Читать книгу G20. Verkehrsprobleme in einer Geisterstadt - Komitee 17 - Страница 11
FAHRPLANÄNDERUNG AUSNAHMEZUSTAND
ОглавлениеAuch die Linien der öffentlichen Verkehrsbetriebe und Zugverbindungen zu den nächsten Städten waren eingeschränkt oder eingestellt, desgleichen ohne verlässliche Erklärungen über das, was in absehbarer Zeit noch funktionieren würde. Ignoranz gehört in diesen Betrieben mittlerweile zur Grundlage einer Verlautbarung. Da die Personaldecke so knapp bemessen ist, dass Unregelmäßigkeiten unvermeidbar sind – die außerdem nur in den vorfabrizierten Formeln für Computerstimme weitergegeben werden können –, lässt man die Reisenden lieber im Unklaren, beschallt sie mit Tautologischem von der Art: aufgrund einer Störung kommt es zu einer Störung. Wenn dann der Ernstfall eintritt und höhere Gewalt an die Stelle systembedingter Anfälligkeit tritt, wird die Gelegenheit umso mehr ausgekostet und wortlos an die Kunden weitergereicht, dass es Informationen über die Gründe und Verständnis nicht gibt. Kein Wunder, dass bei Befehlsempfängern in komplexen Organisationsstrukturen eine große Bereitschaft besteht, den Ausnahmezustand anzunehmen und mit allen Konsequenzen zu tragen.
Die »Ausnahme« favorisiert und legitimiert bei den Beteiligten den Wunsch, die Ursache für innere hausgemachte Schwierigkeiten »nach außen« zu projizieren. Da Fehler unter den Bedingungen der Verknappung unvermeidbar werden, sind die notorisch überstrapazierten Kräfte nicht nur extrem motiviert, ihre Notlage mit »Unansprechbarkeit« gegenüber den betroffenen Kunden zu schützen. Alle Fragen und Forderungen, die »von außen« an sie herantreten, stellen eine zusätzliche Belastung und Gefährdung dar. Im nächsten Schritt werden die »Außenstehenden« dann auch schon als die »Anderen« wahrgenommen und zur Ursache aller Probleme gemacht, während nach innen »Korpsgeist« gefordert ist und gefördert wird, zum Schutz des Systems, zur Sicherung seiner Stabilität.
Die Verschärfung des Grenznutzens, der in den Servicebereichen (der »unproduktiven Arbeit«) die Zahl der Beschäftigten auf ein Minimum reduziert, produziert unausweichlich seine eigene Überforderung, die wiederum – mitsamt ihrer Erklärungsnot – zur Entlastung durch den Ausnahmezustand drängt. Die Verselbstständigung bürokratischer Apparate, ihre Ablösung von gesellschaftlicher Kontrolle, ist die drohende Folge, und sie schafft ein Reservoir freiwilliger Helfer. Im Rahmen des Polizeiapparats erlangt diese Gefahr allerdings eine ganz andere Qualität, denn Polizisten sind Bürokraten mit Waffen. Der G20 war als eine trockene Notstandsübung ihrer Möglichkeiten ausgebaut; wir konnten erkennen, mit welchen psycho-ökonomischen Kräften ein freigeschalteter Polizeistaat funktionieren wird – und mit welchen Zielen die Eigendynamik dieser Logik korrespondiert: Für die Entlastung einer Polizeiführung, die ihre Einheiten auf grob berechneten Linien einsetzt und daher kaum noch sicherstellen kann, dass sie »angemessen« oder gegen die »Richtigen« vorgeht, ist die Konsequenz eindeutig. Die pure Behauptung ersetzt den Nachweis, frei nach dem Motto: Wer getroffen wird, ist allein deshalb schon der Richtige. Im Grunde kann es jeden treffen, und nur wer zu Hause bleibt, darf sich sicher fühlen – so das schöne Versprechen für die, »die nichts zu verbergen haben«; Ausgangssperre selbstverhängt.
Die Polizei ließ es gern jeden spüren, egal wie viele »Beteiligte oder Unbeteiligte« sie damit erzürnte: Ohne Erklärung wurden alle Gewissheiten im Umgang mit den Bewohnern der Stadt außer Kraft gesetzt, Willkür und Präpotenz nahezu demonstrativ zur Schau gestellt, ein wir können alles wann immer wir wollen und sind niemandem Rechenschaft schuldig. Für die Konsequenz ihres Notstandes lieferten die Tage in Hamburg ein anschauliches Bild: die Geisterstadt, in der die Polizei ohne Bürger ihre Kräfte verschob. Der Polizeistaat hatte das Ideal seines Spielfeldes gefunden. Nachts mit Blaulicht, tags unter Sirenen – ständig wurden lange Kolonnen durch das freigesperrte Straßennetz dirigiert. Und genau damit kam die Kommandoebene offenbar an eine Grenze; sie verschob ihre Figuren fast nur noch in dieser unhandlichen Dimension: dreißig Wannen hierhin, dreißig Wannen dorthin.