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Der Autor und sein Leben

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Briefe, Briefwechsel und Tagebücher, Memoiren, Biographien und Gespräche bilden in der europäischen Tradition seit Jahrhunderten neben den künstlerischen Werken im engeren Sinne ein Korpus der Reflexion, der Erfahrung, des Austauschs und des geistigen Gedächtnisses, ohne den diese Tradition überhaupt nicht zu denken wäre. Einer kleinlichen und vergesslichen Epoche blieb es vorbehalten, den Tod des Autors zu erklären und Biographisches mit dem Bannfluch zu belegen. Die Literaturwissenschaft fand dazu kurzatmige Theorien von werkimmanenter oder politischer Interpretation, die glaubte, Beschäftigung mit Biographien nur aus sozialphysiognomischem Interesse zulassen zu können. So sonderbar es ist, literarische Werke durften interpretiert werden in Hinblick auf gesellschaftliche, politische, ästhetische Bedingungen, der Einfluss anderer Werke durfte diskutiert werden, nur eines blieb unbeachtet: die schlichte Tatsache, dass jedes Werk geschaffen ist von einem empirischen Individuum in einem ganz bestimmten historischen und biographischen Augenblick. Jeder kennt die Klage, die Beschäftigung mit der Biographie eines Künstlers drohe die mit seinem Werk zu verdrängen. Warum aber soll das bloße Werk für sich umstandslos wichtiger sein als das Individuum, das es schuf?

Ist die Welt wirklich so, wie sie in der Divina Commedia steht, oder gleicht sie nicht eher der in der Comédie humaine? Die Naivität einer solchen Frage soll nur die allgemein bekannte Tatsache illustrieren, dass der Wahrheitsgehalt von Literatur weder von einer abstrakten Richtigkeit ihrer Aussagen oder Begriffe abhängt noch von einer im realistischen Sinne korrekten Abmalung der Welt; denn wäre es so, dann hätte keine Seite von Dante oder Balzac, von Flaubert, Baudelaire oder Stifter heute mehr als archivarisches Interesse. Jedes Verfahren philosophischer Interpretation von Literatur der Vergangenheit hat es also zwangsläufig mit einer Form der Relativierung zu tun, mit Historisierung. Es zählt zu den befremdlichsten Standards des intellektuellen, akademischen und publizistischen Lebens, dass die Geschichtsschreibung vor der Beschäftigung mit dem Individuum haltzumachen hat. Was anderes ist eine Biographie als die Geschichte eines Menschen? Welcher vernünftige Mensch aber liest Dichtung und Wahrheit oder Vie de Henry Brulard, die Tagebücher von Amiel oder die Briefe Hölderlins, Biographien über Chateaubriand, Balzac, Heine und all die anderen allein aus sozialphysiognomischem Interesse? Nein: Er liest sie aus Interesse an einer Gestalt, an einer intellektuellen Physiognomie, an einer geistigen Existenz, die sich so und nicht anders verwirklicht hat, nur hier in diesem geschichtlichen und individuellen Moment. Und auch der Schriftsteller, gerade der Schriftsteller ist kein Exempel für allgemeine Demonstrationen der Sozialwissenschaft, sondern ein einzigartiges Individuum, an dem der Leser sehr zu Recht ein individuelles Interesse nimmt.

Die werkimmanente Interpretation ist eine posthegelianische Erfindung und zugleich eine abstrakte Idolatrie des Geistigen gegenüber dem Geflecht der Wirklichkeit, in das es verstrickt ist. Schon durch seine Verbindung mit dem Gesamtwerk des Autors ist das einzelne Werk auf eine Weise beeinflusst, die in ihm allein unmöglich zu erkennen ist; ob ein Werk am Anfang eines Lebens oder an dessen Endes steht oder in diesem womöglich das einzige blieb, das ist dem Werk nicht äußerlich. Man lese dies kleine, aber vollkommene Distichon, dessen Goethescher Ton sofort erkennbar ist:


Tritten des Wand’rers über den Schnee sei ähnlich mein Leben,

Es bezeichne die Spur, aber beflecke sie nicht.


Und dann lese man in der Biedermannschen Ausgabe von Goethes Gesprächen seine Herkunft nach: »Als während der Unterhaltung bei Goethe der erste Schnee fiel. Goethe schlug vor, jeder solle ein Gedicht auf ihn machen.« Nicht Goethe, sondern sein »Urfreund« Karl Ludwig von Knebel, als Schriftsteller nicht eben bedeutend, schrieb die zwei Verse, »und Goethe, der andere so gern anerkannte, war so entzückt davon, daß er ausrief: Knebel, für dieses Distichon gäb’ ich einen Band meiner Werke hin!« Der werkimmanenten Interpretation entginge das ganze Vexierspiel, das von der Frage der Autorschaft hier in Gang gesetzt wird. Wäre das Distichon von Goethe selber, dann läse man ein vollkommenes, aber doch winziges Seitenstück zu einem überwältigenden Werk, das eine augenblickliche Lebensempfindung in Worte fasst, wie man sie von diesem Dichter erwartet; es ist jedoch von Knebel und damit ein kleines, aber vollkommenes, einzigartiges Juwel in einem Werk, von dem die Literaturgeschichte nichts aufbewahrt hat – und auch dieses, eine wundervolle Anverwandlung des Goetheschen Geistes, nur als Teil des biographischen Komplexes von Goethes Leben.

Ein jedes Kunstwerk ist auf diese Weise verwoben in das Geflecht von Biographischem und Historischem, Individuellem und Allgemeinem, Wirklichem und Fiktivem. Jedes Kunstwerk errichtet sein Ästhetisches auf einem Fond des Unästhetischen. Auch der Künstler hat neben seinem ästhetischen Zustand der Produktion seinen unästhetischen Zustand des empirischen Lebens, und nur idealistische Verblendung könnte das eine sauber vom anderen trennen oder annehmen, das eine existiere unabhängig vom anderen. Tua res agitur: Menschen sprechen von sich selber und wollen von sich selber sprechen hören, und Schriftsteller sind darin nicht anders, im Gegenteil. Menschen leben. Aber einige Menschen sind damit beschäftigt, dieses Leben über seine Reproduktion hinaus in einem Etwas zu objektivieren, das dieses Leben als ein zu Betrachtendes, zu Bedenkendes vor den Menschen hinstellt, ihm gegenüber. Dies tut auch der Wissenschaftler; er arbeitet mit dem Material der Welt. Ein Künstler aber ist einer, der sein eigenes Lebensmaterial zur Arbeit nimmt, den vagsten, mehrdeutigsten, flüssigsten Stoff, einen, aus dem eher Träume gemacht sind als handfeste Erkenntnis. Ästhetische Produktion heißt also genau dies: Verwandlung der eigenen Erfahrung ins Werk, des Wirklichen ins Fiktive. Aber kann es diese Unterscheidung von Wirklichem und Fiktivem im ästhetischen Zustand überhaupt noch geben? Es muss sie geben, obwohl sie fast unmöglich ist, obwohl im Kunstwerk das Wirkliche nie unverwandelt steht. Doch gerade das Wie dieser Verwandlung bezeichnet den eigentlich ästhetischen Vorgang. Die Leiden des jungen Werthers ist nicht einfach ein Liebesroman mit unglücklichem Ende und auch keine Autobiographie eines angehenden Wetzlarer Juristen. Es ist ein Roman, ein Kunstwerk, das individuellste Lebenserfahrungen und Lebenskrisen so transformiert, dass dieser ästhetische Prozess es seinem Autor im empirischen Sinne zu überleben möglich gemacht hat, zugleich aber diesen selbsttherapeutischen Zweck so zu objektivieren vermochte, dass er als Werk auch für den Nichtbeteiligten, besonders für den Nichtbeteiligten seine überragende Bedeutung bekam.

Wo liegt das Biographische, das Autobiographische in einem Werk? Oft an ganz anderer Stelle, als der Leser es erwartet, nicht in Ereignissen und Realien, Bekenntnissen und Intimitäten. Des jungen Goethe seelischer Zustand in Wetzlar bildet sich ab in einem imaginierten Selbstmord, dessen Tatsächliches er bei einem ganz anderen Selbstmörder kurzerhand borgte. Flauberts allzu berühmtes und allzu oft zitiertes »Madame Bovary, c’est moi« betrifft eine Frau, deren Leben und Tod keine Ähnlichkeit hatten mit denen ihres männlichen Autors. Und dass Stifter immer wieder von alten, gescheiterten Männern am Ende eines vertanen Lebens berichtete, ist eine biographische Tatsache, auch wenn und gerade weil er selbst noch keine vierzig Jahre zählte. Das Autobiographische an einem Werk ist also keine Summe von Dingen, derer man mit einer Erbsenzählerei im Töpfchen der Fakten habhaft werden könnte, das Autobiographische durchdringt das Werk vielmehr in allen seinen Dimensionen, so wie der Bezug auf Historisches oder auf das Ganze der literarischen Tradition und seiner Werke. Deshalb kann es nicht darum gehen, die Tatsachen und das Tatsächliche säuberlich im Kosmos des Fiktiven zu isolieren, sondern nur um die Nachzeichnung eines Gewebes, das in jedem einzelnen Fall ein anderes Muster hat. Die ästhetische Frage betrifft Leben und Werk, ist die Frage nach dem ganz individuellen Wie ihrer Verknüpfung, ihrer Verwandlung.

Im Leben eines jeden Menschen liegt – wenn auch in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher Komplexität – eine existentielle Dimension, die in der Frage zusammenzufassen wäre, wie überhaupt es ihm zu leben möglich gewesen ist; es ist die Frage nach der Raison d’être jedes einzelnen Individuums und kein Privileg des Künstlers. Dem Künstler, dem Autor stellt sich diese Frage jedoch in noch auswegloserer Form, denn sie ist der eigentliche Kern seiner Tätigkeit. Als Mensch, der im geistigen Sinne arbeitet, weckt er die Frage, wie es ihm im geistigen Sinne zu leben möglich ist. Die Antwort liegt gewiss im Werk, doch nicht dort allein, liegt in dem mehr oder weniger prekären, mehr oder weniger problematischen, mehr oder weniger gescheiterten oder gelungenen Verhältnis dieses Werkes zur Existenz des Menschen selbst. Offenkundig hat ein Mensch, der 1857 schreibt, einen anderen Erfahrungshorizont als der des Jahres 1957. Dies aber betrifft nicht nur den gesellschaftlichen, politischen, moralischen und literarischen Hintergrund seiner Existenz, es betrifft diese Existenz in ihrer gesamten Substanz, in ihrer Frage nach sich selbst. Denn alles, was eingeht in ein künstlerisches Werk, geht durch die subjektive Erfahrung des Künstlers hindurch, und einen anderen Weg gibt es nicht. Die Frage nach der Möglichkeit der Kunst ist niemals nur eine technische, handwerkliche Frage, und am wenigsten in der Literatur, denn das menschliche Leben ist ein so unerschöpflicher Fonds für das Erzählen, dass demgegenüber jede technische Frage sekundär bleibt. Die Frage nach der Möglichkeit der Kunst ist vielmehr eine gesellschaftliche und eine existentielle, denn sie zielt darauf, ob die Imagination, also die Produktivkraft eines Individuums es vermag, ein Etwas herzustellen, in dem die Welt sich wiedererkennt, ob also der ästhetische Zustand dem unästhetischen etwas zu sagen vermag.

Wie ist es Henri Beyle im geistigen Sinne zu leben möglich gewesen? Wie Goethe? Wie Flaubert, Baudelaire oder Stifter? Elemente einer Antwort finden sich im Individuum und in seiner Epoche, im Individuellen und im Allgemeinen. Der Mensch als Kreatur ist bekanntlich gezeugt und geschaffen; als intelligibles Subjekt jedoch schafft er sich selbst. In diesem Prozess der Autokonstitution setzt das individuelle Subjekt sich Schritt für Schritt zusammen aus einer Unzahl von Einzelheiten, die alle dem Fond des Allgemeinen entstammen. Eine Formel, einen Begriff, eine Summe, die all diese Einzelheiten für ein Individuum zu erklären vermöchten, gibt es nicht, für den Schriftsteller so wenig wie für jeden anderen Menschen. Und doch unterscheidet sich der Schriftsteller darin, dass er Zeugnis ablegt von dieser Autokonstitution, dass er sie – und sei’s auch verkleidet – skizziert, festhält, beschreibt, analysiert, fixiert. Er schreibt sie auf, doch eines tut er nicht: definieren, wie sich das Geschriebene zum Gelebten verhält; aussprechen, wie sich die Verwandlung vollzieht. Ein Schriftsteller kann seine Zeit so wenig verlassen wie jeder andere Mensch, er kann sich gegen sie wenden, kann sich von ihr isolieren, aber die Zeitgenossenschaft ist etwas, das nicht durchtrennt werden kann, sie gehört zu jenem Allgemeinen, das durch die Historisierung, durch die Nachwelt zwingend vollzogen wird. Die Lebensgeschichte eines Schriftstellers ist Produktionsgeschichte – was aber nicht heißt, dass sein Leben nur aus Produktion bestünde. Der Impuls zur Produktion ist das eine; das andere ist die Art und Weise, wie diese Produktion sich gegen äußere und innere Widerstände durchsetzt, wie sie diese braucht, pflegt, bekämpft, wie sie sich zu einem zivilen Leben verhält, zu einem Publikum, hergebrachte Formen aufnimmt, leugnet oder abwirft, wie sie reagiert auf die Epoche und die Epoche auf sie. Biographie ist die Nachzeichnung dieses Prozesses, und nicht etwa die Aneinanderreihung privater Indiskretionen; ist der Versuch, einer Lebenssynthese sich zu nähern, die immer unmöglich bleibt.

In zwei Perspektiven kann man eine Lebensgeschichte erzählen: in der des Endes und in der des Anfangs. Die des Endes ist die eines Historikers, der das ganze Material vor sich ausgebreitet sieht; die des Anfangs versucht die Situation des sich entwickelnden Lebens und Werkes aus ihrem eigenen Bewegungsmoment heraus zu verstehen. Ein Versuch, der biographische und ästhetische Motive in Verbindung bringen will, muss beides gleichzeitig tun: muss die Selbsterzeugung des Schriftstellers im Prozess der Suche nach dem gewollten Werk nachvollziehen, muss aber auch das Gewollte aus dem endlich Geschaffenen heraus zu verstehen suchen. Ein Schriftsteller steht zu seinem Werk anders am Anfang, in der Mitte oder am Ende seines Lebens; ein Erstling ist etwas anderes als ein Spätwerk oder gar als das einzige Buch; es ist ein Unterschied ums Ganze, ob ein Schriftsteller mit einem Werk zum ersten Mal auftritt oder ob er ein letztes Mal dem Bild, das er hinterlassen wird, einen entscheidenden Akzent geben will. Und auch das Verhältnis zur Epoche wird dadurch beeinflusst, ob hier einer in seinen letzten Lebensjahren noch die Vorboten einer neuen Zeit erlebt, die ihm schon nicht mehr gehören wird, oder ob er zu denen zählt, die das Entstehen der eigenen Zukunft mitbestimmen, in Zustimmung oder Ablehnung, Gleichgültigkeit oder Hass.

1857

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