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Die Werküberlieferung und Bachs spätere Ergänzungen zum Choralkantatenzyklus
ОглавлениеDie Choralkantaten sind als »Jahrgang« überliefert in einem Konvolut der Aufführungsstimmen, das bei der Erbteilung 1750 an Bachs Witwe Anna Magdalene ging, die es alsbald an die Thomasschule weitergab als Kompensation für städtische Unterstützungsleistungen. Für Leipzig bedeuteten diese Stimmen über alle kommenden Zeiten einen Fokus der Bach-Erinnerung. Sie ermöglichten frühe Wiederaufführungen in der Vakanz nach dem Tod des Bach-Nachfolgers Harrer bereits 1755, waren im 19. Jahrhundert für die ersten Bach-Handschriftenforscher gleichsam ein Mekka – Franz Hauser z. B. erstellte daraus Partituren, die er seinem Freund Felix Mendelssohn Bartholdy weitergab –, sie bildeten eine solide Basis für die erste Bach-Gesamtausgabe ab 1850 und überstanden schließlich unversehrt alle äußeren Widrigkeiten im 20. Jahrhundert.
Die Kompositionspartituren zu diesem »Jahrgang« erbte Bachs Sohn Friedemann, der als Kantor an der Marktkirche in Halle solche Musik gebrauchen konnte. Bekanntlich musste er später seine »Bachiana« zu Geld machen, so dass die Partituren in verschiedene Hände wanderten und sehr unterschiedliche Wege einschlugen. Erstaunlich viele sind erhalten geblieben und heute weltweit verstreut, vieles in öffentlichen Bibliotheken, einiges aber auch in Privatbesitz.
Das Leipziger Stimmenkonvolut enthält außer den 40 Werken des Zyklus von 1724/25 zehn weitere Kantaten. Neu komponiert als Choralkantaten wurden zunächst relativ zeitnah die beiden mit Trompeten bestückten Lobpreis-Musiken BWV 137 und BWV 129, letztere zu Trinitatis eine Schlussmarkierung des Zyklus als »Jahrgang« im Wortsinn. Beide sind als reine Liedtextvertonungen konzipiert. Erst ab 1731 entstanden weitere Ergänzungen zu Sonntagen im Kirchenjahr, die bisher nicht bedient waren, BWV 112 und BWV 177 als Liedtextkantaten, BWV 140 und BWV 9 mit Textergänzungen, bzw. -umdichtungen eines wieder nicht bekannten Librettisten. Wahrscheinlich im Zuge dieses »Lückenfüllens« hat Bach auch Kantaten hier eingeordnet, die in anderen Zusammenhängen komponiert wurden und teilweise keine Choralkantaten im eigentlichen Sinn sind: die gleich Ostern 1725 als Abendmahlsmusik aufgeführte Lutherliedkantate BWV 4 aus früheren Zeiten, die Pfingstmontagkantate von 1725 mit einer Liedbearbeitung nur im Eingangssatz und die Dialogkantate BWV 58 von 1727, die mit einem Choral jeweils in den Rahmensätzen arbeitet. Die Himmelfahrtskantate von 1725 hat auch eine Choralbearbeitung im Eingangssatz, ist aber nur über die Partitur auf anderem Wege überliefert. Die letzte Ergänzung stellt die zum 30. Januar 1735 komponierte Kantate BWV 14 dar, so dass gut 10 Jahre Kompositionsgeschichte in diesem Kantatenkonvolut versammelt sind. Ein vollständiger »Jahrgang« ist es nicht geworden. Leerstellen bleiben einige Sonntage in der Osterzeit und die jeweils dreifachen Oster- und Pfingstfesttage, wozu jeweils nur eine Choralkantate vorliegt.
Auf der Taktzahlenebene ist zu konstatieren, dass diese ergänzten Kantaten ohne die nicht neu komponierte Osterkantate BWV 4 und ohne die unechten Choralkantaten zu Himmelfahrt und Pfingsten 1725 auf 70x61 Takte kommen, also wieder auf das »Gnadenjahr« bezogen sind. Insgesamt sind es dann 328x61 = 8x41x61 Takte. Mit 41, Äquivalent von JSBACH, kommt so seine persönliche »Gnadenzahl« ins Spiel, die als Umkehrung der BACH-14 die »Umkehr« des Sünders zum Gerechtfertigten markiert.
Bachs Ein feste Burg-Kantate BWV 80 zu »dem Lutherlied«, schon früh im 19. Jahrhundert im Zuge der nationalen Lutherbegeisterung gedruckt und verbreitet, scheint überlieferungsmäßig dagegen nicht mit den Choralkantaten in Verbindung gestanden zu haben. Hier hat W. Friedemann Bach mit Bearbeitungen früh für ein Weiterleben gesorgt. Er hatte aber offenbar die Stimmen als Grundlage und nicht die Partitur, weshalb er die Musik nicht mit den Choralkantaten geerbt haben kann.
Dank des Internetportals www.bach-digital.de kann heute alle Welt sich ein Bild machen von den jeweils verfügbaren Quellen. Unter der Signatur D-LEb Thomana sind sämtliche Leipziger Aufführungsstimmen einzusehen, von den Partituren die in deutschen öffentlichen Bibliotheken aufbewahrten. Unter editorischen Gesichtspunkten haben die Stimmen einen Mehrwert, da sie in einem letzten Arbeitsgang von Bach selber aufführungspraktisch bezeichnet wurden. Zudem ginge manche Stimmenzuweisung aus der Partitur gar nicht hervor, etwa das Mitspielen des Cantus firmus im Eingangssatz durch ein Blasinstrument. Für den Werkcharakter ist allerdings die Partitur maßgeblich, speziell für das Erfassen der damit verbundenen Zahlenwerte. Z. B. notierte Bach die Choralsätze stets auf fünf Systemen, den Continuo separat, auch wenn er mit dem Vokalbass identisch ist. Cantus firmus-Instrumente im Eingangssatz wurden dagegen nicht separat notiert und sind so auch nicht Bestandteil des Werks. Manchmal ist Bachs Orthographie der Worte (im Werktitel wie bei der Textunterlegung) erhellend, was in den modernen »Urtext«-Ausgaben nicht kenntlich wird (z. B. »Xst« statt Christ, »Hertz«, »Gedult«). Und die Schlusssignatur »SDG«, »Fine SDG« oder »Fine SDGl« in ihrer jeweiligen Einzeichnung zu betrachten, erschließt Wesentliches von Bachs innerer Haltung beim Komponieren.