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Der Autor und sein Buch
ОглавлениеJahreszahlen sind Zufälle. Die Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 hätten auch ein Jahr zuvor oder ein Jahr danach stattfinden können, und wenig hätte gefehlt, so wäre Madame Bovary ein paar Monate früher, Der Nachsommer einen später erschienen und damit beide jeweils in einem anderen Jahr. Der Zufall aber schuf das Jahr 1857, und damit ein emblematisches Datum für etwas, was alles andere ist als ein Zufall. 1857 ist das Jahr der Moderne, das Jahr der modernen Literatur.
Sehen wir, was dieser Zufall noch getan hat in diesem Jahr. Von England nach Amerika wird das erste Telegraphenkabel viertausend Kilometer lang durch den Atlantik verlegt, und mit der unerhörten technischen Errungenschaft ist Chateaubriands und Goethes Traum von einem Amerika, das es besser habe, endgültig ausgeträumt; der letzte große Emigrant der 1789er-Revolution und Gegner Napoleons war am 8. Juli 1848 gestorben und hatte gerade noch die Schüsse der neuen vernommen, der Namenspatron einer ganzen Epoche deutscher Klassik schon 1832. Geboren wird 1857 Eugène Atget, der als einer der bedeutendsten Photographen noch das Paris des späten neunzehnten Jahrhunderts und bereits das des frühen zwanzigsten festhalten wird; es stirbt Pierre-Jean de Béranger, der berühmte und berüchtigte, jetzt aber fast schon legendäre Poet und Bänkelsänger einer längst vergangenen Epoche zwischen den Revolutionen. Es sterben auch Joseph von Eichendorff, der letzte Dichter der deutschen Romantik, und der Bildhauer Christian Daniel Rauch, der unvergessen blieb durch die Statuette des spätesten Goethe im Hausrock.
Emblematisch ist das Jahr 1857 durch drei Bücher, die in ihm erschienen: Gustave Flauberts Madame Bovary, Mœurs de Province, Charles Baudelaires Les Fleurs du Mal und Adalbert Stifters Der Nachsommer, Eine Erzählung. Und eigentlich sind es nur deren zwei, durch die das Jahr emblematisch geworden ist: Madame Bovary und Les Fleurs du Mal, und genau das begründet den Reiz der Konstellation. Der Nachsommer steht abseits, scheint abseits zu stehen. Flauberts Sittenroman und Baudelaires Gedichtzyklus sind Jahrhundertbücher, und wurde dieser Rang auch noch nicht gleich vollständig erkannt, so machten sie im Augenblick ihres Auftauchens dennoch Sensation, und nicht nur die lesenden, sondern auch die zeitunglesenden Zeitgenossen konnten damals schon sagen, sie seien dabei gewesen. Flaubert und Baudelaire waren genuine Autoren der Moderne, und sie wurden, in Zustimmung oder Ablehnung, als solche wahrgenommen. Wahrgenommen wurden sie als Schriftsteller oder auch als Symptome ihrer Epoche, als Exempel einer anbrechenden Zeit und Kunst, die der eine fürchtete, der andere feierte, keiner jedoch in dieser Eigenschaft verkannte. Emblematisch geworden sind Madame Bovary und Les Fleurs du Mal natürlich auch durch die Gemeinsamkeit ihrer Chronique scandaleuse. Die Gesellschaft, in der sie entstanden waren, machte beiden Autoren den Prozess, und diese Prozesse des Jahres 1857 wurden schon damals verstanden als Prozesse gegen die moderne Kunst schlechthin. Hier wurden Schriftsteller nicht wegen irgendwelcher persönlichen Verfehlungen angeklagt, sondern wegen der epochalen Eigenschaft, der epochalen Neuheit ihrer Werke selbst. Die Urteile lauteten unterschiedlich, aber das spielte schon kaum noch eine Rolle; eine Rolle spielt, dass eine Gesellschaft sich in ihrem künstlerischen Porträt nicht mehr wiedererkennen wollte oder anders gesagt: dass sie sich so genau wiedererkannte, dass sie dieses Porträt verbot. Die Gemeinsamkeiten scheinen so weit zu gehen, dass Madame Bovary und Les Fleurs du Mal zuweilen als zwei Seiten, die epische und die lyrische, ein und derselben ästhetischen Konstellation angesehen werden. Das jedoch ist genauso wenig zutreffend wie die umstandslose Einordnung der beiden Bücher als kanonische Exempel einer neuen, zukunftsweisenden Kunst, denn in ebenso bedeutendem Sinne sind sie Abschluss und letzter Höhepunkt einer alten.
Als Adalbert Stifters Nachsommer erschien, reklamierte niemand, er sei dabei gewesen. Der Nachsommer war kein Jahrhundert- und nicht einmal ein Epochenroman; er war keine Sensation und kein Skandal, rief kein Aufsehen hervor, sondern höchstens ein kurzes Kopfschütteln, konnte für nichts Allgemeines stehen, für keine Epoche, weder eine vergangene noch eine zukünftige, nein, er stand nur für sich selbst, ein kurioser Sonderweg selbst innerhalb der deutschen Literatur, und auch als er zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, da doch vor allem als ein Abschluss, als letzter Widerschein der alten Welt, als vollständig rückwärtsgewandtes Exempel einer betont gegenwartsfernen Kunst. Dass er indessen auch Elemente in sich trug, die weit in die Zukunft wiesen, blieb sehr lange noch ungesehen. So hat das Jahr 1857 Literaturgeschichte geschrieben. In ihm erscheinen drei Bücher, die – in ganz unterschiedlichem Sinne – epochale Werke sind für die moderne europäische Literatur, Werke, so verschieden voneinander, dass ihre erstaunliche Gleichzeitigkeit als bloßer nichtssagender Zufall verstanden werden könnte, als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im betonten Sinne. Genau das macht die epochale Bedeutung von 1857 aus: die Andeutung, in welche Richtungen sich diese Moderne entwickeln würde. Jahreszahlen sind Zufälle, die historische Gleichzeitigkeit dreier ästhetischer Werke jedoch nicht. Und die eigentliche Antwort auf die Frage, was diesen historischen Augenblick auszeichnet, liegt in der auf eine andere: Ob nämlich diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht doch etwas bedeuten könnte.
Im Januar 1831 las der einundachtzigjährige Goethe Stendhals gerade in Paris erschienenen Roman Le Rouge et le Noir, so wie zwei Jahre zuvor den Roman der italienischen Romantik, Alessandro Manzonis I promessi sposi, und er las mit Begeisterung, wie Eckermann zu berichten weiß: »Wir sprachen darauf über ›Rouge et Noir‹, welches Goethe für das beste Werk von Stendhal hält. ›Doch kann ich nicht leugnen, fügte er hinzu, daß einige seiner Frauen-Charaktere ein wenig zu romantisch sind. Indessen zeugen sie alle von großer Beobachtung und psychologischem Tiefblick, so daß man denn dem Autor einige Unwahrscheinlichkeiten des Details gerne verzeihen mag.‹« Sechseinhalb Jahre zuvor, im Oktober 1824, hatte der junge romantische Dichter Heinrich Heine es unternommen, »zur Verehrung Goethes nach Weimar zu pilgern«, wie er diesem selber erklärte, doch was blieb, war ein Gefühl von Enttäuschung und vom Ende einer Epoche: »Er ist nur noch das Gebäude, worin einst Herrliches geblüht, und nur das war’s, was mich an ihm interessierte.« Heine fand in jenem Besuch die – jugendlich und eigennützig voreilige – Bestätigung für jene »Endschaft der ›Goetheschen Kunstperiode‹«, die er dann 1833 in Die romantische Schule proklamierte. Das war ein Jahr nach Goethes Tod, den Heine als Epochenschwelle sah. Ein einschneidendes Ereignis, gewiss, doch eine Epochenschwelle, war er das wirklich? Manzoni und Stendhal, Goethe und Heine, so unendlich verschieden ihre Charaktere und ihre Werke waren, der Blick des Nachgeborenen sieht sie noch gemeinsam vor jener Schwelle, die ihm die Linse der ersten Photographen spiegelt. Heine hat diese Schwelle um einen Schritt überquert, er hat die Revolution von 1848 in Paris noch miterlebt und empfing den Besuch von Karl Marx, doch nicht nur sein früher Tod hat weitere Schritte verhindert. Auch Heine war ein Letzter, der zwar die Phänomene der modernen Welt gerade noch erblickt hat, dem aber seinerseits davor grauste, was die neue, die bürgerliche, demokratische, nivellierende, die »kommunistische« Welt aus jener Welt der Kultur und der Literatur machen würde, in der er geboren und aufgewachsen war und die, sei’s auch im polemischen Widerspruch, die seine blieb.
Es gibt keine Epochenschwellen, die sich an fixe Jahrestage heften lassen, und selbst die unstrittigste, die Große Revolution Frankreichs, kennt mehrere Daten: den Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, die Enthauptung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 und auch jenen 20. September 1792 mit der Kanonade von Valmy, über den Goethe seinen berühmten Satz, das Urbild aller historischen Schwellendeutungen, geschrieben hatte: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt’ sagen, ihr seid dabei gewesen.« Ein Zeitalter wird nicht an einem Tag beerdigt. Sind die Grenzen auch fließend und vage, so sind sie dennoch mit Sicherheit vorhanden: Henri Beyle und Gustave Flaubert in der Villa Sommariva, das sind zwei verschiedene Welten, selbst wenn der Grenzverlauf zwischen ihnen nicht genau bekannt ist; und das gleiche gilt für Heinrich Heine und Charles Baudelaire im gemeinsamen Paris, für Goethe und seinen Verehrer Stifter, der im gleichen Karlsbad Heilung von einem neuen Leiden suchte, das er eher mit dem ihm unbekannten Baudelaire teilte als mit dem olympischen Weimarer, dem er sich so verwandt fühlte. 1857 liegt vielleicht auf der Grenze, vielleicht jenseits von ihr – ganz gewiss aber nicht diesseits. Jenseits, da liegt die »feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats«, die Hegel beschrieb, da liegt die Welt, die enger und enger und endlich zu jener »Falle« wird, deren »Erforschung« für Milan Kundera das Wesen des modernen Romans im zwanzigsten Jahrhundert ausmacht. »Les dieux s’en vont. Goethe ist tot«, so endete Heine am Schluss des ersten Buchs der Romantischen Schule seine große Apotheose des allzu früh totgesagten Weimarers nicht zufällig mit einem religiösen Bild. Die französischen Könige waren auch nach der epochalen Enthauptung eines der ihren zurückgekehrt, die Götter aber waren tot, sie hatten den Sturz des Absolutismus, des Gottesgnadentums nicht überlebt: »Les dieux s’en vont; – aber die Könige behalten wir.« Jenseits der Grenze vermochte kein Schriftsteller mehr Goethes Rolle zu spielen, und auch Victor Hugo war eher politischer Prophet als Gott. Bürgerliche Schriftsteller sind keine Götter mehr, aber die Erfahrung weiß, auch in einer götterlosen Welt gibt es noch Heilige und Märtyrer, und Könige sowieso.