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Johann Sebastian Bachs Choralkantatenzyklus 1724/25
ОглавлениеMit dem ersten Sonntag nach Trinitatis am 30. Mai 1723 hatte Bach seinen Dienst als Thomaskantor in Leipzig angetreten. Nun lieferte er Sonntag für Sonntag und an den diversen zusätzlichen Feiertagen eine Kantate als »Music«. Da beide Leipziger Hauptkirchen zu bedienen waren, gab es eine ausgeklügelte Regelung: Diese Musik zum Evangelium (über das auch gepredigt wurde) wechselte im vormittäglichen Hauptgottesdienst von Sonntag zu Sonntag zwischen Nikolaikirche und Thomaskirche, bei den Hochfesten hatte die Nikolaikirche als Sitz des Superintendenten Vorrang, sodass beim Christfest am 25.12. in St. Nikolai die Kantate erklang, am 26.12. in St. Thomas und am 27.12. wieder in St. Nikolai. Zum Ausgleich wurde an allen Festtagen (auch Neujahr, Epiphanias, Marienfeste etc.) die Kantate nachmittags im Vespergottesdienst der anderen Kirche nochmals geboten. (In diesem Gottesdienst gab es kein Abendmahl, gepredigt wurde zur Epistellesung.) Nur am dritten Feiertag, den es auch an Ostern und Pfingsten gab, erfolgte nachmittags keine Aufführung mehr.
In seinem ersten Leipziger Amtsjahr bemühte sich Bach, neben ambitionierten Neukompositionen möglichst viele seiner bereits vorliegenden Kantaten einzubringen, neben in Weimar seit 1714 in vierwöchigem Turnus komponierten Werken (z. T. in Erweiterungen) auch Sätze aus Köthener Kantaten, die der Umtextierung bedurften, da sie zur Fürstenhuldigung oder zum Neujahr – Staatsakt konzipiert worden waren. Entsprechend vielfältig ist das Spektrum der bis Trinitatis 1724 in Leipzig aufgeführten Kantaten. Wen Bach bei den Neukompositionen, Erweiterungen und Parodierungen als Partner für die Verfertigung der Kantatentexte hatte, ist ungeklärt. Die von Bach zum Druck gebrachten Texthefte mit jeweils fünf bis sieben Kantatenlibretti enthalten keine Autorenangaben. Die Librettisten lassen sich nur über anderweitige, namentlich gekennzeichnete Publikationen derselben Texte verifizieren, wie das etwa bei den Weimarer Libretti der Fall ist (S. Franck).
Mit Beginn seines zweiten Amtsjahres am 1. Trinitatissonntag 1724 startete Bach ein ambitioniertes Projekt, das in dieser Dimension einzigartig bleiben sollte. Jetzt entstand Sonntag für Sonntag eine neue Kantate nach bestimmtem Muster. Man spricht vom Choralkantatenjahrgang, da die Grundlage für das Libretto ein »Choral« bildet – heute spricht man vom Kirchenlied. Die Rahmenstrophen des Liedes werden mit Text und Melodie stets beibehalten, wobei Bach den Eingangssatz als groß angelegte Choralbearbeitung gestaltet und ans Ende in der Regel einen schlichten vierstimmigen Choralsatz stellt. Bei den Binnensätzen, die der modernen Kantatenform gemäß als Rezitative und Arien gestaltet sind, liegen meistens Lied-Umdichtungen vor, die sprachlich und inhaltlich Akzente setzen, weitere biblische Verweise integrieren und speziell Motive aus dem Evangelium des Tages aufgreifen. Dabei können einzelne Liedverse oder sprachliche Wendungen zitierend integriert werden. Ein spezielles, zeitweise bei Rezitativen praktiziertes Verfahren ist das der Tropierung, wo zu den originalen Liedstrophen zeilen- oder blockweise Ergänzungen des Librettisten hinzu treten. Hier ist Bach musikalisch gefordert, die Liedmelodie mit einzuflechten, während sonst bei Rezitativen und Arien kein Melodiebezug erforderlich ist. Gelegentlich kann eine Binnenstrophe auch unkommentiert als »Choral« stehenbleiben, dann ist eine Choralbearbeitung mit »Cantus firmus« fällig.
Ohne enge Zusammenarbeit zwischen Librettist und Komponist ist ein solches Projekt nicht denkbar. Viele Entscheidungen bei der Textgrundlage haben direkte musikalische Folgen, sofern sie die Liedmelodie ins Spiel bringen. Bereits die Liedwahl für die jeweilige Kantate wird in Absprache erfolgt sein, da die »Choräle« ja wesentlich durch ihre Melodie geprägt sind. Besondere Herausforderung war für Bach, im stets ambitioniert ausgearbeiteten Eingangssatz die moderne Form des Konzertsatzes mit der an einen »Cantus firmus« gebundenen Choralbearbeitung zu verknüpfen. Dass Bach auch inhaltliche Interessen an bestimmten Liedern eingebracht hat, ist wahrscheinlich.
Versucht man, bei der Liedauswahl hymnologische Tendenzen zu eruieren, lässt sich klar benennen: Martin Luther als Liedautor hat absoluten Vorrang. Acht der zunächst 40 Kantaten, also ein Fünftel, haben Lutherlieder zur Grundlage. Schon an Position 2 und 3 finden sich Lutherlieder – zum Evangelium des ersten Sonntags gab es einfach keines, sodass in beiden Kirchen programmatisch Luther am Anfang steht. Auch die festlich herausgehobene Zeit, Advent und Christfest, steht im Zeichen Luthers (1. Advent, Christfest I und II). Hier ist zudem von Bedeutung, dass alle drei Lieder Übertragungen älterer Vorlagen sind und so die ökumenische Dimension der gemeinsamen kirchlichen Singtradition verkörpern. Zum Ende des Zyklus gibt es an Mariae Reinigung und Sexagesimae nochmals eine Luther-Konzentration, die Passionsaufführung am Karfreitag 1725 endet mit Luthers Christe, du Lamm Gottes und an Ostern erklingt noch (zum Abendmahl) eine frühere Liedtextvertonung von Luthers Christ lag in Todesbanden.
Diesseits von Luther gibt es keine Schwerpunkte. Die anderen Liederdichter sind überwiegend nur einmal vertreten. Nur der Dichterfürst Johann Rist ist mit zwei Liedern dabei (1./14. Sonntag nach Trinitatis) und eher zufällig Bartholomäus Ringwaldt (10./11. Sonntag nach Trinitatis), da Nimm von uns Herr damals fälschlich als Ringwaldt-Lied galt. Anders als in der Literatur oft zu lesen spiegelt die Liedauswahl nicht den Kanon der altreformatorischen Lieder, wie er sich vom Babstschen Gesangbuch 1545 her ausprägt hatte. Das Spektrum reicht bis zu »Neuen Liedern«, sogar mit pietistischem Hintergrund (22./23. Sonntag nach Trinitatis, Epiphanias). Interessant ist zudem um Neujahr die Konzentration von Dreiertakt-Melodien, wie sie der lutherischen Orthodoxie verdächtig waren. So ist auch melodisch das ganze Spektrum präsent von altem Hymnus (Nun komm der Heiden Heiland) über phrygische Luthermelodie (Aus tiefer Not) bis zu modern gefälliger Durmelodie (Ich freue mich in dir) und eben Dreiertakt (Liebster Immanuel). Das Choralkantatenprojekt widmet sich dem Kirchenlied also geradezu enzyklopädisch: Luther – auf der Basis seiner vorreformatorischen Grundlagen und die vielfältigen Folgen bis zur Gegenwart. Während das ab 1725 in Leipzig maßgebliche, neue Dreßdnische Gesangbuch mit 102 Paul Gerhardt-Liedern einen klaren neuen Schwerpunkt setzt, ist von solcher Gewichtung bei diesem Zyklus nichts zu erkennen.
Vermutlich bildete das 200-Jahr-Jubiläum des evangelischen Gesangbuchs im Jahr 1724 den für die Öffentlichkeit plausiblen Kontext für dieses Projekt, das ästhetisch eigentlich gegen den Zeittrend stand, der bei Kantaten auf die aus der Oper stammenden modernen Sprach- und Musikformen setzte (Rezitativ/Arie). Mit den ersten Gesangbüchern des Jahres 1524, in denen über 20 Lutherlieder dominierten, war die Flut der protestantischen Lieddichtung in Gang gekommen. Reformationsjubiläen (z. B. 1717) hatten in Sachsen besondere identitätsstiftende Relevanz, da die Herrscherfamilie um der polnischen Königskrone willen 1697 zum Katholizismus konvertiert war. Zum Jubiläum 200 Jahre Einführung der Reformation in Leipzig 1739 sollte Bach dann Clavierübung III. Theil vorlegen, höchst komplexe Choralbearbeitungen für Orgel, in der Liedauswahl an Luthers Katechismus orientiert.
Auffallend ist, dass bei vielen Liedern des Choralkantatenzyklus die zeitgenössischen Gesangbücher eine Verwendung am hier bestimmten Sonntag nicht vorsehen in ihren Liedregistern. Von 40 Liedern ist bei 17, also fast der Hälfte, »eigenwillige Zuordnung« zu konstatieren. Die Liedauswahl setzt also inhaltlich eigene Akzente.
Die Unvollständigkeit des »Jahrgangs« hat viele Bachforscher beschäftigt. Statt nach einem vollen Jahr, also mit dem Trinitatissonntag, endet mit Mariae Verkündigung am 25. März Bachs regelmäßige Choralkantatenproduktion. Fünf Tage später am Karfreitag bringt er noch eine Variante der Johannes-Passion zur Aufführung, die mit choralbezogenen Rahmenchören deutlich den Bezug zum Zyklus herstellt. An Ostern erklingt noch die frühe Mühlhäuser Vertonung von Luthers großem Ostergesang, aber nicht mehr als »Hauptmusic«. Die Kantaten ab jetzt haben wieder zeittypische Libretti unterschiedlicher Herkunft als Textgrundlage.
Da spätere Choralkantaten oft reine Liedtextvertonungen sind, wurde vermutet, Bach sei der auf die Umdichtungen spezialisierte Librettist abhanden gekommen. So wurde in den Leipziger Sterberegistern geforscht und mit Andreas Stübel, ehemaliger Thomasschul-Konrektor, ein »passender« Sterbefall ausfindig gemacht (H. J. Schulze). Dieser Theologe starb am 31. Januar 1725 nach nur wenigen Tagen Krankheit. Er könnte demnach die Libretti für die noch folgenden fünf Kantaten vor seiner Erkrankung vorgelegt haben, zumal sie in dieser Größenordnung als Textbuch vorab gedruckt wurden. Da er dann nicht mehr zur Verfügung stand, musste Bach für die Kantaten ab Ostern sich anders orientieren. Gegen diese Hypothese spricht entschieden, dass Stübel bereits 1697 seines Amtes enthoben worden war wegen abseitiger Ansichten über das Weltende, die er auch in späteren Jahren weiter äußerte. Zeitereignisse deutete er apokalyptisch, identifizierte etwa den in Sachsen einbrechenden Schwedenkönig als »König vom Aufgang der Sonne« (Offenbarung 16,12). Eine untadelige Reputation erwarb er sich vielmehr durch altphilologische Editionen, Schulbücher und Lexika. Die theologische Qualität, die untadelige Orthodoxie und auch der seelsorgerliche Predigtcharakter der Choralkantatenlibretti stehen dem deutlich entgegen.
Dass dieser Zyklus gezielt auf 40 Kantaten angelegt worden sein könnte und gar keinen Torso darstellt, ist bisher nicht erwogen worden, lässt sich aber durchaus plausibel machen. Die letzte neue Choralkantate erklang am 25. März 1725, vier Tage zuvor beging Bach seinen 40. Geburtstag. So könnte dies ein dezidiertes »Projekt 40« zur Vollendung des 40. Lebensjahres sein! Da für Bach biblische Bilder und Symbole essentiell waren, wird ihm die biblische Bedeutung der 40 unmittelbar vor Augen gestanden haben: 40 Jahre Israel in der Wüste, 40 Tage Versuchung Jesu durch den Teufel, daher 40 Tage Fastenzeit vor Ostern, in Leipzig als Bußzeit profiliert durch das Schweigen der Kantatenmusik. Die bis zu dieser Bußzeit reichenden 40 Choralkantaten wären demgemäß als Bußakt zu deuten, mit welchem Bach zu seinem 40. Geburtstag als Sünder vor Gott tritt und um Gnade bittet, der er im Glauben durchaus gewiss sein kann. Der persönliche Ansatz von Bachs Kantatenschaffen erhellt ja bereits daraus, dass er den Zyklus nicht wie sonst bei Barockkomponisten üblich, mit dem Kirchenjahr am 1. Advent beginnt, sondern mit seinem eigenen Leipziger »Jahrgang«–Beginn am ersten Trinitatissonntag.
Die inhaltlichen Akzentsetzungen des Zyklus korrelieren mit der Bußakt – Hypothese. Die Kantatentexte artikulieren in vielen Varianten die Anfechtung der Gläubigen durch ihre eigene Schuld wie durch die Gottwidrigkeit der Welt, um in gut lutherischer Stoßrichtung unablässig und überdeutlich den Trost im Trostwort Jesu als »sola gratia« (»allein aus Gnaden«) zuzusprechen und Geduld als dem entsprechende christliche Tugend anzumahnen. Viele der Kantaten repräsentieren lutherische Bußpraxis in Sündenerkenntnis, Schuldbekenntnis, Verkündigung des Heils allein in Christus, Bitte um Gnade. Das zeigen exemplarisch die vier ersten Kantaten, bei denen Bach im Eingangssatz den Cantus firmus vom Sopran über Alt und Tenor in den Bass wandern lässt und sie so musikalisch markiert als Eröffnungsportal zum Zyklus.
Kantate 1 (BWV 20) – schonungslose Gerichtspredigt, Entlarvung des Menschen als Sünder.
Kantate 2 (BWV 2) – Bitte der Gemeinde um Erbarmen Gottes in der Anfechtung durch falsche Lehre, Mahnung zur Geduld in Kreuz und Not.
Kantate 3 (BWV 7) – Taufe als Thema des Johannisfests mit der Pointe: Menschen, glaubt doch dieser Gnade, dass ihr nicht in Sünden sterbt.
Kantate 4 (BWV 135) – Lied zum ersten Bußpsalm mit der Pointe Tröste mir, Jesu, mein Gemüte respektive mein Jesus tröstet mich (erste Kantate mit liturgisch »eigenwilliger Zuordnung«).
In der zweiten Hälfte der Trinitatiszeit häuft sich die ungewöhnliche Liedauswahl gerade mit weiteren Bußliedern (13./14./17. Sonntag nach Trinitatis), aber auch mit Liedern, die dezidiert den (einzigen) Trost im Glauben bekräftigen helfen: Ach lieben Christen, seid getrost (BWV 114, 17. Sonntag nach Trinitatis) schon in der Kopfzeile; mein treuer Heiland tröstet mich (BWV 5, 19. Sonntag nach Trinitatis, Satz 4); Gott ist mein Freund (BWV 135, 23. Sonntag nach Trinitatis, Satz 2) usw.
In Bachs musikalischer Umsetzung wird Heilswidriges stets mit drastischen musikalischen Mitteln gebrandmarkt (Harmonik, böse Sprünge in der Stimmführung), umso deutlicher aber auch der Trost musikalisch bereits erfahrbar, der in den Worten ja erst erbeten wird. Bachs Musik praktiziert darin Luthers »fröhliche Buße«, erschließt unter den Bedingungen des gottwidrigen Lebens »Gnaden=Gegenwart«, wie Bach es in einer Randglosse zu seiner Calov-Bibel benannt hat.
Für ein »Projekt 40« signifikant wäre auch, dass die zweite Kantate BWV 2 (das erste Lutherlied und die erste Kantate in der Thomaskirche) mit dem großen Kyrie-artigen Eingangssatz im Stile antico (typisch für Bußgesänge) genau 400 Takte hat. Dem korrespondiert mit 240 = 6x40 Takten am Zyklusende die Estomihi-Kantate BWV 127 (Sonntag vor der Passionszeit). Deren Eingangssatz spielt als originär Bachsche Formidee Christe, du Lamm Gottes, … erbarm dich unser ein. Am Karfreitag wird dann die Passionsaufführung mit dem expliziten … erbarm dich unser enden. Zudem ist die Estomihi-Kantate mit dieser Bitte um Erbarmen die letzte vor Bachs Vollendung seines 40. Lebensjahres. Den Gegenpol der klangprächtigsten Kantate mit ausladender Trompetteria stellt die Neujahrskantate BWV 41 mit 560 = 14x40 Takten. Anlass des Lobpreises ist hier, dass wir haben erlebet/die neu fröhliche Zeit, die voller Gnaden schwebet/und ewger Seligkeit. Das »neue Jahr« ist also als Gnadenzeit qualifiziert. Die Kantate am Tag zuvor endete mit Frisch auf! Itzt ist es Singens Zeit, das Jesulein wendt alles Leid. Man kann dies als spezielle Begründung für dieses Kantaten-Jahr zu Kirchenliedern lesen. Die Singenszeit des Gnadenjahres wird realisiert in 40 Liedkantaten, welche den christlichen Glauben in der Polarität des »simul justus et peccator« (Luther: zugleich gerecht wie Sünder) profilieren.
Wie alle barocke Predigt und Erbauungsliteratur letztlich der »Ars moriendi« dient, der Bereitung zu einem »seligen Sterben«, so kulminiert auch dieser Kantatenzyklus dahingehend. Namentlich im Umfeld des 2. Februar mit dem »Nunc dimittis« des greisen Simeon (und Luthers Lied dazu) als Zentraltext ist das getroste Sterben im Glauben fokussiert. Ungewöhnlich ist die Wahl des Sterbelieds Herr Jesu Christ, wahr Mensch und Gott für Estomihi, und Bach zaubert da bei der Arie Die Seele ruht in Jesu Händen … ich bin zum Sterben unerschrocken eine wahrhaft »zum Sterben schöne« Musik, welche die Hingabe des eigenen Lebens leicht macht. Bemerkenswert ist auch die (einzige) Paul Gerhardt-Liedkantate am Sonntag vor dem 2. Februar. Gegenüber sonst sechs oder sieben Sätzen hat sie neun und weist mit 620 die höchste Gesamttaktzahl auf. Schritt für Schritt erschließt sie, wie man zur Hingabe des Lebens kommen kann, und endet mit der vom Librettisten eingetragenen, expliziten Sterbebitte Amen: Vater, nimm mich an. Weitere Amen-Pointen zeigen die letzten Kantaten (siehe die Einzelbesprechung) bis zum finalen Amen der Passion am Karfreitag, ein deutliches »Finis« zum Choralkantatenprojekt. Biblische Referenz dazu ist das letzte Wort der Heiligen Schrift, Offenbarung 22,20: »Amen, ja, komm, Herr Jesu!«
Einen weiteren Erklärungsmodus für die Einheit dieses Zyklus bieten Zahlenproportionen, welche bei Bachs Instrumentalzyklen ebenfalls eine große Rolle spielen. Auf der evidenten Ebene der Taktzahlen ergibt sich: Die 25 Kantaten bis zum Ende des Kirchenjahres kommen auf 154(11x14)x61 Takte, die 15 Kantaten im neuen Kirchenjahr auf 104(8x13)x61 Takte. Damit zeigt sich die Zahl 61 als essentieller Teiler. Zur Deutung drängt sich Jesaja 61 auf. Der Prophet spricht hier zu Beginn von seiner Sendung »den Elenden zu predigen/die zubrochen Hertzen zu verbinden/zu predigen den Gefangenen eine erledigung/den Gebundenen eine öffenung. Zu predigen ein gnedigs Jar des HERRN/vnd einen tag der rache vnsers Gottes/Zu trösten alle Trawrigen« (Luther 1545). Dieses alttestamentliche Trostwort hat höchste christologische Relevanz durch die Zitation in Lukas 4,18 f., wo es Jesus auf sich selbst bezieht: »Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren« (V. 21). Das »gnädige Jahr des Herrn« wäre damit zentrale Metapher für diesen »Jahrgang« als Werkkomplex, in welchem Vergewisserung der Gnade in Christus geschieht und »Erfüllung vor euren Ohren« als musikalisches Ereignis sich erschließt. Ordnet man die Teiler der Takt-Gesamtsumme um, ergibt sich 366(6x61)x43, ersteres Zahl der Tage eines »Schaltjahres« (z. B. 1724), durch seinen Tagesüberschuss allgemein symbolfähig für das »Gnadenjahr«. Und 43 wäre da als Zahlenäquivalent von GNADEN in Anspruch zu nehmen.