Читать книгу 1857 - Группа авторов - Страница 6

Der Autor und sein Bild

Оглавление

Henri Beyle, als Romancier bekannt unter seinem Nom de plume Stendhal, ist der letzte große Autor des neunzehnten Jahrhunderts, von dem keine Photographie existiert. Balzac, Nerval, Flaubert und Stifter wurden photographiert, Chateaubriand, Novalis und Goethe nicht. Der alte Eichendorff, ein Dichter, so tief verwurzelt in einer vormodernen Welt, erscheint auf mehreren Porträtaufnahmen, der Dandy Baudelaire noch um vieles öfter, doch er hasste die neue Technik. Dass Heinrich Heine im Paris Nadars ein gemalter Dichter blieb, liegt wohl vor allem an seinem elenden Dasein in der Matratzengruft. Beyle lebte von 1783 bis 1842, Balzac von 1799 bis 1850, doch der Abstand, der die beiden voneinander trennt, scheint um einiges größer als der pure Abstand dieser wenigen Jahre. Über die Geschichte und die Ästhetik der Photographie ist viel geschrieben worden, doch nicht darum soll es hier gehen; nicht die photographischen Bilder selbst sollen betrachtet werden, zeigen sollen sie vielmehr, wie das, was in ihnen abgebildet ist, zu etwas anderem wurde. Wenn der Nachgeborene sich die Welt des späten achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts vergegenwärtigt, so sieht er, irgendwo in diesen Jahrzehnten ist etwas Fundamentales geschehen, und für dieses Fundamentale ist die Photographie eine, aber sicher auch die deutlichste Illustration. Der moderne Blick, die moderne Ikonographie teilen die neuzeitliche Kultur unvermeidlich in zwei Territorien: in die gemalte und die photographierte Welt. Goethes Rom ist ein gemaltes Rom, Baudelaires Paris ein photographiertes Paris. Wie Beyle ausgesehen haben mag, ahnt man allenfalls in der Summe recht unterschiedlicher Porträts; wie Stifter aussah, ist auf genauen Photographien festgehalten. Die vorphotographische Zeit überlässt unendlich viel der Imagination; die Existenz eines Bildes war immer die Ausnahme, der größte Teil der Welt blieb unabgebildet, ebenso wie die meisten Menschen. Die Existenz eines Bildes war Ausweis der Bedeutung seines Gegenstandes, und so kommt es, dass von kaum einem später bedeutenden Schriftsteller Kindheitsbilder existieren. Städte, Dörfer, Häuser, Straßen wurden gezeichnet und gemalt, doch ein Panorama von Paris oder eine Straßenszene von Wien zeigt nicht den Augenblick in seiner zufälligen Realität, sondern ist eine ästhetische Synthese von Wirklichem und Stilisiertem, Besonderem und Verallgemeinertem. Die umfassende optische Wirklichkeit existiert für die Nachgeborenen nur in der Imagination.

Irgendwann im neunzehnten Jahrhundert taucht aus den Tiefen dieser imaginierten Vergangenheit etwas Neues hervor, die moderne Gegenwart. Auf den ersten Daguerreotypien und Photographien sieht man Dinge, die man nie zuvor gesehen hat, eine Allee, in deren körniges, etwas feuchtes Erdreich sich Wagenspuren einzeichnen, eben erst zart belaubte Platanen, Vier- und Zweispänner, einen Gendarmen, eine dahineilende Frau in Schwarz, zufällig vorübergehende oder stehengebliebene Passanten: Wien 1847. Eine metallisch glänzende Seine, denn auf den Stadtansichten von Gustave Le Gray glättet die lange Belichtungszeit auch die kleinste Welle: Paris 1857. Natürlich hat die Evidenz solcher Bilder, bei denen eine Maschine festhielt, was der Fall war, auch die Ästhetik gemalter Bilder radikal verändert, aber hier soll etwas anderes interessieren: die Veränderung der Idee von Wirklichkeit. Die Photographie hat eine Grenze gezogen: hier eine objektiv und mechanisch festgehaltene Welt, die uns standhaft glauben macht, dass wir ihre optische Wirklichkeit kennen; dort jene andere, die wir nie gesehen haben und die wir uns imaginär zusammensetzen müssen aus subjektiven Wahrnehmungen bildender Künstler – und aus sprachlichen Beschreibungen. Die Welt in den Romanen Stendhals und die in jenem Marcel Prousts, um hundert Jahre voneinander geschieden, trennt neben allem anderen eines: Für Swann und Odette, Marcel, Albertine und Françoise sehen wir moderne, zeitgenössische und das heißt: photographierte Physiognomien vor uns; für Julien Sorel und Madame de Rênal, für Fabrizio del Dongo und die Sanseverina dagegen Physiognomien, die aller photographischen Exaktheit, Detailliertheit entraten, die ganz und gar im Unbestimmten der gemalten und gezeichneten Ikonographie verbleiben; und das gleiche gilt für das Paris in À la recherche du temps perdu und das in Le Rouge et le Noir. Ist dieser Glaube an die Objektivität der photographierten Wirklichkeit auch gewiss ein Irrglaube – für die optische und damit auch existentielle Imagination steht er unverrückbar fest. Die Photographie hat die vorphotographische Welt von der modernen Welt unwiderruflich getrennt. Wahrhaft unsichtbar liegt sie im tiefen Brunnen der Vergangenheit.

Dieser Umschwung vollzieht sich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, und dass er tiefe ästhetische Konsequenzen hatte, ist bekannt. In der technischen Revolutionierung aber wird ein Bruch sichtbar, der weit mehr ist als eine Sache der Kunst, und zudem geht er einher mit weiteren Phänomenen, die dasselbe bewirken, wenn auch nicht immer ebenso sichtbar; die rasante Entwicklung der Eisenbahn ist das zweite, von den Zeitgenossen sofort begriffene Phänomen, denn zu seinen unabsehbaren Folgen gehörte die Reduktion des Raumes, das Schrumpfen der Zeit durch die unerhörte Beschleunigung, die den Kreis der erreichbaren Welt radikal erweiterte, aber auch die demokratische Nivellierung der gesellschaftlichen Rangunterschiede, der »Ennui«, mit dem einer den mechanischen Transport von hier nach dort über sich ergehen lässt. »Seit die Dampfmaschine Herrin der Welt ist, ist jeder Titel eine Absurdität«, heißt es schon in Stendhals Armance. »Ich quäle mich unfassbar in der Eisenbahn«, schreibt noch der späte Flaubert am 26. August 1873 an einen Freund, »und nach fünf Minuten brülle ich vor Langeweile. In den anderen Waggons glauben sie, das sei ein vergessener Hund. Ganz und gar nicht! Es ist Monsieur Flaubert, der seufzt!« Eines der emblematischen Werke der modernen Kunst, Claude Monets Darstellungen von rauchenden Eisenbahnen und Bahnhöfen in Paris, bezieht seinen Reiz deshalb aus einem Paradox: Hier wird das revolutionäre Verkehrsmittel eben nicht konsequent zeitgemäß photographiert, sondern noch einmal gemalt, nicht anders als gelassene Spaziergänger in der Landschaft und Seerosen.

Jeder Leser literarischer Werke weiß, in den Romanen des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts hat sich ein vollkommener Wandel der äußeren und inneren Welt vollzogen: bei Wieland, Goethe und Stifter, in Agathon, Wilhelm Meisters Lehrjahre und Der Nachsommer, bei Laclos, Stendhal und Flaubert, in Les Liaisons dangereuses, Le Rouge et le Noir und Madame Bovary, und dasselbe gilt in der Poesie, bei Voltaire, Heine und Baudelaire, in Poème sur le désastre de Lisbonne, Das Buch der Lieder und Les Fleurs du Mal. Diese Lese-Erfahrung eines umfassenden Wandels hat eine ästhetische und eine lebensweltliche Dimension zugleich: Gewandelt haben sich das Kunstwerk und die Lebenswelt, die in ihm aufgehoben ist. Und das heißt in der Konsequenz: Gewandelt hat sich auch die Art, wie der Künstler seine Welt erfährt und wie er sie verwandelt in Kunst, sie überführt von ihrem unästhetischen in ihren ästhetischen Zustand. Eine hegelianisch-dialektische Interpretation dieses Wandels als eine bloße konsequente Weiterentwicklung ästhetischer Kategorien und Materialien griffe viel zu kurz, weil sie die lebensweltliche Seite der ästhetischen Erfahrung einfach ausblendet.

Henri Beyle ist die Schlüsselfigur dieses epochalen Wandels, denn er steht auf der Schwelle zur Moderne, ohne diese Schwelle zu überschreiten; mehr noch: Er steht auf der Schwelle zwischen den beiden großen gesellschaftlichen Umbruchsmomenten der Moderne, die diesen Wandel rhythmisieren. Die Große Revolution von 1789 hat er als Kind gerade noch erlebt, die bürgerliche und bereits proletarische von 1848 schon nicht mehr. Erlebt hat er die Folgen der einen und die Vorboten der anderen, Napoleonismus und Restauration. Er ist ein Mann des Übergangs vom feudalen Ancien Régime, dem Laclos noch fest angehörte, zu jenem bürgerlichen Frankreich, das Flauberts Wirklichkeit sein wird. Er ist als das Individuum Henri Beyle wie auch als der Romancier Stendhal tief verwurzelt im achtzehnten Jahrhundert, doch dieses ist seit der Revolution 1789 und vor allem seit der Enthauptung Ludwigs XVI. 1793 definitiv zu Ende, ohne dass sich das bürgerliche Frankreich bereits durchgesetzt hätte. Le Rouge et le Noir ist der Roman dieses Übergangs, ist der Roman vom Kampf um die Durchsetzung des Bürgerlichen. Julien Sorel scheitert daran, dass er nicht mehr in der Epoche Napoleons lebt, als jeder Infanterist seinen Marschallstab im Tornister trug, eine Laufbahn sich also statt nach der Herkunft nur nach den Leistungen bemaß, und noch nicht in der bürgerlichen Gesellschaft, die dieses in nahezu allen Berufen möglich gemacht hätte. Monsieur de Rênal, sein Arbeitgeber, ist als Provinzadliger auch Abkömmling des Feudalismus und deshalb Parteigänger der Restauration, doch zugleich als Besitzer der Nagelfabrik und als Bürgermeister von Verrières sowohl wirtschaftlich als auch politisch ein Repräsentant des aufstrebenden Bürgertums. »Seit 1815 schämt er sich, Industrieller zu sein«, mit diesem Satz hat Stendhal die prekäre und deshalb auch nicht dauerhafte Malaise des Monsieur de Rênal und seinesgleichen ironisch skizziert. Seit 1815, das heißt seit dem Sturz Napoleons und dem Beginn der Restauration, hat die Ideologie einer Wiederkehr des Ancien Régime ihn gezwungen, etwas anderes sein zu wollen, als er geworden ist. Monsieur de Rênal ist Industrieller, also eine moderne Figur, aber genau das ist unter der Inszenierung eines wiedergekehrten achtzehnten Jahrhunderts verpönt; Monsieur de Rênal ist Industrieller, muss aber so tun, als sei er der Höfling eines absoluten Herrschers.

Henri Beyle verkörperte diese Übergangszeit auch in seiner empirischen Existenz und in deren Verhältnis zu dem Autor, der er war. Henri Beyle und Stendhal sind nicht identisch. Für seinen Grabstein hatte er selbst die Inschrift entworfen: »Arrigo Beyle, Milanese, Visse, Scrisse, Amò«, nicht etwa: »Stendhal, écrivain français«. Selbst wenn man einiges an Koketterie des Italienliebhabers abzieht, der dann seine letzte Ruhestätte doch auf dem Friedhof Montmartre fand, bleiben die Worte ein sprechendes Zeichen für das Eigentümliche von Beyles Autorschaft. »Lebte, Schrieb, Liebte«, das hätte mit der Variante »Römer« auch ein Goethe von sich behaupten können, nie jedoch ein Schriftsteller in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, kein Flaubert, kein Baudelaire, kein Stifter. Am 8. März 1818 hatte Goethe an seinen Freund Karl Friedrich Zelter in Berlin geschrieben: »Vorstehende sind Auszüge aus einem seltsamen Buche: Rome, Naples et Florence, en 1817. Par M. de Stendhal, Officier de Cavalerie. Paris 1817. welches Du Dir notwendig verschaffen mußt. Der Name ist angenommen, der Reisende ist ein lebhafter Franzose, passioniert für Musik, Tanz, Theater. Die paar Pröbchen zeigen Dir seine freie und freche Art und Weise. Er zieht an, stößt ab, interessiert und ärgert, und so kann man ihn nicht loswerden. Man liest das Buch immer wieder mit neuem Vergnügen und möchte es stellenweis auswendig lernen. Er scheint einer von den talentvollen Menschen, der als Offizier, Employé oder Spion, wohl auch alles zugleich, durch den Kriegesbesen hin- und wieder gepeitscht worden. An vielen Orten ist er gewesen, von andern weiß er die Tradition zu benutzen und sich überhaupt manches Fremde zuzueignen. Er übersetzt Stellen aus meiner Italiänischen Reise und versichert das Geschichtchen von einer Marchesina gehört zu haben. Genug man muß das Buch nicht allein lesen, man muß es besitzen.« Goethe erkennt und beschreibt Stendhal als den genuinen Autor des Dixhuitième. Der ist – ebenso wie Goethe – kein Schriftsteller von Beruf und kein bürgerlicher Außenseiter, er ist ein spätfeudalistischer Abenteurer, Politiker und Diplomat, Salonlöwe, Causeur, Soldat und Reisender, Liebhaber der Frauen und der Künste, und unter seinen Beschäftigungen ist das Bücherschreiben nur eine, und unter seinen Büchern – Reiseberichte, Feuilletons, Polemiken, Biographien von Napoleon, Rossini und Haydn, Autobiographien, eine Geschichte der italienischen Malerei, eine Abhandlung über das Wesen der Liebe und vieles andere mehr – bilden die Romane nur ein Bruchteil. Stendhal ist nicht identisch mit Henri Beyle, er ist nur ein Teil von ihm.

Dieser Typus des Autors ist verschwunden, nicht unbedingt weil, aber doch als Photographie und Eisenbahn aufkommen. Stendhal konnte sich für sein eigenes Italienbuch so bequem bei Goethe bedienen, weil beider Reiseerfahrungen noch nah beieinanderlagen. Goethe und Beyle in Italien, das sind noch keine Touristen im modernen Sinne, das sind Menschen, die für eine gewisse Zeitspanne ihren Lebensraum wechseln, denen der Aufenthalt dort zu einer essentiellen Erfahrung wird, zu einer bleibenden Schule für Kunst und Leben. Als wenige Jahrzehnte später Gustave Flaubert mit Eltern, Schwester und Schwager nach Italien aufbricht, hat alles sich verändert. Flauberts Voyage en Italie unterscheidet sich zutiefst von Goethes Italienischer Reise, von Stendhals Rome, Naples et Florence und Promenades dans Rome: Es ist das Tagebuch eines modernen Touristen. »Ich bin an der Tramezina, am Comer See, seit neunzehn Tagen«, schrieb Beyle am 24. Oktober 1818 an seinen Freund Adolphe de Mareste in Paris. »Ich habe ein wunderbares Zimmer, das vom See nur durch eine acht Fuß breite Straße getrennt ist, auf der jeden Tag fünfzig Personen aus der Gesellschaft vorüberkommen, sie logieren in den hundert Villen, die dieses wunderbare Tal schmücken. In der Villa Sommariva, die meinem Zimmer näher liegt als das Ihre dem Café de Foy, habe ich hundert mittelmäßige Gemälde, zwei von Guido, zwei von Leonardo und eine Statue von Canova. Am Abend Gesellschaft, sehr heiter, sehr musicante, sehr langweilig, wo ich gern empfangen werde und ohne reden oder glänzen zu müssen. An einem dieser Tage habe ich achtzehn Partien Billard gespielt, ohne etwas zu sagen, was zehn Zeilen wert gewesen wäre.« Als Flaubert siebenundzwanzig Jahre später ebenfalls in Tremezzo am Comer See haltmacht, besucht er die gleiche Villa Sommariva, ist von dem gleichen Canova, Amor und Psyche, hingerissen und raubt den beiden rasch einen Kuss, doch es gibt kein Billard und keine Musik. Flaubert muss nicht geistreich sein, denn für ihn gibt es keine Gesellschaften. Er lebt nicht am Comer See, kennt niemanden von den Menschen in den Villen, er wird nicht eingeladen und erwartet es auch nicht. Er ist ein Tourist auf der Durchreise und besichtigt Sehenswürdigkeiten. Die Zeiten der großen Reisen sind in Europa bald schon vorbei. Flaubert stillt sein Fernweh ein letztes Mal im Orient. Baudelaire wird nur noch zwangsweise in die Ferne fahren. Stifter bleibt zu Hause.

Das Engwerden der Welt, dies ist vielleicht die lebensweltliche, phänomenologische Kurzformel für die zentrale Erfahrung des neunzehnten Jahrhunderts, die in anderen Formeln Entzauberung der Welt heißt, Anbruch der Moderne oder des bürgerlichen Zeitalters. Fast alle Künstler empfanden die Moderne des neunzehnten Jahrhunderts als Bedrohung. Schreiben wurde ein Beruf. Der unästhetische Zustand des empirischen Lebens und der ästhetische Zustand der Kunst sollten in diesem Beruf zueinanderfinden. Die Kunst lebt aus der Differenz, die Ästhetik ist eine Wissenschaft vom Unterscheiden. Das Schöne unterscheidet sich vom Hässlichen, das Seltene vom Alltäglichen, das Gekonnte vom nur Gewollten, das Schwierige vom überall Zugänglichen, das schwer zu Verstehende vom Allgefälligen, die Kunst, mit einem Worte, von allem, was nicht Kunst ist. Nicht jeder ist imstande, Kunst zu schaffen, und nicht jeder ist imstande, Kunst aufzunehmen, zu verstehen und zu genießen. Kunst ist elitär, Kunst ist unbürgerlich und undemokratisch. Kunst ist undemokratisch auch in dem Sinne, dass sie noch niemals durch autoritäre Herrschaft verhindert wurde und durch Demokratie nicht befördert: die Ilias entstand so wenig in der Demokratie wie die Göttliche Komödie oder Goethes Faust. Genau an dieser Stelle beginnt das Problem von Bürgerlichkeit und Demokratie, das für so viele Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts essentiell wurde und das in so vielen Korrespondenzen, von Beyle bis Zola und darüber hinaus, eine so große Rolle spielt. Doch muss der Nachgeborene sich hüten, diese Terminologien umstandslos in seinem heutigen Sinne zu interpretieren: Bürgerlichkeit und Demokratie sind häufig schlechterdings Synonyme für das, was den Prozess der Moderne ausmacht.

Jenseits politischer Polemiken ist unleugbar, dass der demokratische Prozess der Moderne nivellierend wirkt, denn das ist sein eigentlicher und guter Zweck. Die Demokratie wünscht zu verhindern, dass singuläre Gestalten wie Napoleon das Ruder der Geschichte ergreifen und ihren singulären Utopien Millionen opfern. Henri Beyle war ein Verehrer Napoleons, und er schrieb seine Biographie. Der singuläre Künstler spürte die Verwandtschaft zum singulären Politiker. Und er spürte auch, dass die wohltuende Nivellierung der politischen Welt die künstlerische nicht unberührt lässt. Er spürte, in der heraufziehenden bürgerlichen und das heißt demokratischen Gesellschaft wird die Mehrheit dem Freund des Singulären mitteilen, was sie zu halten gedenkt von den Differenzen und Nuancen der Künstler, von ihrer Verfeinerung, Aufnahmefähigkeit, Empfindlichkeit: nicht viel. Wo die traditionellen gesellschaftlichen Hierarchien verlorengehen, verliert auch der Künstler viel, zumindest jenen Ort, den er über Jahrhunderte innegehabt hat. Das Spiel von Geist, Kunst und Macht, wie es Beyle bei seinen Aufenthalten in der Villa Sommariva mitspielte, ist zu Ende; mächtig werden nun die Herren de Rênal und Valenod, und diese haben zwar erhebliches Interesse an Macht, aber durchaus keines an Geist und Kunst. Was sie vom Künstler verlangen, ist ein Quadratmeter pikante Mythologie für den Salon und äußerstenfalls eine halbe Stunde unkonzentrierte und unterhaltsame Lektüre vor dem Schlafengehen. Die Herrschaft des Bürgertums bedeutet für den Künstler die Herrschaft des Apothekers Homais und des Notargehilfen Léon Dupuis, und was diese von der Kunst erwarten, steht in dem einschlägigen Roman.

In der Tat, wo die traditionellen gesellschaftlichen Hierarchien verlorengehen, verliert der Künstler zumindest jenen Ort, den er über Jahrhunderte innegehabt hat, und die Suche nach einem neuen wird zum zentralen Problem für Autor und Autorschaft des neunzehnten Jahrhunderts, zu einem Problem auch des Kunstwerks selbst. Die Frage nach der Möglichkeit künstlerischer Produktion überhaupt wird nicht nur eine biographische Konstante im Leben vieler Schriftsteller, sie durchdringt auch alle ihre Werke.

1857

Подняться наверх