrieren könnte in jene unendlich komplizierte Organisation von Austausch und Miteinander, von Trieben und Rationalisierungen, von Natur und Kultur, die man Gesellschaft nennt. Er weigert sich, eine Komponente dieses Organismus zu sein, und das ist es, was er, der junge Romantiker, jetzt immer wieder als Hass auf das Leben und als Todeswunsch umschreibt. Der Denker und Demoralisator kennt nur einen Ort: das Außerhalb.

Flaubert wusste sehr gut, wo er lebte, im Frankreich des Louis-Philippe, und er wusste sehr gut, wusste es aus der alltäglichen Erfahrung mit Eltern und Schule, mit dem Zwang zu einem korrekten Beruf, mit dem leuchtenden und erfolgreichen Vorbild des Bruders, der den Pfaden des Vaters ordnungsgemäß folgte, wusste, dass es in der profanen Welt dieses radikale Außerhalb nicht gibt. Was er noch nicht wusste, das ist, wie und ob diese Unmöglichkeit für ihn als Schriftsteller lebbar sein würde, lebbar durch eine praktische Existenzform innerhalb dieser abgelehnten profanen Gesellschaft und durch eine literarische Form für seine Werke, die imstande wäre, diese Erfahrung in sich aufzunehmen und zu reflektieren. Die pathetische Anrufung »der Poesie« schlechthin, die sich immer wieder in den Jugendbriefen findet, ist da nichts als eine epigonale, ganz rhetorisch bleibende Geste, die Flauberts eigentliches Problem nicht lösen konnte. Nichts vermag »die Poesie« zu retten, denn gerade der Dichter vergangener Jahrhunderte, sei’s der lyrische Sänger, sei’s der im höfischen Theaterbetrieb arbeitende Dramatiker, ist unmöglich geworden. Flaubert musste als einer der ersten sich die Frage stellen, wie er als unabhängiger Schriftsteller eine Existenz finden konnte in einer Gesellschaft, der er ausdrücklich als »Demoralisator« gegenübertrat; als einer der ersten musste er die Anerkennung ausgerechnet einer Gesellschaft verlangen, deren rigorose Ablehnung unveränderliche Bedingung seines Schreibens sein wird. Die ursprüngliche Verweigerung von Publikation und Aufführung zeigt, dass Flaubert sehr wohl seine Situation erkannte, aber auch, dass er außer der hochmütigen Geste noch keine Antwort auf sie besaß, vor allem noch keine gültige literarische Form.

Die frühen Werke machen sein Problem erkennbar bis ins Detail. Zwar werden die großen Motive eines Lebens hier alle schon angeschlagen, doch häufig so, als wisse Flaubert noch nicht, was mit ihnen anzufangen wäre. Vieles steht isoliert wie in einer Montage, anderes so, als habe der Autor auch hier schnell noch eine seiner Obsessionen unterbringen müssen. Mitunter fehlt seinen Erzählungen ein eigentliches Zentrum, und noch die großen autobiographischen Erzählungen der vierziger Jahre sind häufig überdeterminiert und enthalten thematisch überzählige Motive. Wichtiger als diese technischen Anfängerschwierigkeiten sind die sich deutlich abzeichnenden Konstanten: die romantische Emphase und der böse Blick des Gegenwartsanalytikers. Am 14. November 1840, bei der Rückkehr von einer gut zweimonatigen Reise in die Pyrenäen und nach Korsika, schrieb Flaubert einen Brief an seinen Freund Ernest Chevalier, den näher anzuschauen lohnt: »Es kotzt mich an, in ein beschissenes Land zurückgekehrt zu sein, in dem man nicht mehr Sonne am Himmel sieht als Diamanten am Hintern der Säue. Scheiße auf die Normandie und das schöne Frankreich! Ah, wie gern lebte ich in Spanien, Italien oder wenigstens in der Provence! Ich werde mir eines Tages in Konstantinopel eine Sklavin kaufen müssen, und zwar eine georgische Sklavin, denn ich finde einen Mann dumm, der keine Sklaven hat, gibt es etwas Alberneres als die Gleichheit, besonders für Leute, die sie behindert, und mich behindert sie fürchterlich. Ich hasse Europa, Frankreich, meine Heimat, mein saftiges Vaterland, das ich gern zu sämtlichen Teufeln schicken würde, nachdem ich nun einen Blick ins Freie geworfen habe. Ich glaube, mich hat der Wind in dieses Drecksland geweht und ich wurde woanders geboren, denn ich hatte seit jeher etwas wie Erinnerungen oder Instinkte für duftende Gestade und blaue Meere. Ich wurde geboren, Kaiser von Kotschinchina zu sein, aus Pfeifen von 36 Klaftern zu rauchen, 6 Tausend Frauen und 1400 Lustknaben zu haben, Türkensäbel, um den Leuten, deren Gesicht mir nicht passt, den Kopf abhauen zu lassen, numidische Rösser und Marmorbäder, und ich habe nichts als ungeheure und unstillbare Begierden, eine furchtbare Langeweile [ennui] und unaufhörliches Gähnen! Außerdem eine angeschlagene Pfeife und viel zu trockenen Tabak.« Der Kontrast zwischen dem bürgerlichen, normannischen Rouen und der wilden Insel Korsika war Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ganz gewiss noch erheblich, doch Flaubert baut hier die Erfahrung seiner Ferienreise aus bis zu einem großen, von Exotismus, Fernweh und Sehnsucht nach archaischer Kraft verklärten Kolossalgemälde. Der Widerwille gegen die Julimonarchie kleidet sich ins feudale Gewand, der Hass auf ihr schwarzes Tuch und ihre grauen Mauern in die Allmachtsphantasien von Lust, Verschwendung, Erotik und Blut. Seit Napoleons Ägyptenfeldzügen und der immer aggressiveren Kolonialpolitik in Algerien und Marokko dominierte das Bild des Orients stärker und stärker die kollektive Phantasie des französischen Bürgertums; die großen Bilder von algerischen Frauen, jüdischen Hochzeiten, Sultanen zu Pferde, die Eugène Delacroix seiner Orientreise verdankte und die zum großen Teil in den dreißiger Jahren entstanden, sind das bedeutendste künstlerische Dokument dieses Orientalismus, dem auch Flaubert, Salammbô und Hérodiade bezeugen es, zeitlebens anhing. Die Wahlverwandtschaft, die Flaubert hier mit seinen gleichsam prähistorischen »Erinnerungen und Instinkten« beschwört, ist die Wahlverwandtschaft einer ganzen Generation.

Warum jedoch Flaubert weder literarisch noch biographisch sich dieser romantischen, exotischen, eskapistischen Seite seines Wesens vollkommen überlassen sollte, macht dieser Brief ebenfalls klar: Ohne den Hass auf die Gegenwart wäre die sinnliche Exotik ihrer stärksten Kraftquelle beraubt. Die starke Präsenz des Sinnlichen, Romantischen, Wollüstigen im frühen Flaubert, bis hin zur erschöpfenden Arbeit an der ungeheuerlichen, kein Maß kennenden Tentation de saint Antoine, hat oft übersehen machen, dass der rationale, analytische, polemische Anteil seines Schreibens von Anfang an essentiell war. In dem unerhört produktiven Jahr 1837 tritt er ganz und gar in den Vordergrund: Une leçon d’histoire naturelle, genre commis ist eine gelungene, Bouvard et Pécuchet präludierende Satire, die den kleinen Handlungsgehilfen, »das interessanteste Tier unserer Epoche«, in einem Plinius-Pastiche einer genauen Beschreibung unterzieht: Seine Kleidung, Gewohnheiten, ehelichen oder zölibatären Verhältnisse werden ebenso untersucht wie seine politischen Meinungen, die ihn zur Charta von 1830, und seine Präferenzen bei der Presse, die ihn zu den gemäßigten Zeitungen Constitutionnel, Écho und Débats neigen lassen. Mit einem Wort, er ist ein höchst schäbiger Vorläufer des ungleich berühmteren Apothekers Homais, und in der erstaunlichen Erzählung mit dem Shakespeareschen Titel »Quidquid volueris« und dem Balzacschen Untertitel Études psychologiques weiß der junge Flaubert bereits, wofür einer in dieser Gesellschaft das Kreuz der Ehrenlegion, nach dem es den Pharmazeuten so sehr und schließlich mit Erfolg verlangen wird, zugesprochen bekommt: dafür, dass er seine schwarze Sklavin von einem Orang-Utan begatten lässt. Passion et vertu, auch dies ein Conte philosophique, ist vollends eine verblüffende Vorbildung der Madame Bovary.

Vordergründig ist »Quidquid volueris« ein erotisches Schauermärchen: Nachdem die Kopulation vollzogen ist, der »poupon« Djalioh geboren, seine menschliche Mutter gestorben und das Kreuz erworben, heiratet sein Herr, Monsieur Paul, die schöne Adèle, und der aus dieser Verbindung hervorgehende Säugling ist naturgemäß schöner als der Halbaffe Djalioh. Doch die Eifersucht treibt Djalioh zum greulichen Finale: Er erschlägt das Kind, vergewaltigt und ermordet Adèle und zertrümmert sich selbst den Schädel am Kamin. Flaubert kann es sich jedoch nicht verkneifen und ergänzt noch eine bösartige Coda: Der Leser erfährt, dass die schöne Adèle bei der Umbettung auf den Père Lachaise »ihre Schönheit verloren hatte« und »so sehr stank, dass einem Totengräber übel wurde«. Djalioh dagegen wird als »wundervolles Skelett« im Naturkundemuseum aufbewahrt, und der ungerührte Monsieur Paul seinerseits hat sich längst wiederverheiratet, und »heute abend treffen Sie ihn im Théâtre Italien«. Die zwei Vergewaltigungen durch den Affen und den Halbaffen werden von dem Fünfzehnjährigen mit einer solchen pubertären Inbrunst ausgemalt – und natürlich mit dem unausgesprochenen Appell an den ganz normalen Voyeurismus –, dass er damit die Vielzahl der anderen Motive fast verdeckt. Denn die Erzählung ist außerdem noch Satire auf einen naturwissenschaftlichen »Forscher«, eine Parabel auf das »Unglück«, das »in der Ordnung der Natur« liegt, und auf die kreatürliche, materielle Vergänglichkeit des Menschen als »charogne«, als Aas. Kaum jemals wurde wohl so krass der materialistische Glaube ausgesprochen, dass jeder »Engel an Schönheit sterben und eine Leiche werden wird, das heißt ein stinkendes Aas, und dann ein bisschen Staub, das Nichts …« Vor allem aber ist »Quidquid volueris« eine schon überdeutlich, ja, aufdringlich illustrierte Großmetapher für das Schicksal des Außenseiters, als den Flaubert sich selber bereits verstand. Gerade weil er es durch Geburt ist, muss Djalioh auf ewig der Ausgeschlossene schlechthin bleiben, die, im Wortsinne, Verkörperung des biologisch Fremden, des Anderen, des Prä-Historischen, das die bürgerliche Gesellschaft niemals in sich aufnehmen kann noch will.

Die gleichen Motive verarbeitet auch Passion et vertu, aber die Geschichte, die der Autor sich zum Vorwurf nimmt, verdient Interesse nicht nur wegen ihrer verblüffenden Verwandtschaft mit dem großen Roman von 1857. Die unerhörte, aber wahre Begebenheit entdeckte Flaubert in der Gazette des tribunaux vom 4. Oktober 1837, und auch Stendhal, der als eifriger Leser dieser Gerichtszeitung dort schon das Sujet von Rot und Schwarz gefunden hatte, war auf genau denselben Fall gestoßen. Mazza, eine junge Frau aus guter Familie, schließt eine konventionelle Ehe, beginnt aber zugleich eine Affäre mit Ernest, einem eher schwachen, zunächst geschmeichelten, dann aber durch die wachsende Leidenschaftlichkeit der Geliebten irritierten Mann. Um der Sache ein Ende zu machen, entflieht er nach Brasilien. Die Verlassene aber, im Glauben, den unwürdigen Liebhaber doch noch zu gewinnen und ihm folgen zu können, vergiftet zunächst ihren Gatten, dann die beiden Kinder und zum Schluss, da sie erfahren muss, dass jener nun eine andere heiratet, auch sich selbst. Die Ehebrecherin stirbt mit dem Giftflacon im Bett. Die oft gestellte Frage, ob Flaubert sich zwanzig Jahre später an die Jugenderzählung erinnert hat, ist nicht zu beantworten. Dass Flaubert diese Konstellation gleich zweimal gestaltete, ist jedoch Zeichen genug für eine außerordentliche Faszination. Gegenüber dem phantastischen Greuelmärchen von Djalioh zwingt der bürgerliche Zuschnitt der zweiten Erzählung den Autor zu größerer Präzision und Zurückhaltung bei den pittoresken Details der mörderischen Handlung. Im Zentrum steht jetzt ganz und gar die innere Verfassung der Frau, ihre ausschließliche, keine Ordnung anerkennende Leidenschaft, aber auch, und das ist neu bei Flaubert, deren äußere, in der Gegenwart aufgefundene Bedingungen. Flaubert, der sich plötzlich als Kenner aller Tricks erotischer Verführung vorstellt, setzt seine Geschichte ausdrücklich ab von vergangenen Epochen, zum Beispiel von der »Schäfermethode à la Ludwig XV.«: Was ihn interessiert, ist der Stand von Leidenschaft und Tugend in seinem materialistischen Jahrhundert. »Es ist die Grausamkeit eines Anatomen, aber in den Wissenschaften sind Fortschritte gemacht worden, und es gibt Leute, die ein Herz sezieren wie eine Leiche.« Die Täuschung liegt nahe, dies als verstecktes Selbstbekenntnis des Autors zu verstehen, doch im Kontext der Erzählung ist es das Gegenteil: nämlich die Charakterisierung der auf Rationalität und Planung beruhenden Verführungstechnik des Mannes. Flauberts Sympathie indessen liegt ganz auf der Seite der romantischen, impulsiven, irrationalen Frau, nicht auf der des fortschrittlichen Anatomen.

Passion et vertu spielt nicht nur in der Gegenwart, sondern ausdrücklich in dem Flaubert damals noch recht unbekannten Paris. Ein seltsames, romantisches Bild der Großstadt erscheint: »Oh, in den großen Städten gibt es eine verkommene und vergiftete Atmosphäre, die einen betäubt und trunken macht, etwas Schweres und Ungesundes, wie jene düsteren Abendnebel, die über den Dächern liegen. / Mazza atmete diese Luft der Verkommenheit mit vollen Zügen, roch sie wie ein Parfum und zum ersten Mal; nun verstand sie alles, was es gab an Großem und Unermesslichem im Laster und an Wollüstigem im Verbrechen.« Ganz allein steht in Flauberts Werk diese seltsame Anrufung eines mythischen Paris, in dem der zauberhafte Abend Freund der Verbrecher wird, und ganz offenkundig bringt sie einen Ton in die Erzählung, die dieser eigentlich nicht zugehört und ihrem Grundimpuls sogar widerspricht. Die Morde, mit denen Mazza ihre Freiheit erlangen will, entspringen allein der Radikalisierung ihrer erotischen Leidenschaft, und die Idee, dass die verbrecherische Atmosphäre der Großstadt sie erst zu ihren Untaten inspirieren und befähigen sollte, ist eine romantische Verklärung und gewiss keine Beschreibung wirklicher Ursachen. Passion et vertu ist ein Schritt zur Schärfung der Gegenwartsanalyse, doch solange in der Darstellung der äußeren Wirklichkeit dieser Weg nicht konsequent fortgesetzt wurde, konnte das Ergebnis den Autor nicht vollkommen überzeugen.

So unterschiedlich »Quidquid volueris« und Passion et vertu von der erzählerischen Oberfläche her auch sind, im Inneren verbindet sie ein Impuls, der sich immer stärker vordrängte ins Zentrum von Flauberts Schreiben: die Destruktion der Familie als Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft. Die höhnische Ablehnung des Bürgertums, seiner Bêtise, seiner selbstzufriedenen Dummheit, seiner Gemeinplätze des Denkens und der Anstandsregeln, bleibt in Flauberts Leben eine unerschütterliche Konstante, und schon jetzt spricht sie sich regelmäßig aus in seinen Briefen, obwohl für den Schriftsteller die Alternativen zur bürgerlichen Existenz unter der »paillasse« Louis-Philippe nur in den rhetorischen Wünschen nach einem Leben im Zuschnitt des Kaisers Nero oder eines Marquis de Sade bestehen. Die Familie, der Hausstand aber ist das Abbild der Gesellschaft im Kleinen, und mehr noch: Die Familie ist die Klaue, mit der die Gesellschaft das Individuum packt und in sich hineinzieht. »Quidquid volueris« und Passion et vertu zeichnen die Familienbande als korrupt; die Ehemänner von Mazza und Adèle sind gleichermaßen dumm und vulgär, der Liebhaber ist es nicht weniger. Die Ehe unterscheidet sich nicht von einer Vergewaltigung durch Affen. Mazza scheitert keineswegs daran, dass sie die gewöhnliche Ehe und ihre Regeln überschreitet; sie scheitert an ihrer Verblendung, in der sie von der Ehe mit dem Ermordeten hinüberwechseln will zu einer neuen, genauso trivialen, mit dem Liebhaber. Man vergiftet aber nicht Mann und Kind, nur um sich neue anzuschaffen. Man demoliert nicht seine Familie, nur um vom Spießerglück in einer anderen zu träumen. Wer so radikal seine Vergangenheit und seine Bindungen vernichtet, der muss radikal weitergehen, und wer das nicht weiß, geht selbst zugrunde. Die Brutalität, mit der Djalioh den Säugling aus dem Körbchen reißt und auf dem Boden zerschlägt, mit der er seine Krallen tief hineingräbt in Adèles weißes Fleisch, ist die Brutalität eines Wesens, das eine Grenze überschreitet, ohne Umkehr. Mazza hat das nicht gewusst, als sie ihren Kindern tagtäglich brav den Löffel Gift verabreicht, und nur darin besteht ihre Tragik.

Flaubert nähert sich mit seinen Erzählungen einer Denkfigur, die den französischen Roman seit dem achtzehnten Jahrhundert aufs tiefste prägt: Geschichte als Sittengeschichte. Die geschichtlichen, gesellschaftlichen, moralischen, sozialpsychologischen Bedingungen zeichnen sich ab in den individuellen Beziehungen zwischen den Menschen, und wiederum am schärfsten in den intimen Verhältnissen zwischen Frauen und Männern. Choderlos de Laclos beschreibt eine schlechthin andere Welt als Balzac. Der Bruch mit dem achtzehnten Jahrhundert ist ablesbar an der Umwertung aller erotischen Werte und damit auch der Ehe. Es ist, weiß Gott, kein Zufall, wenn Flaubert ausgerechnet den Marquis de Sade nennt, vollzieht dessen Werk, im Augenblick der Großen Revolution von 1789, doch gerade die totale Negierung sämtlicher hergebrachter Werte im Bereich des Sittlichen. Flauberts Epoche war auch in diesem Sinne Restauration, ja, vielleicht mehr noch als im politischen. Die Geste der totalen Negierung, die niemals von Dauer sein kann, war längst erschöpft, und gegen die Evidenz, dass die überkommenen Verhältnisse des Ancien Régime unwiederbringlich dahin waren, versuchte das System des Bürgerkönigs einen niemals ausgesprochenen und niemals konsequent betriebenen Kompromiss zwischen dem Festhalten an den Hierarchien und Kodizes der alten, feudalen Gesellschaft und der Anpassung an die neuen, vom Bürgertum geprägten Verhältnisse. Dass diese Situation im Sittlichen aber mit einer simplen Dichotomie von Reaktion und Fortschritt nicht zu fassen ist, beschreiben die Romane der Restaurationszeit und auch Flauberts frühe Versuche. Die vom Marquis de Sade und von Laclos zerstörte Moral des Ancien Régime, die zynische, hierarchische, verkommene Moral einer herrschenden Klasse, wurde beerbt von der verlogenen und sentimentalen, aber zugleich zwanghaften und Zwang ausübenden Moral des Bürgers, in der das de Sadesche und Laclossche Bewusstsein von der Erotik als Instrument der Macht verdrängt wurde zugunsten einer empfindsamen, aber nur die alltägliche Institution Ehe rechtfertigenden Verklärung romantischer Liebe und Leidenschaft. Wozu diese Leidenschaft aber tatsächlich führen konnte unter den Bedingungen eines gesellschaftlichen Quietismus, das zeigen der undomestizierbare Halbaffe Djalioh und die verblendete Hausfrau Mazza.

Im gleichen Augenblick war Flaubert jedoch schon dabei, den literarischen Stand der Dinge zu überschreiten, ohne dass er genau zu wissen scheint, wohin dieser Schritt ihn führen wird. Nach einem Besuch auf dem Maskenball, ohne Kostüm, versteht sich, schrieb er am 24. Februar 1842 an Ernest Chevalier: »Man muss sich daran gewöhnen, in den Leuten um uns herum nur Bücher zu sehen; der Mann von Verstand beobachtet sie, vergleicht sie und macht aus alldem eine Synthese zum eigenen Gebrauch. Die Welt ist ein Klavier nur für den wirklichen Künstler. Es liegt an ihm, Töne hervorzulocken, die einen hinreißen oder vor Schreck erstarren lassen. – Die gute und die schlechte Gesellschaft müssen beobachtet werden. Die Wahrheit ist in allem. Verstehen wir alle Dinge und tadeln wir kein einziges, das ist das Mittel, um viel zu erkennen und ruhig zu sein, und ruhig sein ist wirklich etwas, es heißt fast, glücklich zu sein.« Drei Motive zeichnen sich ab: Das stoische Wunschbild des unberührbaren Philosophen; der Begriff des Schriftstellers als Artist und Virtuose; die Ablehnung der traditionellen Hierarchie literarischer Sujets. Keines der drei sollte Flaubert je aufgeben, doch die beiden letzten waren es, die sein Schreiben, hatten sie sich erst einmal vollkommen durchgesetzt, auf die Höhe seiner Meisterwerke führen sollte. Die Überwindung einer Werthierarchie von Sujets ist gleichsam der Reinigungsprozess, den Flaubert in den dreißiger und vierziger Jahren durchläuft, mit mancher Kurve und manchem Schritt auch zurück, und von den historischen Dramenimitationen der ersten Jahre bis zu Mazzas Ehebruch, Mord und Selbstmord war der Weg bereits weit. Andere Werke jedoch, wie etwa Smar, der erste Vorläufer der bombastischen, symbolüberladenen Tentation de saint Antoine, verbieten es, eine strikte Konsequenz zu behaupten, wo es noch Suchbewegungen gibt in die verschiedensten Richtungen. Die ersten realistischen Werkelemente verdanken sich nicht einer wirklichen Weltzugewandtheit des jungen Flaubert; im Gegenteil: Noch immer ist der Hang zum Opulenten, Artistischen, Romantischen stärker. Was ihn zum Realistischen treibt, ist weniger Wunsch als Zwang, der Zwang, eine gehasste Gegenwart wenigstens literarisch zu vernichten.

Mit »Quidquid volueris« und Passion et vertu wollte Flaubert einer Gegenwart zu Leibe rücken, deren fatale Konsequenzen für sich und sein Schreiben er bereits deutlich ahnte. Doch anders als noch für Stendhal und seine Generation war der große Aufbruch der Revolution von 1789 inzwischen keine lebendige Gegenwart mehr und damit auch keine geistige Antriebskraft, sondern nur noch Geschichte; Flaubert hatte in einer eigenen Gegenwart zu leben, in der man nicht mehr vom Hinwegfegen des korrupten, im Luxus schwelgenden Adels träumte, als vielmehr sich arrangieren musste mit dem schwarzen Tuch des Bürgers. Ein politisches, ideologisches Gegenbild gab es für ihn nicht mehr. Hatte Flaubert in der Literatur noch immer nicht die gültige Gestaltung gefunden, in seiner individuellen Existenz war die Entscheidung unwiderruflich. Jedes Mal, wenn in seiner Umgebung einer, sei’s Freund, sei’s Verwandter, die Ehe einging, sah er wieder einen gebrochenen Menschen, verloren an Dummheit und Spießbürgertum, und auch hier gilt: Es ist nicht einfach als die gewöhnliche Pubertäts-Misogynie abzutun, was sich später dann durch ein ganzes Leben bestätigt. Ganz besonders traf es ihn, als sein Jugendfreund Ernest Chevalier und seine eigenen Geschwister Achille und Caroline den fatalen Akt vollzogen. Gezwungen – denn freiwillig hätte er sich dem nicht unterworfen –, der Hochzeit Achilles beizuwohnen, berichtete er am 31. Mai 1839 dem noch unvermählten Chevalier von den mit Champagner und Chambertin begossenen Diners und von dem »sanften Knirschen des Betts, das in der finstren Nacht von den ehelichen Freuden künden wird«. Aber: »All das langweilt mich, kotzt mich an. Mein Herz ist leerer als ein Stiefel. Ich kann weder lesen noch schreiben, noch denken.« Retten konnte ihn nur das Schreiben, das wusste er jetzt, jenseits aller schülerhaften Rhetorik. Am 22. Januar 1842 erklärte er seinem früheren Lehrer Henri Gourgaud-Dugazon mit geradezu existentiellem Ernst sein Dilemma. Er war jetzt zwanzig Jahre alt, hatte das Gymnasium hinter sich und war, dem väterlichen Wunsch entsprechend, Student der Rechtswissenschaften in Paris. Doch er hatte nur eine »fixe Idee: schreiben!«. Irgendwie würde er es zum Advokaten bringen, doch »gestehe ich Ihnen, dass ich mich innerlich auflehne und dass ich mich für dieses materielle und triviale Leben nicht geschaffen fühle«. Gourgaud vermochte ihm in dieser »Frage auf Leben und Tod« vermutlich nicht zu helfen; Flaubert musste den Zwiespalt noch eine Weile aushalten; er wusste, dass er »niemals ein Plädoyer halten« würde, und andererseits, dass der Schriftstellerberuf für den Bürger eben gar kein Beruf war. Und er wusste auch, als Schriftsteller hatte er noch nichts vorzuweisen, was für ihn selbst, dem nur die umso härtere Selbstkritik zählte, eine Publikation wert war: »Hier also, was ich beschlossen habe. Ich habe drei Romane im Kopf, drei Erzählungen ganz verschiedener Art, von denen jede eine ganz besondere Form des Schreibens verlangt. Das reicht, damit ich mir selbst beweisen kann, ob ich Talent habe oder nicht. / Ich werde alles hineinlegen, was ich an Stil, Leidenschaft, Geist hineinlegen kann, und dann sehen wir. / Ich glaube, im April kann ich Ihnen etwas zeigen. Es ist diese sentimentale und verliebte Ratatouille, von der ich Ihnen erzählt habe. Die Handlung ist völlig belanglos. Ich könnte Ihnen keine Analyse von ihr machen, denn sie besteht selbst nur aus psychologischen Analysen und Sektionen. Vielleicht ist das sehr schön, doch ich habe Angst, es ist falsch und reichlich aufgeblasen und geschraubt.«

Diese Absätze sind ein außerordentliches Selbstzeugnis. Zum einen, weil sie nicht nur Flauberts eigenes Lebenswerk präludieren, sondern mehr noch eine wesentliche Tendenz des europäischen Romans schlechthin: die ästhetische Aufwertung der Romanprosa durch Stil, Sprache, Form und die Ablösung der alten Vorstellung des Romans als mindere, vor allem an der Anekdote interessierte Gattung. Der reife Flaubert wird seine Haltung nicht ändern, wie der Tagebucheintrag der Brüder Goncourt vom 17. März 1861 beweist: »Flaubert sagte uns heute: ›Die Geschichte, das Abenteuer eines Romans, das ist mir ziemlich egal. Wenn ich einen Roman mache, muss ich den Gedanken, eine Färbung, eine Nuance wiedergeben. In meinem Karthago-Roman zum Beispiel will ich etwas Purpurnes machen.‹« Zum anderen aber ist Flauberts frühe Aussage gegenüber Gourgaud-Dugazon verblüffend, wenn man bedenkt, was mit der »sentimentalen und verliebten Ratatouille« eigentlich gemeint ist: der erste umfangreiche, wirklich gelungene und konsistente autobiographische Roman Novembre. Seit 1838 nämlich hatte Flaubert sich intensiv einem neuen Thema zugewandt, dem eigenen Leben und der eigenen Entwicklung. Es war eine neue und entscheidende Phase jenes Selbstreinigungsprozesses, dem er sein Schreiben unterzog. Flauberts frühe Werke entsprachen noch ganz und gar jenem »landläufigen Begriff des Romans«, laut Walter Benjamins berühmten Worten ein »zusammengestoppeltes Unding aus Erlebtem und Ausgedachtem«. Noch allzu viel war in diese Werke ungefiltert eingegangen von privaten Obsessionen und autobiographischen Reminiszenzen, und nun war für Flaubert die unvermittelte autobiographische Erzählung der Weg, sich ein für allemal von diesem Stoff zu befreien. Bemerkenswert allerdings und vielleicht Camouflage, dass er gerade diesen Stoff des eigenen Lebens als »völlig belanglos« abtun wollte; man muss es ihm nicht glauben.

Viermal setzte Flaubert zu seiner eigenen Geschichte an: 1837 mit dem Fragment La dernière heure, das vor den lebensentscheidenden Momenten abbricht, 1838 mit den Mémoires d’un fou, 1842 mit Novembre und 1843 mit der Éducation sentimentale, die ihn zwei Jahre lang, bis 1845, beschäftigen wird. Die drei letzten zählen dann bereits zum engeren Kreis von Flauberts Werk, doch bei keinem hat er einen Versuch zur Veröffentlichung unternommen. Umstritten ist schon das Genre: Sind es autobiographische Zeugnisse oder literarische Werke? Kann man, wie häufig geschehen, das Berichtete als Tatsachen aus Gustave Flauberts Leben verstehen? Die Antwort ist eindeutig: Der Leser hat vor sich drei Romane, deren Hintergrund nur durch Flauberts eigenes Leben verständlich wird, doch der Zirkelschluss, man habe es mit unmittelbaren Lebenstatsachen zu tun, verbietet sich trotzdem. Die Verwandlung von Leben in Literatur, das bestätigen Flauberts frühe Versuche, ist ein ästhetischer Transformationsprozess, dessen Umkehrung unmöglich ist; im Gegenteil: Nicht das Aufsuchen von nachweisbaren Lebenstatsachen, die selbstverständlich gerade in diesen Texten zu finden sind, gibt Aufklärung über das, was literarisch hier geschieht, sondern nur der Transformationsprozess selber, seine Variationen, Durchführungen, Reprisen des gelebten Lebens, das jetzt zum Stoff geworden ist. In keiner der drei frühen Erzählungen, die sich im Tatsächlichen zudem auch bedeutend unterscheiden, ist das empirische Individuum Gustave Flaubert zu entdecken; aber offen stellt sich der Schriftsteller Flaubert dar, wie er selbst sich sehen, verstanden wissen, als Schreibender konstituieren will. Autobiographisch ist nicht so sehr der Realgehalt von Literatur, autobiographisch ist das literarische Verfahren selbst.

Verblüffend wirkt nun vor allem eines, nämlich wie aus dem jungen Gustave in diesen Jahren endgültig etwas anderes geworden ist, der erwachsene Flaubert. Man staunt, wie ein Neunzehn- und Zwanzigjähriger die Rolle des abgeklärten, ironischen Misanthropen bereits so ausgezeichnet beherrscht, und man findet in seinen Tagebüchern Sätze, die man eher in den späteren Briefen aus dem »gueuloir« von Croisset gesucht hätte: »Bescheidenheit ist von allen Niedrigkeiten die überheblichste«, »Was die Moral im allgemeinen betrifft, ich glaube nicht an sie; sie ist ein Gefühl und keine notwendige Idee«, »Vom Menschen erwarte ich jedes erdenkliche Übel«, »Die Menschheitsgeschichte ist eine Farce«. Alle drei Erzählungen beginnen in diesem Ton, die Mémoires d’un fou aber bereits mit einer fast Cioranschen Beschwörung der »letzten Grenzen der Verzweiflung«. Dieser Grundton ist es, was alle Werke dieser Jahre miteinander verbindet, die autobiographisch getönten wie die anderen, denn Flauberts Arbeit ist durchaus nicht konsequent und zielgerichtet, ist vielmehr ein Suchen und Versuchen in verschiedene Richtungen, in verschiedenen Genres und verschiedenen sprachlichen Registern. So entsteht zwischen den Mémoires und Novembre neben anderem auch Smar, der erste Vorläufer des lebenslangen Schmerzenskindes Tentation de saint Antoine, also ein groß orchestriertes Mysterienspiel, mit seiner allegorischen Bildhaftigkeit dem versuchten Realismus der Selberlebensbeschreibungen vollkommen entgegengesetzt. Dieses Schwanken zwischen ganz und gar verschiedenen Schreibweisen mag bei einem jungen Schriftsteller am Anfang seines künstlerischen Weges normales Zeichen sein für den noch nicht gelungenen Durchbruch zum Eigenen, bei Flaubert, einem Autor, dessen vollendete und reifste Werke Madame Bovary, Salammbô, L’Éducation sentimentale, La Tentation de saint Antoine und Trois contes heißen werden, reicht diese Erklärung kaum aus. Nein, im Nebeneinander von Smar und Novembre, der frühen Éducation sentimentale und des ersten Saint Antoine zeigt sich bereits die Konstante von Flauberts Lebenswerk; das Entscheidende seiner Ästhetik wird weder in der Handlung als solcher liegen, in ihrer Nähe oder Ferne zur Gegenwart, noch im realistischen oder allegorischen Wesen des Erzählens.

Diese Flaubertsche Eigenheit führt zu einer paradoxen Tatsache: Die Mémoires d’un fou sind von den frühen autobiographischen Versuchen das am wenigsten realistische Buch und zugleich dasjenige, in dem am meisten aufzufinden ist von dem wirklichen Flaubert jener Jahre. Diese Erzählung eines Siebzehnjährigen ist zunächst der poetische, literarisierte Ausdruck einer Seelenverfassung, wie sie die romantische Epoche liebte: Der Überdruss an der Trivialität des Alltags und die Faszination durch Byron, Shakespeare und Goethes Werther, das Leiden an der Abwesenheit von Liebe und die herrische Verwerfung derselben Liebe, nichts davon ist originell. Doch die traditionelle jugendliche Lebensmüdigkeit steigert Flaubert noch durch seine eigentümliche Betonung des verfrühten Alterns: »Später werde ich Ihnen all die Phasen dieses trübsinnigen und meditativen Lebens erzählen, das ich mit verschränkten Armen neben dem Kaminfeuer verbrachte, mit einem ewigen Gähnen der Langeweile« – dies die Worte eines Siebzehnjährigen, der in der Haltung eines desillusionierten, eine lange und große Vergangenheit kontemplierenden Zynismus seiner »alten, verdorbenen Gesellschaft« und dem »Misthaufen, den sie ihre Schätze nennt«, das Urteil spricht: »Alles verlangt die totale Zerstörung.« Und auch die Ausweitung in einen kosmologischen, metaphysischen Nihilismus, die Metaphorik von Tod und Vergänglichkeit, nichts davon ist unbekannt in Flauberts Jugendschriften. Was jedoch neu ist in den Mémoires d’un fou, das ist ein Motiv aus der eigenen Biographie: die unmögliche Liebe. Ein anderes Bild des Eros wird es in Flauberts Lebenswerk nicht geben, und hier, im Jahre 1838, erscheint es zum ersten Mal.

Während der Sommerferien 1836 machte Flaubert im Seebad Trouville die Bekanntschaft der sechsundzwanzigjährigen, also elf Jahre älteren Élisa Foucault, die mit dem Musikverleger Maurice Schlésinger und der gemeinsamen Tochter zusammenlebte, als seine Ehefrau galt und selbst den Namen Élisa Schlésinger führte. Diese Begegnung, ihre Folgen und mehr noch ihre ausgebliebenen Folgen, ist die eigentliche Schlüsselszene all jener Werke Flauberts, die irgendwie durch autobiographische Motive geprägt sind – von den Mémoires d’un fou bis hin zur großen Éducation sentimentale des Jahres 1869; und Splitter, Bruchstücke werden sich verfremdet selbst in Madame Bovary und Salammbô finden. In jenem Sommer entbrannte der junge Mann nun in einer Leidenschaft für Élisa Schlésinger, die nur noch verstärkt wurde durch ihre Unmöglichkeit. Die Hauptszenen dieser Liebe zwischen Sommergästen in Trouville genießen bei Biographen und anderen Flaubertiens höchsten Ruhm: Élisas am Strand vergessener Bademantel, den Gustave vor der Flut rettet, und ihr Dank für den galanten jungen Herrn; Gustaves Blick auf den üppigen Busen der stillenden Mutter, die auf immer sein Schönheitsideal bestimmen sollte; der Eifersüchtige, der sich nächtens unter dem ehelichen Schlafzimmerfenster seinen wollüstigen und hassvollen Träumereien hingibt; der Abschied und die Rückkehr ein Jahr später in ein Trouville ohne Élisa. All das wird sich wirklich zugetragen haben, doch all das kennen wir nur aus der Literatur. In Flauberts unendlichem Briefwechsel gibt es verborgene Anspielungen auf Élisa; die Liebe selbst und ihre Wirklichkeit jedoch hat er anderen gegenüber nie erwähnt. In der Literatur aber erfährt seine Geschichte so viele Veränderungen, Verfremdungen, Verdichtungen, dass nicht viel mehr zu erschließen ist als die äußeren Fakten und Daten. Élisas eigentliche Bedeutung für Flaubert, ihre Stilisierung zu seiner unmöglichen Liebe, zum lebenslangen Wunschbild, zur vollkommenen Inkarnation weiblicher Erotik, all das ist durch die Literarisierung so stark gefiltert, dass die Erzählungen selbst, die Bildlichkeit der Szenen, die Dialoge, die Empfindungen des Helden, seine Reflexionen nach dem Abschied, unmöglich – wie dennoch allzu oft geschehen – als biographische Tatsachen genommen werden können. Élisa wurde für Flaubert zugleich zu einer realen und zu einer literarischen Figur. Denn als er ihr wenige Jahre später in Paris wiederbegegnete und zu ihr und Maurice Schlésinger einen durchaus regelmäßigen gesellschaftlichen Verkehr aufnahm, da stand er vor einer Frau, die inzwischen, und selbstverständlich ohne ihr Wissen, bereits »Maria« geworden war, Hauptfigur eines Romans mit dem Titel Mémoires d’un fou. Gewiss lebte Flauberts Verliebtheit auch in der empirischen Realität einige Jahre weiter, doch kann man sicher sein, dass die literarische die wirkliche Frau langsam verdrängte.

Die Liebe Flauberts kam erst zu sich selber, als sie den– biographisch gesehen denkbar geringen – realen Auslöser hinter sich gelassen, als sie sich verwandelt hatte in Erinnerung, ins Imaginäre. Das Imaginäre des Schriftstellers aber ist seine Literatur, und so kann man im wörtlichen Sinne sagen, dass die eigentliche Liebe Flauberts nicht die wäre, die man am Strande von Trouville biographisch rekonstruiert wiederfinden würde, sondern die in seinen Büchern zu Sprache gewordene. Die Frage, ob das in den Mémoires, in Novembre und der Éducation Erzählte den Tatsachen entspricht, ist zwar berechtigt, verfehlt aber ein Wesentliches der Flaubertschen Lebenswirklichkeit: Für ihn war das Schreiben selbst zum Erleben geworden. Dass er mit diesem Bilde der hoffnungslos geliebten Frau einer alten Tradition folgte, war dem Leser und Kenner Flaubert selbstverständlich bekannt; in seiner Konsequenz zeichnete er aber bereits jetzt eine Erfahrung, die dann Marcel Proust für die Moderne kanonisch machte: die Erinnerung als eigentlichen Kristallisationspunkt der Erfahrung. Als der Erzähler ein Jahr später zurückkehrt an den Strand von Trouville und Maria dort nicht wiederfindet, überlässt er sich einem überwältigenden Gefühl, gemischt aus Trauer, Verzweiflung und Wollust: »Als ich mich niederließ auf dem Gras und sah, wie die Halme sich unter dem Winde beugten und die Wellen auf den Strand rollten, da dachte ich an sie, und in meinem Herzen erschuf ich von neuem all jene Szenen, in denen sie gehandelt, gesprochen hatte. Diese Erinnerungen waren Leidenschaft.« »Ces souvenirs étaient une passion« – eine Passion, die im unübersetzbaren Doppelsinn des Lateinischen Leiden ist und Leidenschaft.

Die Begegnung mit Maria ist die einzige längere Passage der Mémoires, die im anekdotischen Sinne so etwas besitzt wie eine konsistente Handlung; der größte Teil des Textes besteht dagegen aus Reflexionen, Invokationen, inneren Monologen des Erzählers, der seine Stimmungen so intensiv wie möglich auf Papier festzuhalten sucht. Hier findet sich der junge Flaubert unmittelbarer als in jedem anderen Werk; der metaphysische Weltschmerz des Erzähler-Ich ist ganz offenkundig derselbe, den man auch aus Flauberts Briefen kennt. Hier liegt aber auch die Schwäche dieses ersten ausgeführten Versuchs zu einem umfangreichen Text: Die Überhöhung zum metaphysischen Weltschmerz und die pseudo-philosophischen Grundsatzfragen nach dem »Sinn des Lebens« verstärken diese Liebesgeschichte nicht, sie schwächen sie ab, und die proustische Verwandlung in Erinnerung kann nicht gelingen, wenn die Ereignisse in der Realität erst zwei Jahre zurückliegen. Flaubert antizipierte eine Erfahrung, die er nicht haben konnte: »O Maria, Maria, geliebter Engel meiner Jugend, du, die ich erblickt habe in der Frische meiner Jugend«, das sind die Worte eines Siebzehnjährigen über eine zwei Jahre zurückliegende Begegnung, die er in den Sommerferien immer noch zu wiederholen hofft, und sie können nicht anders sein als durchtränkt von Pose und Klischee. Noch fehlt Flaubert das genaue Bewusstsein für die Balance von Handlung und Reflexion, von Realismus und Überhöhung; noch weiß er nicht umzugehen mit seiner wirklichen und seiner imaginierten Erfahrung, und noch fehlt ihm die sprachliche Selbstkontrolle, die ihm bereits in Novembre, vier Jahre später, die Entgleisungen der Mémoires verbieten wird.

Im autobiographischen Gehalt scheint Novembre an die Mémoires anzuschließen, denn hier wird in der Begegnung mit Eulalie Foucauld das auf Élisa Schlésinger folgende Kapitel aus Flauberts eigener Éducation sentimentale erzählt. Der entscheidende Schritt aber liegt anderswo: In der Art, wie Flaubert seine Geschichte erzählt, vollzieht sich der Abschied von seinen romantischen Jugendwerken. Eulalie ist zwar tatsächlich die zweite Frau in Gustave Flauberts Leben; als Marie, als die literarische Gestalt, zu der ihr Liebhaber sie macht, wird sie in seinem Werk jedoch etwas vollkommen Neues. Der Erzähler von Novembre beginnt mit dem schon gewohnten Weltschmerz und Ekel des jungen Mannes, bevor er auch hier zur Liebesgeschichte gelangt, als eigentlichem Zentrum des »Romans« – so hat Flaubert laut dem Tagebuch der Goncourts Novembre selbst genannt. Maria in den Mémoires folgte noch ganz dem romantischen Wunschbild der vergeblich geliebten, angebeteten, unerreichbaren, aber gerade deshalb zu jeder erinnernden Verklärung prädestinierten Frau; Marie in Novembre ist eine Prostituierte, mit der ein junger Mann zum ersten Mal die körperliche Lust erlebt. Naturgemäß enthält auch die Gestalt der Marie, von den Goncourts nicht grundlos »putain idéale« genannt, höchst romantische Züge; die eingeschaltete autobiographische Erzählung Maries geht nicht aus von wirklicher Erfahrung, sondern von der typisierten, idealisierenden, geradezu synthetischen Vorstellung einer gleichsam philosophischen Prostituierten, die durch ihre nymphomanische Sinnlichkeit, durch einen unstillbaren sexuellen Erfahrungshunger unfähig geworden sei zu wirklicher Liebe. Es gibt keinen weiteren Text von Flauberts Hand, in dem die Reste literarischer, romantischer Klischees so unmittelbar dastehen neben den analytischen, klaren Passagen des reifen Schriftstellers. In den Mémoires gibt es eine Angebetete, deren eigentlicher Reiz ihre Unerreichbarkeit ist, und die Phantasien von Leiden und Schmerz des Liebenden; Novembre dagegen ist die analytische Zergliederung zweier Psychen und, mehr noch, ihrer äußeren Lebensumstände. Jedoch als Analyse des entstehenden sexuellen Verlangens in der Pubertät ist dieses unveröffentlichte Jugendwerk in der ganzen Literatur seiner Zeit wohl ohne Beispiel. Von Anfang an das Nebeneinander: Steht dort auch wieder die bekannte Verfluchung der korrupten, verfaulten Gegenwart, so spürt Flaubert nun doch, dass seine Kritik sich nicht beschränken kann auf die immer neue Überbietung der Metaphern von Fäulnis und Verfall. Die »totale Zerstörung«, von der er träumt, lässt sich nicht bewerkstelligen durch rituelle Invektiven und romantischen Überschwang. Wonach er sucht, das ist zum ersten Mal das Instrumentarium der Madame Bovary, die Analyse und der Stil.

Der Erzähler und Marie sind nicht länger selbstverständliche Hauptfiguren, deren Charakter einfach vorausgesetzt wird; vielmehr besteht der innerste Kern der Erzählung in der Suche nach den Umständen, die beide vorwärtsgetrieben haben bis zu dem entscheidenden Augenblick. Wie wird man Prostituierte? Die Frage nach der Entwicklung der Figuren wird zum eigentlichen Impuls. Ja, sie geht noch weiter: Wie entsteht das Bild von Liebe, Sinnlichkeit, Leidenschaft, das Marie durch alle gesellschaftlichen Klassen treibt? In Novembre nimmt Flaubert zum ersten Mal konsequent Abschied von der gewöhnlichen Vorstellung einer gleichsam natürlichen, voraussetzungslosen Liebe, und zum ersten Mal skizziert er die Idee, dass einer sich an gängigen Klischeebildern von der Liebe nicht nur berauschen kann, sondern sogar vergiften. Marie pflegt den massenhaften Konsum populärer Romane, und Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre, dessen Lektüre sie eines Tages mit Emma Bovary teilen wird, hat sie gar hundertmal verschlungen. Die Folgen sind verheerend. Ein weiteres sehr reales Phänomen findet Eingang in die Literatur: »Seit damals gab es für mich ein Wort, das unter den menschlichen Worten das schönste schien: Ehebruch [adultère], eine auserlesene Süße schwebt undeutlich über ihm, ein einzigartiger Zauber ziert es; jede Bewegung, die man macht, sagt es und kommentiert es auf ewig für das Herz des jungen Mannes, er berauscht sich ohne Ende, er findet darin die höchste Poesie, eine Mischung aus Verdammnis und Lust.« Das geheime Schlüsselwort der vergeblichen Liebe zu Élisa, inzwischen verheiratete Madame Maurice Schlésinger, hier wird es ausgesprochen. Der reale Wunsch, der in den verklärenden Mémoires nicht genannt werden durfte, hier offenbart er seine ganze Faszination. In einer entscheidenden Passage setzt der Erzähler seine und Maries Éducations sentimentales in einer gewagten Wendung gleich: »Ohne uns zu kennen, waren wir beide, sie in ihrer Prostitution und ich in meiner Keuschheit, den gleichen Weg gegangen, bis an den gleichen Abgrund«. Die Vereinigung von Keuschheit und Prostitution jedoch ist das Siegel des Heiligen. Große Heiligengestalten allein, Frauen und Männer, sind zu dem imstande, wofür in der abendländischen Kultur die Confessiones des heiligen Augustinus das kanonische Exempel sind. Flaubert jedoch, der kein Heiliger war und nicht einmal Christ, fasziniert etwas anderes an dieser Denkfigur, die jenseits der Grenze von Moral zu finden ist: Beide Figuren haben die Regeln der lauen Bürgerlichkeit seiner Epoche radikal und ohne Umkehr überschritten. Wer die Familie, deren Endzweck die Fortpflanzung ist und somit die Weiterexistenz des Menschengeschlechtes, zerstören will und nicht gerade zum Mord greift wie in Passion et vertu und »Quidquid volueris«, dem sind Ehebruch, Prostitution und Keuschheit die einschlägigen Mittel. Alles ist dem recht, der den Gesellschafts- und Generationenvertrag kündigen will, und an der Weiterexistenz des Menschengeschlechts nahm auch der empirische Flaubert nicht den geringsten praktischen oder theoretischen Anteil.

»Fragments de style quelconque«, »Fragmente im Allerweltsstil«, nannte Flaubert seinen Roman im Untertitel, und man kann sicher sein, der Sinn dieser Aussage ist sein gerades Gegenteil. In jenem Brief an Gourgaud-Dugazon vom 22. Januar 1842, mit dem er Novembre ankündigt, hatte er gerade diesen Roman zur entscheidenden Talentprobe erklärt: »Ich werde alles hineinlegen, was ich an Stil, Leidenschaft, Geist hineinlegen kann, und dann sehen wir«, und fortgesetzt: »Die Handlung ist völlig belanglos. Ich könnte Ihnen keine Analyse von ihr machen, denn sie besteht selbst nur aus psychologischen Analysen und Sektionen.« Der außerordentliche Rang dieser Briefstelle zeigt sich erst nach der Lektüre des Romans, denn in diesem Licht ist sie nicht weniger als das erste Aufleuchten der Poetologie des reifen Flaubert. Tatsächlich ist das Neue an Novembre, mit dem Flaubert sich nun von den Jugendwerken im engen Sinne löst, die konsequente Durchdringung von Stil, Analyse und Handlung. Und wenn Flaubert im Nachhinein diese Anstrengung als gescheitert ansah, dann weil er die Konsequenz nicht bis ans Ende trieb: Im Erzählfluss von Novembre wirkt jede Reminiszenz an frühere Eigenheiten bereits wie ein Fremdkörper. Flaubert nannte sein Werk einen Roman, doch seine Schwierigkeiten mit einem plausiblen Schluss beweisen, wirklich im Griff hatte er die große Form noch nicht. Das gilt sowohl für die Handlung als auch für die künstlerische Gestalt. Wenn der Erzähler nach der zweiten Begegnung mit Marie und deren langer Konfession in einem lakonischen »Ich habe sie niemals wiedergesehen« abbricht, dann ist das innerhalb des literarischen Werks psychologisch vollkommen unverständlich. Als Reflex auf das äußere Leben, nämlich den Abschied von Eulalie Foucauld beim Aufbruch von Marseille, wo diese zufällige Reisebegegnung 1840 stattgefunden hatte, scheitert die Szene jedoch an der unvollkommenen Transposition in den Roman: Was in der empirischen Realität durch die reine Tatsächlichkeit zwingend ist, verlangt in der Literatur seine eigene Logik.

Wahrscheinlich hat Flaubert von 1840 bis Oktober 1842 an Novembre gearbeitet, und wahrscheinlich hat er sich in diesen Jahren sogar noch schneller weiterentwickelt, als die Arbeit voranschreiten konnte. So hatte er, am Schluss angekommen, die ursprünglichen Voraussetzungen bereits überholt und wusste nicht recht, wie sein Werk sinnvoll zu beenden war. Mit dem Abschied von Marie hatte er das Wesentliche erzählt, und der Romancier fand in seinem Korb kein Material mehr für ein handwerklich befriedigendes Finale. Die plötzliche Einführung eines zweiten Erzählers, der das Manuskript nun seinerseits gefunden haben will, ist nur noch ein Theatercoup. Anders als bei dem deutlich erkennbaren Vorbild der Leiden des jungen Werthers ist diese Konstruktion hier eine nachträgliche Erfindung und bleibt deshalb ohne jede innere Konsequenz für den Aufbau des Romans selbst. Der Tod des desillusionierten Erzählers »allein durch die Kraft des Gedankens« ist seinerseits ein so krasser Rückfall in trivialromantische Muster, dass Flaubert seinen zweiten Erzähler diese Unglaubwürdigkeit gleich selbst entschuldigen lässt mit den Worten, »in einem Roman muss man das wohl hinnehmen, aus Liebe zum Wunderbaren«. Dass er sein Werk trotz aller Qualitäten nicht veröffentlichte, verlangt danach keine Erklärung mehr. Den 25. Oktober 1842 setzte Flaubert als Datum unter das Manuskript, bereits im Februar 1843 begann er mit der Éducation sentimentale den nächsten und nun auch letzten Versuch, des eigenen Lebenslaufs durch den Roman habhaft zu werden. Doch auch diese Niederschrift dehnte sich über mehrere Jahre, und sie umfasste die Momente, die für Flauberts weitere Existenz die definitiven Weichen stellte.

Tatsächlich bringen die Jahre von 1843 bis 1846 jene zwei Lebenskrisen, nach denen der junge Flaubert zum Flaubert der Literaturgeschichte wird: die Krankheit von 1844 und den Tod von Vater und Schwester 1846. Beide Krisen müssen zusammen gesehen werden, denn nach ihnen gibt Flaubert seinem Leben jene endgültige Form, die vollkommen am Schreiben ausgerichtet ist und sich nicht mehr ändert. Die äußeren Fakten sind oft genug berichtet worden: Im Januar 1844 war Flaubert mit seinem Bruder auf der Rückreise von Trouville nach Rouen. In der Nähe von Pont-l’Évêque fiel er, der im Wagen die Zügel hielt, plötzlich von der Bank. Achille glaubte an einen Schlaganfall und tat, was man damals tat, er ließ ihn zur Ader, und zwar, wie Gustave später erzählte, gleich dreimal. Die Diskussion über die Natur dieser Krankheit dauert an seit dem Tag, da Maxime Du Camp in seinen Mémoires littéraires als erster das Wort Epilepsie aussprach. Doch der Streit über diese postume Diagnose, allzu sehr geprägt von der Verteidigungshaltung gegenüber einer vermeintlich ehrenrührigen Krankheit, hat wenig Sinn, losgelöst von der Frage, was die Krankheit für Flaubert bedeutete. Die Attacke trat ein in einem Moment, der immer dringlicher nach einer existentiellen Entscheidung verlangte. Flaubert ist jetzt einundzwanzig Jahre alt. Seit 1842 studiert er in Paris die Rechte, genauso lange jedoch weiß er, dass er niemals einen juristischen Beruf ergreifen wird. Der Roman Novembre, den er zur entscheidenden Talentprobe erklärt hatte, war in seinen Augen gescheitert und unpublizierbar. Zwar weiß er trotzdem, dass er nichts anderes werden kann als Schriftsteller, doch den Beweis dafür ist er auch der Familie und der Gesellschaft immer noch schuldig, und er wird ihn noch schuldig bleiben müssen auf unabsehbar lange Zeit. Die Krankheit befreit ihn ein für allemal von diesen Sorgen. Nach der Attacke von Pont-l’Évêque ist von juristischen Studien in Paris und anderen Berufsplänen nie wieder die Rede. Gustave wird zunächst von Vater und Bruder kuriert, den Ärzten der Familie, dann unterzieht er sich einer langen Erholung in Rouen. Als Achille-Cléophas Flaubert später in diesem Jahr 1844 für seine Familie in Croisset am Ufer der Seine jenes Landhaus erwirbt, das später als Flauberts Gueuloir literarischen Weltruhm erlangt, hat er für dieses Leben auch räumlich die Weichen gestellt.

Welcher Natur also war diese Krankheit? War sie einfach ein körperliches Leiden wie so viele? War sie nervös oder psychisch bedingt? War sie vielleicht gar gewollt, als willkommener Schlussstrich unter jede gewöhnliche Berufstätigkeit? Eine Antwort, die säuberlich zwischen Entweder und Oder unterscheidet, kann es – muss es aber auch nicht geben. Flauberts Krankheit ist, nicht anders als später die des Flaubert-Verehrers Franz Kafka, alles zugleich: Gewiss war sie, die lebenslang in wechselnden Abständen wiederkehrte, ein organisches Übel, ebenso gewiss aber auch die ins Physische übergreifende Weigerung, am geregelten Berufskreislauf von Produktion und Verwertung in irgendeiner Weise teilzunehmen. Und wieder-um wie bei Kafka diente sie wohl für die noch weiter gehende Weigerung, in den biologischen und familiären Kreislauf einzutreten, sprich, eine Familie zu gründen. Für Flaubert war die Krankheit vor allem dies: der biographische Punkt, an dem jeder Kompromiss mit der gehassten Gesellschaft des bürgerlichen Frankreich endete und von dem an er selbst nichts anderes war als ein Individuum, ein Schriftsteller ohne jede Bindung, die stark genug gewesen wäre, ihn abzuhalten vom Schreiben. Wie weit ihn dieser Schritt von seiner Familie und seinen Freunden entfernen wird, zeigte ihm die Schwester Caroline: Im März 1845 heiratete sie Émile Hamard, einen Schulkameraden Flauberts, und diesem entlockte die frohe Botschaft nur ein großgeschriebenes »AH«. Auch bisher schon hatte es Flaubert nur mit äußerstem Widerwillen zur Kenntnis genommen, wenn sich Weggefährten, wie billig, in der zivilen Normalität einzurichten begannen; der Briefwechsel mit Ernest Chevalier etwa ist der ausdauernde Versuch, den längst zum Verwaltungsbeamten mutierten engsten Jugendfreund wenigstens rhetorisch festzuhalten in der längst vergangenen Gemeinsamkeit von Heranwachsenden. Der Verlust der Schwester, des ihm nächststehenden Familienmitglieds, war ein ungleich härterer Schlag. Die Eltern Flaubert trafen eine kuriose Entscheidung: Auf der Hochzeitsreise, die naturgemäß nach Italien führte, sollte die gesamte Familie das junge Paar begleiten. In Flauberts Voyage en Italie wird nachzulesen sein, wie sehr ihn, der nur von Freiheit träumte, die beständige Nähe des Familientrosses enervierte. Dieser, mit all seinen Ritualen, Formalitäten und Verpflichtungen, war ihm inzwischen unerträglich. Die Reise, über Genua, Turin, Mailand und den Comer See, wurde abgebrochen, bevor man den Petersdom oder Neapel gesehen hatte. Flaubert war sogar froh über die Rückkehr »in das alte Rouen, das meinetwegen vom Feind besetzt, geplündert und gebrandschatzt werden kann, ohne dass es mich eine Träne kostet. Dort habe ich mich auf jedem Pflasterstein gelangweilt und an jeder Straßenecke gegähnt.«

Flaubert wusste, worauf er sich einließ bei seiner Lebensentscheidung: »Ich lebe allein wie ein Bär«, schrieb er im Januar 1845 an Emmanuel Vasse, mit spürbarer Sympathie für das Bärenleben. »Meine Krankheit hat immerhin den Vorteil gehabt, dass man mich tun lässt, was ich will, und das ist doch schon etwas im Leben.« Die andere Seite aber, die Isolation, wird spürbar in jenem großen Brief, den Flaubert am 7. Juni 1844 an Louis de Cormenin sandte, eine literarische Bekanntschaft aus Pariser Tagen, und in ihm spricht auch schon überdeutlich das literarische Hauptgeschäft der Jahre 1843 bis 1845: die Éducation sentimentale. »Was wollen Sie mit einem Menschen anfangen, der die Hälfte der Zeit krank ist und die andere so gelangweilt [ennuyé], dass er weder die Kraft hat noch den Verstand, auch nur die angenehmen und leichten Dinge zu schreiben, die ich Ihnen schicken möchte! Kennen Sie die Langeweile [ennui ]? nicht diese gewöhnliche, banale Langeweile [ennui ], die vom Nichtstun oder von der Krankheit kommt, sondern diese moderne Langeweile [ennui ], die den Menschen in seinen Eingeweiden zerfrisst und aus einem intelligenten Wesen einen wandelnden Schatten macht, ein denkendes Gespenst! Ah, ich bedaure Sie, wenn Sie diese Lepra kennen! Manchmal glaubt man sich geheilt, doch eines schönen Tages erwacht man kranker als je zuvor. Sie kennen diese bunten Fensterscheiben, mit denen die pensionierten Strumpffabrikanten ihre Landhäuser schmücken. Man sieht die Landschaft in Rot, Blau, Gelb. Die Langeweile [ennui] ist genauso. Die schönsten Dinge nehmen, durch sie hindurch betrachtet, ihre Farbe an und spiegeln ihre Traurigkeit.« Zum ersten Mal formuliert Flaubert das Bewusstsein, dass der Lebensüberdruss seiner Epoche, der »ennui moderne«, dass die »moderne Langeweile« etwas substantiell anderes ist als »die gewöhnliche, banale«; zum ersten Mal auch bekommt das Attribut des »Modernen« seine ganz spezifische, also nicht nur chronologische Bedeutung. Schon immer gab es in Flauberts Briefen und Schriften diese zwei Konstanten: Langeweile und Bürgerhass; jetzt beginnt er beide in ihrem essentiellen Zusammenhang zu sehen, und er wird diese Sicht teilen mit den bedeutendsten Dichtern seiner Zeit.

Man wird dem Phänomen des »ennui moderne« kaum gerecht, hält man sich nicht das entscheidende Phänomen der Gesellschaftsentwicklung im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts vor Augen: Nur wenige Jahrzehnte nach dem Umsturz der Großen Revolution von 1789, jenem Ereignis, das nicht nur die gesamte europäische, ja, zivilisierte Mitwelt in den Fundamenten erschüttert, sondern die grundlegenden politischen Konflikte bis ans Ende des zwanzigsten vorzeichnet, nach dieser entscheidenden, säkularen Manifestation des historischen Optimismus ist das Grundgefühl einer ganzen Gesellschaft und ihrer Kultur der Ennui. Aus der Revolution entwickelt sich in der Lebenszeit nur einer einzigen Generation, über Terreur, Bonapartismus, Kaiserreich und Restauration, eine Gesellschaft, die den 89-er Impuls ganz und gar erstickt. Die rhythmische Wiederkehr von Revolutionen und Restaurationen, der Wechsel von Regierungs- und Staatsformen, die das gesamte französische Jahrhundert prägt, ist Zeichen für das, was auch aus der bedeutenden Literatur der Epoche spricht: Es gelingt der französischen Moderne nicht, die tiefe gesellschaftliche Wunde der Revolution zu heilen, der Verbürgerlichung der Gesellschaft eine adäquate politische Form zu geben und, darüber hinaus, anzuknüpfen an eine symbolische Ordnung des Politischen, wie in Revolution und Bonapartismus. Napoleons Empire leitete seine Rechtfertigung auf symbolischer Ebene ab aus dem Rückbezug auf das römische Imperium; das Frankreich der Restauration versuchte gleiches durch die inszenierte Wiederherstellung der legitimistischen Rituale der Bourbonen, mit dem Höhepunkt der Krönung und Salbung Karls X. am 29. Mai 1825 in Reims. Die Julimonarchie des Bürgerkönigs Louis-Philippe konnte sogar eine fragile symbolische, ästhetische Selbst-Apotheose nicht mehr finden. In seinem Brief an Louis de Cormenin schreibt Flaubert weiter: »Verwechseln wir nicht das Gähnen des Bürgers vor Homer mit der intensiven und fast schmerzhaften Träumerei im Herzen des Dichters, wenn er sich an den Kolossen misst und verzweifelt sagt: O altitudo! Daher bewundere ich Nero: Dieser Mann ist der Gipfel der antiken Welt!« Und nur wenig weiter: »Sprechen Sie mir nicht von den modernen Zeiten, wenn es um das Grandiose geht. Es gibt nicht so viel davon, um auch nur die Vorstellungskraft des letzten Feuilletonisten zu befriedigen.« Revolution und napoleonisches Empire waren die letzten Manifestationen dieses »Grandiosen«; der historische Katzenjammer von Restauration und Julimonarchie ist der Ennui.

Der gewaltige Fortschritt der Éducation sentimentale von 1845 zeigt sich in der genauen Analyse dieser Verhältnisse. Flaubert hat jene Phase, in der ihm Literatur, besonders die autobiographisch geprägte, unmittelbarer Ausdruck seines eigenen Fühlens und Erlebens war, hinter sich gelassen, und aus diesem Grunde liest man die Éducation auch nicht mehr im selben Verstande wie die Mémoires d’un fou und Novembre als ausschließlich autobiographischen Roman. Der Zuwachs an Objektivität zeigt sich vor allem auch literarisch: durch größere Beherrschung, bewusstere Gestaltung des Stoffs, durch die analytische Distanz den Figuren gegenüber, nicht zuletzt durch die Transponierung in die dritte Person und die Aufspaltung nur einer Hauptfigur in die beiden Freunde Henry und Jules. Flaubert gelingen zum ersten Mal Passagen von wirklicher Perfektion und Genialität: Das sechsundzwanzigste Kapitel, die Begegnung von Jules mit einem streunenden Hund, ist in seiner Dichte und Gegenwärtigkeit, in seiner latenten Bedrohung unübertrefflich. In Kapiteln dieser Art erzeugt Flaubert zum ersten Mal die vollkommene Synthese von Sprache, Bild, Bedeutung, die den großen Romancier ausmacht. Das Aug-in-Auge des Individuums mit dem Hund, unheimlich, stumm und fremd, ist aufs äußerste angespannt durch einen inneren Bedeutungsüberschuss – ohne dass dieser jedoch einfach in eine rationale Sprache zu übersetzen wäre. Hier, aber auch in einigen Szenen zwischen Henry und Madame Renaud, in der psychologischen Analyse von Henrys wachsender Leidenschaft, erreicht Flaubert tatsächlich einen Höhepunkt der Meisterschaft, der dem reifen Werk in nichts mehr nachsteht und der nicht mehr zu überbieten sein wird. Der Mangel dieser frühen Éducation sentimentale liegt an einer anderen Stelle.

Nie ist die französische Literatur dem idealistischen Bildungsroman Deutschlands so nahe gekommen wie mit Flauberts Éducation sentimentale, dem großen Meisterwerk des Jahres 1869. Doch bereits die Éducation von 1845 versucht sich in der gleichen Richtung; der Roman erzählt den Prozess einer solchen Erziehung des Charakters als den Abschied von jugendlichen, romantischen Tagträumereien, erzählt ihn als Lehrjahre hin zu nüchterner, erwachsener Männlichkeit, mit einem Wort: als Desillusionierung. Jules und Henry haben ihre »éducation« in dem Augenblick vollendet, da sie sich die Hörner abgestoßen und sich mit ihrem Wünschen und Meinen in die bestehenden Verhältnisse eingefügt haben, da ihre romantischen Jugendlieben hinter ihnen liegen und sie, als Dichter der eine, als erfolgreicher Politiker der andere, ihre eigene Individualität und Existenz nicht mehr über Liebe, Herz oder Gefühl definieren. Die langen Schlusskapitel nach Henrys Rückkehr in die Heimat dokumentieren Flauberts Kampf mit diesem Problem: Die Liebe des Studenten Henry zu der verheirateten Madame Renaud gehört noch ganz zu der illusionären, schwärmerischen Romantik, die auch Novembre durchdrang; sie hat alles andere aus seinem Alltag verdrängt, seinen Bildungsroman zu einem Liebesroman gemacht, und der Zufall, dass Madame Renaud seinem Werben nachgibt, ermöglicht nun doch die romantische Tat par excellence: die Flucht des ungleichen Paares nach Amerika. Hier erst, durch die triviale Macht des Lebensalltags, lässt Flaubert die Desillusionierung beginnen, und als beide die Rückkehr nach Paris beschließen, da geschieht das beinahe nebenher, am Ende eines langsamen, fast unbemerkten und eher beiläufig registrierten Erosionsprozesses. Die Romantik stirbt keinen Heldentod mit großem Knall, sie stirbt ab, gerade einmal mit einem Seufzer. Dramatische Peripetien werden konsequent vermieden: Madame Renaud kehrt zurück zu ihrem Gatten, Henry widmet sich, vernünftig, das heißt pragmatisch, konventionell und bürgerlich geworden, seiner Berufslaufbahn und einer reichen Heirat.

Flaubert jedoch erzählt seine Éducation sentimentale 1845 vor allem als Liebesroman – im gleichen Moment, da der Roman überall erkennen lässt, dass er immer stärker hinstrebt zu einer Analyse gerade der anderen starken Kräfte, die solche lebensgeschichtlichen Lehrjahre prägen. Flaubert, in seinem Hass auf die mittelmäßige, dem »Grandiosen« feindliche und vom Ennui besessene moderne Gegenwart, spürt, vermag aber noch nicht zu gestalten, dass ein unversöhnlicher Gegensatz besteht zwischen der autonomen erotischen Leidenschaft und der pragmatischen, enggewordenen Welt, in der sie keinen Raum mehr findet. Nach Passion et vertu ist die Geschichte von Madame Renaud und Henry der zweite Anlauf Flauberts, die leidenschaftliche Liebe als Ehebruch zu erzählen, und in beiden Fällen, mit Mazzas Mord an ihrer Familie wie jetzt mit der Flucht auf dem Segelschiff ins Traumland Amerika, führt der Casus zu einigermaßen dramatischen, romantischen Konsequenzen. Doch so wie die »ideale Hure« aus Novembre für immer aus Flauberts Werk verschwand, so auch der Ehebruch in seiner literarischen, romantischen Gestalt, welche der Wirklichkeit der französischen Familie des neunzehnten Jahrhunderts einfach nicht mehr entsprach; es sollte nicht mehr lange dauern, bis Flaubert die trivialen Konsequenzen des zeitgenössischen Ehebruchs zeichnen sollte. Gerade der Begriff des »ennui moderne« enthält bereits eine Vorstellung, dass Gefühle nicht autonom sind, sondern äußeren Kräften und historischer Veränderung unterworfen. Die Dominanz des Erotischen ist also das letzte Relikt der Jugendschriften und der eigenen Jugend ihres Autors. Der Flaubert der Éducation sentimentale von 1845 beginnt seine Analyse der Gegenwartsgesellschaft erst zu bilden, und die eigene, individuelle Erfahrung des Vierundzwanzigjährigen ist eben immer noch ganz beschränkt auf das Erotische. Auch so könnte man es sagen: Um zu dem zu kommen, was in der frühen Éducation avant la lettre angelegt ist, fehlte dem Autor wie dem Buch noch die Klimax der politischen Desillusion, also die Revolution von 1848 und ihr Scheitern.

Es gibt eine bemerkenswerte Stelle, die beweist, wie genau Flaubert sich die Veränderungen im Gefühlshaushalt seiner Zeitgenossen angesehen hat – und besonders auch die Möglichkeiten, sie in der Literatur zu gestalten; diese Stelle findet sich in dem 1847 niedergeschriebenen Reisebericht Par les champs et par les grèves, doch die Überlegung geht offensichtlich zurück auf eine frühere Lektüre und Überlegung, nämlich auf Balzacs epochemachenden Roman La femme de trente ans, »diese unsterbliche Schöpfung! in der Antike unbekannt wie das Christentum«. Die Heldin selbst ist gemeint, wenn Flaubert fortfährt: »In dem, was als nutzlos weggeworfen wurde, neue Schätze an Plastizität und Gefühl ausgraben, im Universum der Liebe einen neuen Kontinent entdecken und Tausende von Menschen, die davon ausgeschlossen waren, zu seiner Bewirtschaftung auffordern, ist das nicht geistvoll und erhaben? Die Ausübung eines Geschlechts verlängern, ist das nicht fast die Erfindung eines neuen? Welchen Enthusiasmus haben wir erlebt! Es war wie die Entdeckung Amerikas: […] man wird sehen, was man nur flüchtig erspäht hat, man wird erforschen, was man nur leicht angerührt hat, die Mine ist noch neu, die Ader tief; durch diese Frage vorbereitet, werden andere ihr folgen, die nur nach einem großen Moralisten verlangen, einem großen Künstler, damit sie ans Tageslicht treten«. Flauberts »Enthusiasmus« beruht auf der großen Entdeckung, dass es Balzac gelungen war, durch die radikale Analyse von Psychologie und Physiologie seinem Roman und damit dem Roman schlechthin eine ganz neue Dimension zu eröffnen. La femme de trente ans, zerfahren bis hin zur Räuberpistole, kann Flaubert als Kunstwerk kaum überzeugt haben; elektrisiert hat ihn die Konsequenz: Wenn Balzac seine Heldin – allerdings war ihm Stendhal mit Madame de Rênal vorausgegangen – ausdrücklich über ihr Alter definiert, ein Alter nach der damaligen Konvention und Psychologie längst jenseits von erotischer, geschweige sexueller Leidenschaft, dann hat er mit ihr der Literatur einen bisher unbekannten Typus geschenkt, und zwar einen, der wahrer ist als das bisherige Bild von Weiblichkeit.

Wahrheit ist für Flaubert immer Desillusionierung. Mit dem, was er hier in Balzacs Kunst entdeckte, verlässt der französische Roman endgültig das achtzehnte Jahrhundert des Choderlos de Laclos. Flauberts frühere Figuren bedienten sich allzu oft noch der traditionellen Stilisierungen und Handlungsmotive; von nun an müssen sie sich an ihrer eigenen Gegenwart ausweisen. Doch der »Kontinent«, der sich eröffnet, verlangt nicht nur »nach einem großen Moralisten«, sondern nach »einem großen Künstler«! Die ästhetische Herausforderung ist für Flaubert eins mit der psychologischen. Für Madame Bovary ist die Balzac-Passage von 1847 gar nicht zu überschätzen, denn auch wenn der ästhetische Hasser des Bürgertums Flaubert zu etwas völlig anderem gelangte als der epische Chronist Balzac, die gnadenlos genaue Psychologie seiner berühmtesten Ehebrecherin wird genau das sein, was er in der Frau von dreißig Jahren als Zukunft des Romans erkannte: die Kritik des Bürgertums durch Analyse und darüber hinaus die äußerste Schärfung der Analyse durch die Sprache. Der konsequenteste, radikalste und damit auch genaueste Gebrauch der Sprache war für Flaubert nun aber unwiderruflich die Kunst, die Literatur.

Im Januar 1844 wurde Flaubert von der ersten Attacke der Krankheit überfallen, im Januar 1845 hatte er die Éducation sentimentale beendet, von April bis Juni dauerte die italienische Reise, bei der ihm in Genua Breughels Versuchung des heiligen Antonius die Idee zu einem neuen Werk eingab, doch die familiäre Katastrophe zu Beginn des Jahres 1846 unterbricht auch alle literarischen Pläne. Am 15. Januar stirbt mit einundsechzig Jahren der Vater Achille-Cléophas, am 21. Januar bringt Flauberts Schwester Caroline eine Tochter zur Welt, doch sie selbst stirbt am 22. März im Kindbett. Die eben noch lebendige Familie ist mit einem Schlag zerstört. Der Bruder Achille übernahm nunmehr das Amt des Vaters, den er eben noch bis zum Tode gepflegt hatte. Die Übriggebliebenen, Gustave, seine Mutter und Carolines Tochter, verließen das Hôtel-Dieu und zogen sich endgültig zurück nach Croisset, und damit ist nun auch von den Orten her die Existenz des Schriftstellers Flaubert unwiderruflich festgelegt. Abgesehen von Reisen wird Flaubert sein Leben an zwei Orten verbringen: hier Croisset, die Einsiedelei, die er mit seiner Mutter teilt, das Schreiblabor, das Gueuloir im Pavillon über der Seine; dort Paris, die literarischen Milieus, die Freunde aus Kunst und Gesellschaft. Im Juli 1846 lernte er da, im Atelier des Bildhauers James Pradier, auch die Schriftstellerin Louise Colet kennen, mit der er fast ein Jahrzehnt lang eine leidenschaftliche und höchst problematische Liaison führen wird. Der Flaubert der Jugendwerke und -briefe existiert nicht mehr. Die Katastrophe, die unmittelbare Erfahrung des Todes, hat den romantischen, pubertären Weltschmerz pulverisiert; durch die folgenden Briefe klingt die wirkliche Verzweiflung; an die Stelle der fernen Anbetung der imaginären Geliebten tritt eine wirkliche Frau. Flaubert führt von nun an das Leben eines Schriftstellers, und er wird, zumindest in Paris, als ein solcher behandelt – und hat doch nicht ein einziges Werk vorzuweisen. Flaubert hat, darüber hinaus, auch gar keinen Versuch unternommen, eines seiner zahlreichen Manuskripte, unter denen sich nun auch bereits drei umfangreichere Romane befinden, zu veröffentlichen, der erste Ansatz zu einem solchen Versuch wird erst die berühmte, in einem vollkommenen Fiasko endende Vorlesung der Tentation de saint Antoine im Jahre 1849, dann herrscht bis zum Erscheinen der Madame Bovary wiederum acht Jahre Schweigen. Diese erstaunliche Zurückhaltung ist das negative Zeichen für Flauberts Entscheidung zu einer radikal ästhetischen Existenz, in der nicht die Öffentlichkeit, nicht die Darstellung nach außen zählt, sondern nur das künstlerische Bewusstsein vom Gelingen oder Scheitern selbst. Und Flaubert war es vollkommen bewusst, den eigenen Kriterien nach war noch keines seiner Werke gelungen.

Diese Kriterien müssen für Familie, Freunde und Bekannte nach wie vor schwer begreiflich gewesen sein, denn noch immer war Flauberts Schaffen bestimmt durch extrem gegensätzliche Tendenzen. In einem berühmten Brief an Louise Colet wird er am 16. Januar 1852 im Rückblick analysieren, wie er seine Situation nach Abschluss der Éducation sentimentale empfand: »Es gibt, literarisch gesprochen, zwei deutlich unterschiedene Burschen in mir: Der eine ist begeistert von Brüllerei [gueulades], von Lyrismus, von hohen Adlerflügen, von allen Wohlklängen des Satzes und den Gipfeln des Gedankens; der andere wühlt und gräbt, so tief er kann, in das Wahre und liebt es, das kleine Faktum ebenso kräftig herauszuarbeiten wie das große, er möchte die Dinge, die er reproduziert, fast materiell spüren lassen; dieser liebt das Lachen und gefällt sich im Animalischen des Menschen. Die Éducation sentimentale war, ohne mein Wissen, ein Versuch, die beiden Tendenzen meines Geistes zu verschmelzen (es wäre leichter gewesen, in einem Buch das Menschliche zu gestalten und in einem anderen den Lyrismus). Ich bin gescheitert. […] Zusammengefasst: Man müsste für die Éducation das ganze neu schreiben oder wenigstens neu abstützen, man müsste zwei oder drei Kapitel neu machen und, was mir am allerschwierigsten scheint, ein fehlendes Kapitel schreiben und in ihm zeigen, wie der Stamm sich zwangsläufig hat verzweigen müssen, das heißt, warum eine bestimmte Handlung bei einer Person ein bestimmtes Ergebnis gehabt hat und nicht eine andere. Die Ursachen werden gezeigt, die Ergebnisse auch; aber die Verkettung von Ursache und Wirkung keineswegs. Da liegt der Fehler des Buches, und deshalb straft es seinen Titel Lügen.« Flaubert ist hier in seiner Selbstkritik nicht wirklich konsequent. Zum einen erkennt er sehr genau den Mangel an präziser Analyse der Figuren und vor allem ihrer äußeren Bedingungen, aus denen er, beinahe deterministisch, ihr Schicksal ableiten will. Zum anderen sieht er aber in der Éducation etwas, was eher Novembre gewesen ist, nämlich die Verbindung von Analyse und Lyrismus, und genaugenommen hatte sich Flaubert noch nie so weit vom puren Lyrismus entfernt wie mit der Éducation. Auch der Begriff der »Verschmelzung« – »un effort de fusion« – trifft nur begrenzt, stehen doch die beiden Tendenzen in den frühen Schriften noch einigermaßen unverbunden einander gegenüber.

Als Flaubert seinen Brief an Louise Colet schreibt, liegt die Erfahrung der größten »gueulade« bereits hinter ihm, und auch sie ist von Scheitern gekrönt: »Ich habe Dir gesagt, dass die Éducation ein Versuch gewesen ist, Saint Antoine ist ein weiterer. Da ich ein Thema gewählt hatte, das mir für Lyrismus, Bewegungen, Verwirrungen völlige Freiheit ließ, befand ich mich mit meinem Wesen ganz in Übereinstimmung und brauchte nur vorwärtszugehen. Nie wieder werde ich solche Berauschungen am Stil erreichen, wie ich sie mir hier achtzehn Monate lang gönnte! Mit welcher Begeisterung schliff ich die Perlen meines Colliers! Ich habe nur eins vergessen, den Faden. Zweiter Versuch und schlimmer noch als der erste. Jetzt bin ich an meinem dritten. Es ist Zeit, etwas zu schaffen oder aus dem Fenster zu springen.« Der Saint Antoine aber ist genauso wenig, wenn auch in anderem Sinne, wie die Éducation eine »Verschmelzung«, ist vielmehr der radikalste Ansatz, die »gueulade« zum Stilprinzip eines gesamten Werkes zu machen, den Flaubert je unternehmen sollte, ist nach der Éducation, dem letzten autobiographischen und ersten gegenwartsanalytischen Roman, der Versuch, das große Werk in genau der entgegengesetzten Richtung zu suchen.

Auf dem Weg dahin bewegte sich Flaubert nahezu systematisch. Die Éducation war im Januar 1847 abgeschlossen, die Voyage en Italie, das nächste umfangreiche Manuskript, ist jedoch vor allem Tagebuch und kein durchformuliertes Werk. Anders das 1847 niedergeschriebene Par les champs et par les grèves: Flaubert war im Mai 1847 zu einer drei Monate dauernden, hauptsächlich zu Fuß unternommenen Reise durch das Anjou, die Bretagne und die Normandie aufgebrochen, in Begleitung des Pariser Literaten und Freundes Maxime Du Camp. Das Reisejournal sollte nach der Rückkehr zu einem kleinen Buch ausgearbeitet werden, wobei verabredungsgemäß Flaubert die ungeradzahligen, Du Camp die geraden Kapitel zu schreiben hatte. Flaubert aber nutzte die Aufgabe zu etwas ganz anderem, er machte die vorgegebenen, eher anspruchslosen Themen, die Beschreibung von Orten und Landschaften, Städten und Gebäuden, Situationen und Begegnungen zu der konsequentesten Stilübung, der er sich bislang unterzogen hatte, und so ist das kleine Reisebuch das erste, das tatsächlich im Stile des reifen Flaubert durchgehört ist auf Rhythmus und Klang, auf Schwung und Satzmelodie, kurz: das dem sprichwörtlich gewordenen Perfektionsideal entsprach. Erst nach dieser Übung ging er an den Saint Antoine, dessen Idee ihn seit dem ersten Blick in Genua begleitete.

Wie kompliziert die Auseinandersetzung jener beiden »deutlich unterschiedenen Burschen in mir« blieb, verrät ein vorausschauender Blick auf den Kalender der folgenden Jahre. Anfang 1848 ist Flaubert in Paris und erlebt dort aus nächster Nähe die Revolution und ihre Barrikaden – ein Ereignis, das viele Jahre später zum entscheidenden Katalysator für die große und in jeder Hinsicht vollendete Éducation sentimentale werden wird. Im Jahr der Revolution selbst aber tut Flaubert etwas ganz anderes: Er kehrt zurück nach Croisset und beginnt dort die Arbeit am Saint Antoine, dem Hauptwerk des ersten, von Brüllerei begeisterten Burschen. Kaum sechs Wochen nach dem Scheitern des Saint Antoine, das am 12. September 1849 zu den Akten genommen wird, verlässt Flaubert Croisset, um erst im Mai 1851 wiederzukehren. Dazwischen liegt jener lang erträumte Aufenthalt im Orient, in Ägypten, Nubien, Palästina und dem Libanon, der dann seinerseits zur Quelle des anderen großen phantasmagorischen Romans, der »purpurnen« Salammbô, werden wird. Doch auch dieser Ertrag seiner Reise wird nicht sofort, sondern erst ein Jahrzehnt später eingefahren, denn zuvor schlägt endlich die große Stunde des zweiten Burschen. Er »wühlt und gräbt, so tief er kann, in das Wahre«, und ans Licht bringt er Madame Bovary, den Jahrhundertroman mit dem Untertitel Mœurs de province, Sitten in der Provinz.

Doch bevor es so weit war, musste Flaubert in seiner Éducation noch eine Lektion lernen. Die Pariser Revolution von 1848 ist die letzte, die den Ehrennamen Revolution trägt, und sie ist nach 1789 und 1830 die dritte in einem Prozess, in dem gesellschaftlicher Optimismus und restaurative Zurücknahme in enger werdendem Rhythmus aufeinanderfolgen. Das ungelöste Problem, das diesen antreibt, ist der Übergang vom späten Absolutismus zu einer Staatsform, in der die neuen gesellschaftlichen Kräfte des neunzehnten Jahrhunderts integriert werden können. Diese stark vereinfachte Formel umfasst jedoch eine Vielzahl von Faktoren, zu denen nicht nur die das ganze Jahrhundert über offene Frage des Regierungssystems zählt, sondern besonders auch die soziale Frage der städtischen Industrialisierung und die regionale der starken Trennung von Kapitale und Provinz im extrem zentralisierten Frankreich. Da mit der Revolution von 1789 und dem aus ihr hervorgegangenen Empire Napoleons am Anfang dieser Entwicklung eine Konstellation von unerhörter Ausstrahlung im historischen, symbolischen und ästhetischen Sinne steht, ist das 1815 mit der Restauration beginnende Jahrhundert eines der kontinuierlichen, nur von phasenweise auftretenden Konvulsionen unterbrochenen Desillusionierung und, auf der Ebene politischer Ästhetik, der Trivialisierung. Mit jeder dieser Zäsuren: dem Sturz Napoleons und der Restauration 1815, der Julirevolution 1830 und ihrem Ersticken in der Monarchie Louis-Philippes, der 48er- Revolution und ihrem Ende im Second Empire Napoleons III., mit jeder dieser Zäsuren wird gleichsam ein Stück aufgezehrt von der optimistischen revolutionären Grundsubstanz. Dieser Erosionsprozess bedeutet zugleich die fundamentale Verbürgerlichung der Gesellschaft. Solange das Bürgertum in Opposition zur Herrschaft von Adel und Klerus stand, konnte es sich noch als fortschrittliche Kraft, gar als legitimer Nachfolger von Aufklärung und Revolution sehen; Rot und Schwarz, Stendhals Roman aus dem Jahre 1830 mit dem Untertitel Chronik aus dem neunzehnten Jahrhundert, ist dafür das kanonische Dokument. 1848 macht diese Überzeugung zunichte.

Flaubert gehörte sicher nicht zu denen, die sich allzu viel mit der politischen Entwicklung beschäftigten, und von der Hoffnung auf eine Revolution als konstruktive Veränderung war er so weit als möglich entfernt. Doch er, geboren unter der Restauration, ein Kind während der Julirevolution, hatte sein erwachsenes Leben unter der Herrschaft des Bürgerkönigs Louis-Philippe verbracht, er hatte die Stagnation, die Verbürgerlichung Frankreichs miterlebt und in Briefen und in seiner frühen Prosa wieder und wieder bedacht mit seinem ironischen Kommentar. 1848 nun geschah es zum ersten Mal, dass er einen historischen Augenblick Frankreichs bewusst verfolgte. Flaubert zögerte nicht. »Als ich nach Hause kam«, berichtet Maxime Du Camp in seinen Souvenirs de l’année 1848 über den 23. Februar, »fand ich dort Gustave Flaubert und Louis Bouilhet vor, die direkt aus Rouen gekommen waren, um den Aufstand zu sehen, ›vom Standpunkt der Kunst aus‹, und die am Kaminfeuer auf mich warteten«. Flaubert beobachtete die Ereignisse in den Straßen von Paris, die am 24. Februar Louis-Philippe zur Abdankung zwangen, aus nächster Nähe, laut Du Camp trug er dabei als Mitglied der Bürgerwehr eine Jagdbüchse.

Zurückgekehrt nach Croisset, schrieb er im März an Louise Colet, die ihrerseits gerade an einem Theaterstück arbeitete: »Sie fragen mich nach meiner Meinung über all das, was sich ereignet hat. Na schön! es ist alles sehr komisch. Sich die kleinlauten Gesichter anzuschauen ist sehr erheiternd. Ich vergnüge mich höchlichst bei der Betrachtung all der zunichte gewordenen Ambitionen. Ich weiß nicht, ob die neue Regierungsform und der gesellschaftliche Zustand, der daraus hervorgehen wird, günstig ist für die Kunst. Das ist eine Frage. Man wird nicht noch bürgerlicher sein können und noch unbedeutender. Und noch dümmer, ist das möglich? Ich bin froh, dass Ihr Drama dabei gewinnt. Ein gutes Drama ist einen König wert.« Und noch am 6. Mai 1849 an Ernest Chevalier in seine korsische Präfektur: »Ich weiß nicht, ob die Korsen genauso dämlich sind wie die Franzosen, aber hier ist es jammervoll. Republikaner, Reaktionäre, Rote, Blaue, Dreifarbige, alle verblöden um die Wette. Es reicht, um die anständigen Leute zum Kotzen zu bringen, wie der Garçon zu sagen pflegte. Die Patrioten haben vielleicht recht: Frankreich ist heruntergekommen. Was den Geist betrifft, ganz gewiss. Die Politik schafft es, den letzten Tropfen verschwinden zu lassen.« Auch wenn Flaubert das »Kotzen« dem »Garçon« zuschrieb, seinem imaginierten Doppelgänger, kann man das als den Snobismus eines jungen Provinzlers verstehen, der die Zeichen der Zeit verkennt, als die Überheblichkeit eines sich unbürgerlich fühlenden Bürgers angesichts der sozialen Kämpfe der Epoche. Es ist aber weit mehr. Flaubert fuhr zur Revolution nach Paris, um sich bestätigen zu lassen, was er vorher schon wusste: nämlich jene ewige Dummheit der Menschen, die noch in seinem letzten Roman, Bouvard et Pécuchet, zum einzigen Gegenstand werden wird. Flaubert suchte nicht neue Erkenntnisse, er suchte neue Anschauungen, neue Erfahrungen. Seine Aussage, er wolle die Revolution »vom Standpunkt der Kunst aus« beobachten, ist exakt so zu verstehen, und auch seine Hoffnung, das Theaterstück seiner Freundin werde an den Ereignissen »gewinnen«. Nur ästhetisch ist ihm die Welt noch zu rechtfertigen.

Sein eigentliches Bild von 1848 entwirft er erst einundzwanzig Jahre später, in der großen Éducation sentimentale von 1869, und dieser Roman verrät, dass seine unpolitische Distanz von großer Scharfsicht war, dass seine ironische Distanz ihm besser als anderen erlaubte, den Charakter der Imitation in dieser »kleinen« Revolution wahrzunehmen – Imitation bis dahin, dass sie wie ihr großes Vorbild in einem Kaiserreich endet. Flaubert also analysiert die Ereignisse nicht politisch, und er wäre dazu wohl auch gar nicht imstande gewesen, er erfasst sie physiognomisch und ästhetisch, gleichsam als Phänomenologe der neuen Gesellschaft. Flaubert wird auch in späteren Jahren Meinungen zu diesem oder jenem politischen Ereignis äußern, und sie werden, wie bei jedem Individuum, mal richtiger, mal falscher sein, mal ernsthafter mal lächerlicher; was er »vom Standpunkt der Kunst aus«, also als Schriftsteller, als ästhetisch Schaffender, zum Bilde seiner Zeit beizutragen hatte, liegt an ganz anderer Stelle: in der Geschichte einer Ehebrecherin unter der gerade zu Ende gegangenen Julimonarchie.

Bis zu ihr aber bedurfte es noch zweier langer Umwege. Im Mai 1849 schrieb Flaubert an seinen Onkel Parain: »Ich arbeite immer noch wie zehn Neger an meiner Tentation.« Das Fiasko, das am Ende dieser Arbeit stand, hat Maxime Du Camp beschrieben, und es ist als eine der mythischen und ebenso komischen Szenen vom Anbruch der modernen Literatur zu verdienter Berühmtheit gelangt. Flaubert hatte die Freunde Du Camp und Louis Bouilhet zu seinen Richtern bestimmt, denen er an vier Septembertagen des Jahres 1849 das gesamte Opus vorlas. »Noch am Abend, nach der letzten Lesung, gegen Mitternacht, schlug Flaubert mit der Faust auf den Tisch und sagte: ›Jetzt zu uns dreien, sagt mir offen, was ihr davon haltet.‹ Bouilhet war schüchtern, doch niemand konnte seine Gedanken entschiedener ausdrücken als er, wenn er nur einmal beschlossen hatte, sie mitzuteilen: ›Wir denken, du solltest das ins Feuer werfen und nie wieder davon reden.‹ Flaubert sprang auf und stieß einen Entsetzensschrei aus.« Die Kritik war eindeutig. Flaubert hatte dem von »gueulades« begeisterten Burschen freie Hand gelassen, und der hatte sich entfesselt hineingestürzt in seine lyrischen, pathetischen, metaphorischen Exzesse. Maxime Du Camps Souvenirs littéraires sind nicht frei von phantasievollen Ausschmückungen der Wirklichkeit, so dass kaum zu entscheiden ist, ob die Szene sich im Detail tatsächlich so zugetragen hat; doch gerade in diesen Details passt sie zu gut, um nur erfunden zu sein. In der Auseinandersetzung über die Tentation de saint Antoine kommt der Grundkonflikt in Flauberts Schreiben zum entscheidenden Austrag; nur wird sich erst später zeigen, ob der Sieger in ihr so eindeutig festzustellen ist, wie Du Camp das zu sehen glaubte. »Wir sagten zu Flaubert: ›Dein Sujet war verschwommen, du hast es durch deine Art, es zu behandeln, noch verschwommener gemacht […].‹ Flaubert sträubte sich; er las einige Passagen noch einmal vor und sagte: ›Aber es ist schön!‹ Wir antworteten: ›Ja, schön ist es, das bestreiten wir nicht, aber es ist eine innere Schönheit, die außerhalb des Buches zu gar nichts taugt. Ein Buch ist ein Ganzes, bei dem jeder Teil der Gesamtheit dient, und nicht eine Zusammenstellung von Sätzen, die, wie gut auch immer sie gemacht sind, nur einzeln für sich einen Wert haben.‹ Flaubert rief aus: ›Aber der Stil?‹ Wir antworteten: ›Stil und Rhetorik sind zwei verschiedene Dinge, die du verwechselt hast; erinnere dich an das Rezept von La Bruyère: Wenn Ihr sagen wollt: Es regnet, dann sagt: Es regnet.‹«

Das Rezept, mit dem die beiden Freunde Flaubert endgültig von seinen stilistischen Rasereien kurieren wollten, ist ebenso berühmt wie ihre Diagnose: »Du musst auf diese unklaren Sujets verzichten, die von sich aus schon so verschwommen sind, dass du ihnen niemals Festigkeit geben kannst; du hast einen unüberwindlichen Hang zum Lyrismus, also musst du ein Sujet wählen, bei dem Lyrismus so lächerlich wäre, dass du gezwungen bist, auf dich aufzupassen und auf ihn zu verzichten. Nimm ein bodenständiges Sujet, eine dieser Geschichten, von denen das bürgerliche Leben so voll ist, irgendwas wie Cousine Bette oder Cousin Pons von Balzac, und zwinge dich, es in einem natürlichen, fast gewöhnlichen Ton zu behandeln, und lass diese Abschweifungen, diese Redereien, die zwar für sich genommen schön sind, aber nur nutzlose Vorspeisen für die Entwicklung deiner Idee und ärgerlich für den Leser.« Du Camp konnte nicht wissen, dass den Autor von Passion et vertu, der Éducation sentimentale und anderer Manuskripte Hinweise auf bodenständige Sujets à la Balzac viel weniger schockierten, als er befürchtete. Du Camp sah zwar den Grundkonflikt in Flauberts Schreiben, er sah ihn aber um einen winzigen, gleichwohl entscheidenden Winkel verzerrt. Desinteressiert an bodenständigen Sujets war Flaubert nie; mehr noch: Die Wahl des Sujets ist für ihn – zwischen der normannischen Arztgattin Madame Charles Bovary, geborene Emma Rouault, und der karthagischen Königstochter Salammbô, zwischen dem schlichten Herzen der Dienerin Félicité und dem eifersüchtigen der alttestamentarischen Herodias – niemals das entscheidende Kriterium eines Buches. Du Camp glaubte, seinem Freund jeden Lyrismus komplett austreiben zu müssen; Flaubert dagegen suchte den Weg, dem Lyrismus Form und Gestalt zu geben. »Aber es ist schön!« – Flauberts Ausruf galt dem, worauf es ihm ankam. Die Schönheit seines Textes sollte sein Wesen als Kunstwerk begründen.

Flaubert musste einsehen, auch mit dem Kolossalgemälde des Saint Antoine war es ihm nicht geglückt, ein publikationsreifes Werk zu schaffen. Ganz traute er dem Urteil seiner Freunde jedoch nie; zweimal nahm er die Arbeit an seiner Heiligenlegende wieder auf, bis sie im Jahre 1874 endlich doch noch erschien. Folgenreicher als die Ablehnung selbst wird die letzte Szene des Septembertribunals: »Plötzlich sagte Bouilhet: ›Warum schreibst du nicht die Delaunay-Geschichte?‹ Flaubert hob den Kopf und rief freudig aus: ›Was für eine Idee!‹« Es gibt keine Dokumente, keine Briefe, die zeigen könnten, ob Flaubert die Tragweite dieser Idee tatsächlich sofort begriff oder ob sie doch erst Schritt für Schritt sich entwickelte. Erklärungen brauchte es keine; weder für den Fait divers, denn der Ehebruch und Selbstmord der Arztgattin Madame Delamare (Du Camps Diskretion musste sie mit Pseudonym versehen) war damals in aller Munde; noch für die Fruchtbarkeit einer weiblichen Éducation sentimentale bei einem Autor, der »in das Wahre […] wühlt und gräbt, so tief er kann«, um in der Sittengeschichte die Wahrheit seiner Zeit zu entdecken, für einen Autor, der an Balzacs Femme de trente ans gerade dies bewundert hatte.

Am 29. Oktober 1849 bricht Flaubert mit Du Camp auf zu seinem letzten Umweg, ins Sehnsuchtsland seiner Madame Emma Bovary, und er verbringt anderthalb Jahre im Orient. Ob er tatsächlich irgendwo am oberen Nil den Namen seiner berühmtesten Heldin fand, ist nur von anekdotischem Interesse; ihre Gestalt und ihr Roman begleiten ihn in Gedanken seit dem Moment der Abreise. Im Juli 1851 betritt er wieder das Haus in Croisset, am 19. September schreibt er das erste Wort der Madame Bovary.

1857

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