Читать книгу Erinnerungen eines polnischen Zwangsarbeiters - Konrad Szumiński - Страница 9
ОглавлениеI. Flucht
„Konrad – Du hast hier einen Brief vom Bruder“ hörte ich einen der Diensthabenden unserer Holzfällerbrigade rufen, in der ich, wie viele andere mit ähnlichem Schicksal, als polnischer Zwangsarbeiter im Forsthaus Zwenzow arbeitete. Die Holzbaracke stand am Rand eines großen Mischwaldes und am Ufer eines kleinen Sees, der zur Mecklenburger Seenplatte gehörte.
Schnell versteckte ich den Brief in meiner Jackentasche und ging etwas abseits zum Wasser, um dort in Ruhe die lang ersehnte Nachricht Adams lesen zu können.
Mit dem geübten Blick des Philatelisten begutachtete ich den Umschlag. Der Poststempel auf der Briefmarke verriet mir, dass mein Bruder ihn am 17.10.1944 in Lugau (Erzgebirge) aufgegeben hatte. Meine Bewunderung galt der Deutschen Reichspost, die trotz des Krieges in der Lage war, den Brief binnen zweier Tage aus Sachsen in das kleine Forsthaus Zwenzow in Mecklenburg zu befördern.
Vorsichtig öffnete ich den Umschlag. Langsam und mit Herzklopfen nahm ich die Postkarte heraus.
Auf der ersten Seite stand:
Bitte antworte sofort!!!
Du hattest so ein Glück, dass Du damals gefahren bist. Vielleicht würdest Du sonst jetzt auch nicht mehr am Leben sein.
Erstaunt und überrascht las ich von irgendwelchem Glück. ‚Was faselt mir dieser Adam da? Welches Glück? Warum sollte es gut sein, dass ich verschwunden wäre?‘ Heftig drehte ich die Karte um, in der Hoffnung, Antwort auf meine Fragen zu bekommen.
Lieber Bruder!
Ich sende Dir eine für uns beide schlechte Nachricht von unserer Mutti. Sie ist uns als einzige geblieben. Du weißt, welche Verantwortung wir nun zu tragen haben. Du verstehst! Mehr will ich Dir nicht schreiben, auch nicht von mir. Ich lerne, um nach dem Krieg einen Beruf zu haben. Mädchen interessieren mich da momentan nicht. Wichtig ist jetzt, sich um Mutti zu sorgen. Der Vati und Julka liegen unter den Trümmern. Bete bitte mindestens ein „Ave Maria“ für ihre Seelen.
Gruß Adam
„Oh mein Gott“ flüsterte ich entsetzt. „Wie konnte das passieren?“ Was ist mit Mutter? Wo ist sie jetzt?“ Meine Gedanken überschlugen sich. ‚Lieber Gott! Das ist doch unmöglich. Wie starben sie? Und was ist mit ihren Körpern geschehen? Vater schrieb doch noch am 20. Juli 1944, dass unser zweiter Feind in diesem Krieg kurz vor Warschau war und man die sich nähernde Front bereits hörte. Heute ist der 19. Oktober und somit sind seitdem nicht einmal drei Monate vergangen. Vater schrieb so voller Optimismus vom Besuch bei Familie Sztuder in Radgoszcz. Und über die abenteuerliche Rückfahrt, weil die Deutschen in Radomsko alle Polen aus dem Zug aussteigen ließen. Ganz genau konnten sie damals die Durchsuchungen beobachten. Durch seine Zeilen erfuhr ich auch, dass es in Warschau immer mehr Soldaten gebe und wenn es so weitergehen würde, dann könnten sie in ca. 10 bis 14 Tagen bereits hinter der Grenze sein. Er bat uns, im Fall der Fälle in Kontakt mit Frania und Bronia sowie den anderen Tanten aus Mikołów und mit den Sztuders zu bleiben.‘
Noch immer stand ich regungslos am Ufer und bemühte mich, zu begreifen, dass er und Julka, die geliebte Schwester, tatsächlich tot sein sollten. Oh wie sehr wünschte ich den Besatzern das Allerschlimmste. Was für ein grausamer und sinnloser Krieg! Innerlich aufgewühlt steckte ich die Postkarte wieder in den Umschlag und kehrte langsam zur Baracke zurück. Noch bevor ich sie erreichte, kam mir der Gedanke, dass es das Beste sein würde, zu Adam zu fahren und ihn zu überreden, gemeinsam aus Deutschland zu fliehen. Nur so wäre es möglich, sich um unsere einsame Mutter zu kümmern.
In der Baracke bat ich daher leise Herrn Julek, einen Amateurastronomen, um ein Gespräch. Ich informierte ihn über den Tod zweier mir nahestehender Personen und ignorierte seine Skepsis hinsichtlich meiner Fluchtpläne. Trotz des Vertrauens, was ich zu ihm hatte, verriet ich ihm jedoch nicht den Ort, zu dem ich fliehen wollte. Als er merkte, wie entschlossen ich war und mich nicht umstimmen ließ, riet er mir, nicht die Strecke über den „Warthegau“ nach Großpolen zu nehmen. Dort wäre es sehr gefährlich für mich, nicht aufzufallen. Noch ein letztes Mal bat er mich darum, meine Flucht zu überdenken. Doch meine Entscheidung stand fest. Trotzdem musste ich zugeben, dass Herr Julek bestimmt auch etwas recht hatte, zumindest, als er von der Fluchtrichtung sprach. Vor einem Jahr, als ich noch bei der Bäuerin in Rukieten gearbeitet hatte, floh ebenfalls ein Zwangsarbeiter in die Heimat. Heniek Zapała stammte wie ich aus Warschau und saß seine Strafe für eine gewisse Zeit, die mir nicht genau bekannt war, in einem sogenannten „Arbeitserziehungslager“ ab. Acht Monate dauerte es, bis er endlich zu Hause ankam. Ich musste also sehr umsichtig sein und analysierte gründlich alle Möglichkeiten, damit meine Flucht nicht von der deutschen Aufsicht entdeckt werden konnte. Dabei kam ich zu dem Entschluss, den vor mir liegenden Freitag, Samstag und Sonntag zu nutzen. Sollte der Förster einem freien Samstag zustimmen, hätte ich ca. 6 Stunden mehr zur Verfügung. Vorausgesetzt, dass die anderen mich nicht verraten würden, hätte ich mit den vier Stunden, die ich bis zur Reaktion der Forstwirtschaft und Polizei hinzurechnen könnte, insgesamt ca. 68 Stunden Zeit, d. h. fast drei volle Tage. Der Diskretion der Zwangsarbeiter konnte ich mir recht sicher sein, da sie fast kein Deutsch sprachen. Allerdings musste ich bei meiner Planung berücksichtigen, dass ein Fahrkartenkauf für die jeweils erlaubte Strecke von 100 Kilometern nur mit einer besonderen Genehmigung möglich war. Die zusätzlichen Pausen an den unfreiwilligen Haltestellen bedeuteten einen Zeitverlust, den ich leider in Kauf nehmen müsste. Würde also alles so positiv laufen, wie ich es gerade durchgerechnet hatte, käme ich am Montag, dem 23. Oktober 1944, bei Adam in Lugau an.
Nun galt es als nächstes, alle Vorbereitungen so gewissenhaft zu treffen, dass keiner der 35 Holzfäller Verdacht schöpfte. Für meine Reise bereitete ich nur den Anzug vor. Ich bekam ihn von meinen Eltern, als ich noch bei der Familie Metta Vorbeck im Dorf Rukieten auf dem Bauernhof gearbeitet hatte, welcher zwischen der Kreisstadt Güstrow und der kleinen Stadt Schwaan in Richtung Rostock lag. Alle anderen Sachen wollte ich verschenken, denn, wenn man meine Flucht bemerkte, würden sie sofort von den Deutschen konfisziert. Deswegen gab ich Herrn Julek schon am Abend meine Bücher, Bekleidung und diverse andere Sachen. Da er meinte, dass es bei dem momentanen Wetter auffallen würde, wenn ich eine Jacke trug – andere Reisende könnten denken, ich wolle mich weiter als die erlaubten 100 Kilometer entfernen – bekam er auch diese.
Am Freitag, gleich zu Tagesbeginn, bat ich den Förster unter dem Vorwand, in der Nachbarstadt Wesenberg Einkäufe machen zu wollen, um den für mich jetzt so wichtigen freien Samstag. Wie erwartet stimmte er gern zu, da ich ihm oft als Dolmetscher geholfen hatte. Mein Arbeitstag endete wie üblich um 15: 00 Uhr. Vorher hatte ich noch gemeinsam mit den anderen das Mittagessen eingenommen. Nach einem kurzen Gespräch zog ich mich um und erwähnte beiläufig, dass ich noch zur Mühle gehen würde, um dort von mir bekannten Landsleuten etwas Mehl abzuholen. Das Wetter war ganz erträglich, so dass der Fußmarsch von mehreren Kilometern kein Problem sein würde. Um der Gestapo nicht die Arbeit zu erleichtern, vernichtete ich vorher sämtliche Korrespondenz und alle unnötigen Dokumente. Herr Julek begleitete mich noch bis zur Mühle. Dann folgte eine kurze Verabschiedung. Wie immer nannte er mich bei meinem Kosenamen.
„Tschüss Radek und mach´s gut.“
„Auf Wiedersehen Herr Julek.“
Ich kam gut voran. Von der Mühle bis nach Neustrelitz war es nicht mehr weit. Am Bahnhof warteten bereits einige Personen auf den Zug. An den Wänden im Bahnhofsvorraum hingen in großen schwarzen Rahmen die Fahrpläne. Um in Richtung Berlin zu fahren, musste ich mich allerdings noch drei Stunden gedulden. Vorsichtshalber verließ ich den Bahnhof, um die Umgebung zu erkunden. Ich wollte gut über die Örtlichkeiten informiert sein, falls ich in Gefahr kommen würde und sofort flüchten müsste. Erst als es dunkel wurde, ging ich zum Bahnhof zurück und kaufte an der Kasse eine Fahrkarte bis nach Oranienburg, weil diese Entfernung ohne Genehmigung erlaubt war. Die Kassiererin machte mir zum Glück keinerlei Probleme. Zufrieden ging ich in den Warteraum. Allerdings wirkte die schlechte Luft dort nicht gerade einladend. Die meist schlafenden Reisenden waren größtenteils Fremdarbeiter und völlig durchgeschwitzt. Abgesehen davon war deren Gesellschaft für mich nicht gerade ungefährlich, da diese Personengruppe immer im Fokus der Polizei stand - nicht nur zu Kriegszeiten.
Es zeigte sich, dass meine Vorsicht durchaus berechtigt war. Bald erschienen zwei Polizisten. Einer stellte sich vor die Tür, während der andere durch den Warteraum ging. Ich tat so, als ob ich den Fahrplan studierte und sah dabei, dass einer der beiden die Reisenden weckte und ihre Dokumente kontrollierte. Jetzt musste ich gut überlegt und vor allem schnell handeln. Innerlich extrem angespannt beobachtete ich den anderen Polizisten, der an der Tür stehen geblieben war. Als dieser sich etwas von dort entfernte, nutzte ich die Gelegenheit und war mit einem Sprung am Ausgang. Allerdings machte ich die Tür in meiner Aufregung viel zu laut auf. So schnell ich konnte, rannte ich auf den Bahnhofsplatz. Hinter mir hörte ich die Pfiffe und Schreie der Polizisten. Doch sie waren chancenlos. Die Dunkelheit, die überall herrschte, war mein Retter und ein perfekter Verbündeter.
Meine vorher durchgeführten Erkundigungen der Umgebung um den Bahnhof herum halfen mir, ein Versteck in einer Baracke zu finden. Dort saß ich nun in der Dunkelheit auf den Ziegeln und überlegte, ob es vielleicht die Kassiererin gewesen war, die diese verfluchten Polizisten informiert hatte. Nach ungefähr zwei Stunden wurde es Zeit, mein Versteck zu verlassen. Vorsichtig näherte ich mich wieder dem Bahnhof. In wenigen Minuten würde der Zug abfahren. Als ich ihn endlich hörte, atmete ich innerlich auf. Den Bahnsteig erreichte ich durch den Seiteneingang, den ich ebenfalls vorher ausgekundschaftet hatte. Im letzten Moment sprang ich in einen der Waggons. Im Abteil saßen einige Personen, die überwiegend vor sich hinschlummerten. Geschafft! Der Zug fuhr an und voller Erleichterung dachte ich: ‚Na dann … Tschüss Jungs! Auf Wiedersehen Zwenzow!‘
Als der Zug den Oranienburger Bahnhof gegen Morgen erreichte, begann ein schöner und sonniger Tag. Hier musste ich nun einen neuen Fahrschein für den nächsten Abschnitt des Weges kaufen. Da ich viel Zeit hatte, ging ich vorher auf den Straßen am Bahnhof etwas spazieren. Ohne jede Störung kam ich nach einiger Zeit zurück und wusch mich auf der Bahnhofstoilette. Zufrieden, dass ich die erste Etappe meiner Flucht von Neustrelitz nach Oranienburg so gut absolviert hatte, setzte ich mich auf eine Bank und aß mein Frühstück. Es bestand aus einem Stück Brot und Wasser, welches ich direkt aus dem Hahn trank. Dann begann ich mit der Bestimmung meiner nächsten Fluchtrichtung. Hilfreich dafür war die ausgehängte Bahnkarte. Da ich unbedingt Berlin sehen wollte, plante ich den zweiten Abschnitt von Oranienburg nach Baruth. Nach dieser Entscheidung kaufte ich für die o. g. Strecke einen Fahrschein. Außerdem schickte ich Adam eine Postkarte, die ich gleich nebenan am Kiosk entdeckte. Auf diese Art und Weise wollte ich ihn über meine Flucht informieren.
Der Personenzug kam pünktlich. Ich nahm einen Platz im letzten Waggon ein, weil es von dort aus wesentlich einfacher sein würde, bei einer eventuell auftretenden plötzlichen Gefahr schnell „verschwinden“ zu können. Keiner der im Abteil sitzenden Personen nahm mich richtig wahr. Je weiter sich der Zug Berlin näherte, umso voller wurde das Abteil. Überrascht stellte ich fest, dass die Mehrheit der Gespräche in Polnisch oder Russisch geführt wurden. Noch interessanter fand ich jedoch, dass mich diese Gespräche an die Zeit meiner Fahrten in der Nähe von Warschau erinnerten. Es ging in den Unterhaltungen fast ausschließlich um Handelsfragen und die Gefahr seitens der Polizei. In Berlin-Wedding stieg ich dank des Hinweises eines mitreisenden Polen in die S-Bahn um, die in Richtung Güterbahnhof fuhr. Interessiert stand ich an der Tür und las während der Fahrt die Haltestellennamen, die auf den Wänden der Tunnel zu sehen waren. Plötzlich bemerkte ich überrascht das Schild „Unter den Linden“. Diesen Namen kannte ich noch genau aus den Erzählungen meines Vaters. ‚Aber nein! Ich konnte unmöglich weiterfahren. Es wäre ja eine Todsünde, nicht den Ort anzusehen, wo mein Vater seit seiner Entlassung aus der deutschen Armee im Jahre 1918 lebte und im Berliner Reichspostamt gearbeitet hatte.‘ Schnell sprang ich daher auf den Bahnsteig und ging über die Treppe auf die breite Allee mit den schönen grünen Linden. Hinter den Bäumen entdeckte ich die versteckt liegenden großen Gebäude der Herrscher des III. Reiches. Von weitem war ein großes Tor mit der Quadriga und einer Figur zu sehen – das Brandenburger Tor. Entlang der Allee sah ich viele uniformierte Personen und schlagartig wurde mir wieder bewusst, dass ich mich auf keiner touristischen Reise, sondern auf einer gefährlichen Flucht befand. Ich durfte auf keinen Fall unüberlegt oder zu emotional handeln. Schnellstens begab ich mich zurück zum S-Bahnhof und stieg in den ersten ankommenden Zug Richtung Güterbahnhof. Dort blieben mir etwa 20 Minuten bis zur Abfahrt des Anschlusszuges nach Baruth. Zeit genug, um einen kleinen Spaziergang in Bahnhofsnähe zu unternehmen. Doch unerwartet und zeitiger als angekündigt hörte ich den Zug in den Bahnhof einfahren. Um schneller zu sein, nahm ich eine Abkürzung und sprang über einen Schlagbaum. Der Zug hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und hinter mir hörte ich die lauten Rufe des diensthabenden Eisenbahners, der ununterbrochen „Halt, Halt!“ brüllte. Ich mobilisierte meine letzten Kräfte. Ohne mich umzudrehen, sprang ich auf die Stufen des letzten Waggons. Während ich mich mit einer Hand festhielt, zeigte ich dem wütenden Eisenbahner mit der anderen Hand eine lange Nase. Geschafft! Beim Gang durch die Waggons wählte ich ein Abteil mit einem Gefreiten und einem älteren Herrn in Zivil. Nachdem ich die beiden Reisenden kurz begrüßt hatte, setzte ich mich bequem in Fahrtrichtung ans Fenster. Kurze Zeit später kam die Schaffnerin mit einem Polizisten herein. Sie informierte den älteren Mann, dass dieses Abteil nur für Kriegsversehrte wäre und dass er den Waggon beim nächsten Halt verlassen müsse. Parallel dazu kontrollierte der Polizist die Dokumente des Gefreiten. Er war damit noch nicht fertig, als die Schaffnerin mich anschrie, das Abteil zu verlassen. Selbstverständlich befolgte ich diesen „Vorschlag“ von ihr sofort und begab mich in ein anderes Abteil. Den überraschten Passagieren dort erklärte ich, dass ich gerade noch im letzten Moment den Zug erreicht und dabei das Schild „Nur für Kriegsversehrte“ übersehen hatte. Sie brauchten nicht zu wissen, dass ich das Abteil wechseln wollte, bevor der Polizist mich sah, meinen Ausweis prüfen würde, man mich deswegen festhalten und mir ein Strafmandat geben würde. Ohne mich zu unterbrechen oder Kommentare einzuwerfen, hörte man sich meine Erklärungen bis zum Ende an. Beim nachfolgenden Dialog war ich wie immer sehr vorsichtig mit meinen Antworten:
„Du bist bestimmt aus Preußen?“
„Aber nein.“
„Nein?“
Schon wieder so hartnäckig befragt brummte ich, dass ich aus Mecklenburg käme.
„Sie sprechen aber auch komisch, vielleicht noch schlechter als Sachsen.“
„Warum bist du nicht Soldat?“
Ich hatte diese Frage erwartet und zeigte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die linke Brustseite.
„So jung und schon Herzprobleme.“
„Was dieser Krieg nicht tut!“
Das Gespräch dauerte an und bald hielt der Zug am Zielort in Baruth. Ich verabschiedete mich von den Passagieren und ging direkt zur Kasse, um einen Fahrschein für den nächsten Abschnitt meiner Reise bis Elsterwerda zu kaufen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als fast eine Stunde auf diesem einsamen Bahnhof den nächsten Zug zu erwarten. Also nutzte ich die Zeit dazu, eine weitere Postkarte an Adam zu schreiben. Die Fahrt nach Elsterwerda erfolgte ohne Probleme. Als ich aus dem Zug ausstieg, fing bereits die Dämmerung an. Durch den Nebenausgang gelangte ich zum Bahnhofsplatz. Beim Ankommen sah ich dort ein junges Mädchen stehen. Wie alle Polen war sie deutlich an dem auf Leinen und gelben Hintergrund gedrucktem violettem „P“ mit gleichfarbigem Rand zu erkennen. Lt. Polenerlass vom März 1940 musste dieses „Abzeichen“ von jedem Polen getragen werden. „Alles hat zum Glück zwei Seiten“ murmelte ich vor mich hin. Wenn die Deutschen nicht befohlen hätten, die Ausländer zu kennzeichnen, hätte ich jetzt Schwierigkeiten, in Kontakt mit meinen Landsleuten zu kommen. Schnell ging ich auf das Mädchen zu und stellte mich vor. Ich erzählte ihr meine Geschichte und fragte sie, ob sie wüsste, wo ich übernachten könnte. Ela, so hieß sie, konnte mir leider keine Unterkunft nennen. Aber sie wohnte in der Nähe des Bahnhofs und sagte mir, dass ihre Eltern vielleicht Rat wüssten. Ca. 100 Meter vom Bahnhof entfernt stand ein Zweifamilienhaus aus rotem Backstein. Ela geleitete mich über eine Treppe durch den Eingang, weiter über den Hof und bis zu einer Tür, die zum Dachboden führte. Sie bat mich, vor der Tür zu warten. Kurz darauf kam ein älterer Mann zurück, der mich hereinbat. Ich sah mich um. Der Dachboden war geteilt. Gleich hinter der Bretterwand befand sich ein möbliertes Zimmer. Am Tisch saßen eine Frau, ein Junge und auch Ela. Der Mann stellte mich seiner Ehefrau und seinen Kindern vor und lud mich ein, bei ihnen Platz zu nehmen. Bald kam ein sehr herzliches Gespräch in Gang. Vor allem ging es um meine Herkunft, die Flucht, wie lange ich schon unterwegs war und ob mich jemand gesehen haben könnte, als ich mit Ela das Haus betrat. Schon nach kurzer Zeit bat der Gastgeber seine Frau, das Essen zu servieren. Während des Abendessens erzählte mir Elas Vater, wie seine Familie aus Pommern zur Zwangsarbeit ausgesiedelt wurde. Sie arbeiteten in Elsterwerda im Gartenbau. Das Gespräch war so interessant, dass wir gar nicht bemerkten, wie die Zeit verging. Wir hätten noch ewig so erzählen können. Doch Elas Vater mahnte zur Nachtruhe und bot mir eine Übernachtung an, die ich natürlich dankend annahm. Wir wurden uns einig, dass Ela für mich früh einen Fahrschein nach Lugau kaufen würde. Außerdem sollte sie nachsehen, dass in der Nähe kein Polizist oder irgend so ein „Dicker“ sein würde, wenn ich aus dem Haus ging. Während wir noch sprachen, bereitete mir Elas Mutter eine wunderbare Schlafgelegenheit in der Kammer vor, die hinter dem Zimmer lag. Mein Gott, wie gut es tat, so zu schlafen. Ich war unendlich dankbar für diese Erholungsphase. Da ich eine Menge Schlaf nachzuholen hatte, bekam man früh große Schwierigkeiten, mich zu wecken. Doch irgendwann hörte ich das leise Rufen: „Aufstehen! Aufstehen! Das Frühstück ist fertig.“ Schnell sprang ich aus dem warmen Bett, wusch mich in einer Schüssel und setzte mich an den Tisch, der für damalige Verhältnisse sehr reich gedeckt war. Ela war schon angezogen und wartete auf mich. Erneut dankbar, meinen Hunger stillen zu dürfen, aß ich schnell zwei Scheiben Brot mit Margarine und Wurst und trank den herrlich duftenden Malzkaffee mit Milch, der neben meinem Teller stand. Während ich noch frühstückte, ging Ela zum Bahnhof, um die Fahrkarte nach Lugau (über Riesa) zu kaufen. Was war es doch für ein Glück, dass ich sie getroffen hatte! Als es Zeit wurde, verabschiedete ich mich von meinen Gastgebern und bedankte mich für die Übernachtung sowie den herzlichen Aufenthalt bei ihnen. Elas Mutter überreichte mir sogar noch ein Päckchen mit einem großen Stück Brot. Es war für mich unwahrscheinlich überwältigend, wie nett diese fremden Menschen zu mir waren.
Am Bahnhof angekommen, sah ich Ela, die schon auf mich wartete. Die Zeit reichte noch für den Kauf und das Schreiben einer Postkarte an Adam, damit er wusste, wo ich mich gerade befand. Ela übernahm es später, sie in einen Briefkasten zu werfen. Ein tolles Mädchen! Kurz bevor der Zug einfuhr, mussten auch wir uns nun voneinander verabschieden. Ela lief noch ein paar Schritte neben dem losfahrenden Zug mit. Ich sah sie noch lange am Bahnsteig stehen.
Meine Weiterfahrt nach Riesa erfolgte ohne Schwierigkeiten. Der Zug rollte langsam auf dem letzten Bahngleis ein. Während des Aussteigens sah ich, dass sich alle Passagiere vor dem Verlassen des Bahnsteiges bei den dort stehenden Gendarmen ausweisen mussten. Man konnte sie anhand der großen Metallabzeichen erkennen, auf denen gut sichtbar mit erhabenen Buchstaben das Wort „Feldgendarmerie“ zu lesen war. Oh Gott! Mir standen die Haare zu Berge. Aufgeregt schaute ich mich auf dem Bahnsteig um, wie ich möglichst ungesehen verschwinden könnte. Ich musste mich beeilen, denn man begann bereits, den Zug zu durchsuchen. Während ich noch überlegte, ob ich mich vielleicht unter dem Zug an den Achsen festhalten könnte, spürte ich eine Hand auf meinem Arm. Ich erstarrte innerlich, als ich den Kopf drehte und die feldgraue Uniform sah. Mir wurde sofort klar, dass nun alles aus und vorbei war mit der Weiterfahrt zu meinem Bruder. Gleich würde man mich verhaften. Doch stattdessen hörte ich nur die ruhige Frage: „Kannst du mir helfen?“ Ein wenig verdutzt und mit dem Versuch, mir nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert ich war, antwortete ich: „Klar!“ Egal, was es gewesen wäre, ich war zu jeder Hilfe bereit. Der Weg zurück zum Zug endete in einem Abteil der ersten Klasse. Beim Öffnen der Tür sah ich eine große Holzkiste. Beide ergriffen wir je eine Seite und gemeinsam ging es erneut Richtung Ausgang. Dort fragte der Offizier die Gendarmen etwas, was ich nicht verstand, worauf die Antwort laut und deutlich zu hören war: „Jawohl, Herr Major!“ Weiter ging es bis hinter den Bahnhof. Erst dort stoppten wir und stellten die Kiste ab. Der Offizier fragte mich, ob ich nicht hungrig wäre. Als ich die Frage bejahte, öffnete er die Kiste und holte vier große Äpfel heraus, die er mir alle gab. Außerdem schenkte er mir noch ein paar Zigaretten. Ganz plötzlich fiel jedoch die gefürchtete Frage, woher ich käme. Nach kurzem Zögern entschloss ich mich, ihm die Wahrheit zu sagen, da ich davon ausging, dass er es längst wusste. Ich hatte richtig vermutet. Ohne viele Worte empfahl er mir, mich für ein paar Stunden vom Bahnhof fernzuhalten, denn dort fand gerade eine gemeinsame Aktion von Polizei und Gendarmerie gegen Deserteure und Flüchtlinge statt. Die furchtbare Anspannung, die ich in diesen Sekunden so überdeutlich in mir gespürt hatte, fiel wieder ab. Erleichtert bedankte ich mich bei dem Offizier und verließ, so schnell es ging, die gefährliche Gegend. Fünf Stunden später war die Aktion beendet und ich konnte zum Bahnhof zurückkehren. Wie innerlich befreit stieg ich in den ersten ankommenden Zug, der mich nun in Richtung Chemnitz brachte. Durch das Zugfenster bewunderte ich zum ersten Mal in meinem Leben – jedenfalls erschien es mir damals so - die wunderschöne und bergige Gegend um Riesa. Ich sah auf meiner Fahrt Döbeln, Waldheim, Mittweida und Chemnitz. Am späten Abend endete meine Reise in Oberlungwitz. Es war stockdunkel, als ich den dortigen leeren Bahnhof verließ. Langsam ging ich bergauf durch eine enge Straße, immer Ausschau haltend nach einem sicheren Übernachtungsplatz. Wenig später sah ich auf der linken Seite eine längliche Nische, in der sich ein ebenfalls langer und schmaler Trog befand. Müde, wie ich war, dachte ich, dass dies ein sehr guter Schlafplatz wäre. Noch während ich mich mit der in Riesa gekauften Parteizeitung „Völkischer Beobachter“ zudeckte, begann es, stärker zu regnen. Im Nu war die Zeitung durchgeweicht. Verärgert erhob ich mich aus meinem „Bett“. Zu allem Überfluss stieß ich mich dabei noch am Kopf, der nun schrecklich schmerzte. Beim Abtasten der Nische stellte ich fest, dass sich in ihrem oberen Teil Wasserhähne befanden. Ich vermutete, dass die Sachsen diese Stelle zum Wäschewaschen nutzten.
Vorsichtig massierte ich die Beule an meiner Stirn. Auch sonst tat mir jeder einzelne Knochen weh. Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als meine Kräfte wieder zu sammeln und mich auf die Straße zu begeben, die aus der Stadt herausführte. In der Dunkelheit erkannte ich wenig später einen hellen Lichtstreifen in einem der Fenster. Es war schwierig, mehr zu erkennen und ich fragte mich, ob es sich um ein Wirtschaftsgebäude handeln würde. Vorsorglich warf ich einige kleine Steine über den Zaun, um sicher zu gehen, nicht unfreiwillig Bekanntschaft mit einem Wachhund zu schließen. Zum Glück war alles still und so näherte ich mich ganz leise dem Schuppen. An der Seite fand ich eine Pforte. Schnell öffnete ich diese, um endlich dem Regen zu entkommen. Ich war nass bis auf die Haut. Vorsichtig betrat ich den Lehmboden und fühlte unter den Füßen etwas, was sich wie gehäckseltes Stroh anfühlte. Sehr gut! Voller Freude zog ich meine nasse Jacke und die Schuhe aus und versteckte mich. Erst der Sonnenaufgang weckte mich aus meinem tiefen Schlaf. Schnell stand ich auf, öffnete den Eingang und erschrak. Mein Anzug war bedeckt mit Gerstenstreu. Schimpfend begann ich, meine Sachen zu reinigen. Was für eine Dummheit, die mir da vor Müdigkeit passiert war. Gotttlob war wenigstens die Jacke in einem guten Zustand. Die nächste Herausforderung war, mir ohne Spiegel die Haare zu kämmen. Erschwerend kam hinzu, dass ich mich mit der Rückkehr zum Bahnhof beeilen musste. Die Zeit drängte! Mein Zug nach Lugau, dem Ziel meiner Reise, fuhr bereits wenige Minuten nach 8: 00 Uhr. So leise, wie ich konnte, verließ ich den Schuppen und begab mich auf die Straße. Vom gestrigen Regen war nichts mehr zu erkennen. Ich wunderte mich, denn trotz des sonnigen Wetters war es sehr leer auf den Straßen. Auch am Bahnhof warteten nur wenige Reisende, die aber zum Glück trotz meines Aussehens kein Interesse an mir zeigten. Im Zug suchte ich vorsichtshalber sofort die Toilette auf, in der ich solange blieb, bis der Zug in Lugau hielt.